Schweitzer Fachinformationen
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Die Frau, die wenig mehr als ihren Namen kannte, umklammerte ihren Rucksack so fest, als sei er ihr einziger Freund.
Sie schaute sich in dem Krankenzimmer um, das in den vergangenen drei Monaten ihr Zuhause gewesen war. Wenn man es genau nahm, war es ihr einziges Zuhause.
Mittlerweile hatte sie sich fertig angezogen und war abmarschbereit. Eigentlich hätte sie jetzt gehen können, aber da sie nicht wusste, wohin, hatte das wenig Zweck. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten.
Wieder drehte sie den kleinen Rucksack auf links, der ihr gehörte, weil ihr Name darauf stand.
Da sie das schon ein Dutzend Mal getan hatte, war nicht zu erwarten, dass neue Erkenntnisse dabei herauskamen. Quittungen von Restaurants, an die sie sich nicht erinnerte. Ein Notizbuch mit Telefonnummern und Namen, die ihr fremd waren. Ein winziges schnurloses Telefon. Ein Portemonnaie mit Geldscheinen einer eigenartigen Währung. Euro. Warum hatte sie kein deutsches Geld in der Tasche?
Mit zitternden Fingern strich sie das verknitterte Foto glatt, das in einem der Seitenfächer gesteckt hatte, sodass das Gesicht des Mannes wieder klar zu erkennen war. Dann drehte sie es um. Auf der weißen Rückseite hatte jemand mit Kugelschreiber einen Ortsnamen und ein Datum notiert.
Bizarre Versatzstücke einer Kirche mit hohem Turm tauchten in ihr auf, wie aus einem Hitchcock-Film. Sie schob sie weg. Ihre Angst war groß, dass die Bilder ins Dunkel zurückwichen, wenn sie
SPÄTER
jetzt nach der Erinnerung griff.
Sie zerrte ihren Personalausweis aus dem Portemonnaie und starrte darauf, bis ihre Augen brannten. Der Name war richtig, der da stand.
Dann ging sie ins Bad und hielt das Ausweisfoto neben ihr Spiegelbild.
Die Bilder stimmten überein. Trotzdem versetzte ihr das, was sie im Spiegel sah, einen Schock. Das Gesicht gehörte ihr nicht. Sie war doch viel
JUNG
jünger.
Sie checkte das Geburtsdatum auf dem Ausweis: 23. August 1973. Es war ihr Geburtsdatum, das ließ sich nicht leugnen.
Lissie biss sich auf die Lippen, bis sie rot waren und voller wirkten. Sie zog an ihrem Haar, bis es die wulstige Narbe verdeckte, die sich wie ein Regenwurm über ihre rechte Kopfseite schob. Dann stach sie mit dem Fingernagel in die schlaffe Falte am Hals, zerrte an ihrer Kinnpartie, bis es schmerzte. Irgendwo unter dieser fremden Haut verbarg sich ihr wahres Gesicht, aber sie kam einfach nicht darauf, wie sie die Maske abstreifen konnte.
Es klopfte, und Professor Walter, Leiter der Neurologie im Meraner Krankenhaus, kam herein. Wie immer trug er einen grauen Anzug ohne Arztkittel. Er war im Grunde ganz okay, bis auf seine Angewohnheit, permanent gute Laune zu verbreiten.
»Ah, schon reisefertig! Wie fühlen Sie sich heute?«
Lissie verzog das Gesicht. »Das wissen Sie doch.«
Er lächelte, und Lissie schoss einen zornigen Blick auf ihn ab. Er tat wie üblich, als würde er nichts bemerken. »Seien Sie nicht so negativ«, sagte er. »Sie wurden in den Kopf geschossen und haben es überlebt.«
Wieder die alte Leier. Langsam wurde sie wütend. »Und das soll mich jetzt trösten? Ich möchte endlich wissen, wie es passiert ist! Herrgott noch mal, ich habe ein Recht darauf.«
Professor Walter lehnte sich zurück und faltete die Hände über dem grau gekleideten Bauch. »Das kann ich sehr gut nachvollziehen.« Wenn er mit der Verständnistour kam, war sie jedes Mal versucht zu schreien.
»Ich finde, wir sollten etwas warten«, sagte Walter. »Sie sind noch nicht in der Verfassung, sich diesen Dingen zu stellen. Vielleicht kehrt die Erinnerung von selbst zurück. Das wäre das Beste. Geduld, Geduld.«
Lissie starrte ihn böse an. Er lächelte fein, wie ein Buddha aus grauem Stein, hart und unverrückbar.
Es war sinnlos. Sie tippte auf ihren Personalausweis. »Ich weiß nur deshalb, wo ich wohne, weil das hier steht. Wo ist das?«
Der Arzt räusperte sich. »Das ist ein kleines Dorf in Deutschland. Genauer gesagt, im Hochtaunus. Hessische Mittelgebirgsregion. Nach unseren Recherchen leben Sie dort seit über zehn Jahren. In einem Haus auf dem Land, ganz allein. Die Nachbarn wissen kaum etwas. Nur, dass Sie eine Art Beraterin sind, vermutlich selbstständig. Sie hatten wohl nicht viel Kontakt.«
Die meisten hätten diese Worte in Mitleid gebettet, egal ob echt oder bloß geheuchelt. Nicht so Professor Walter, und Lissie war plötzlich unendlich dankbar für seine leutselige Distanz.
Haus auf dem Land? Kein Bild, kein Ton.
Das einzige Haus, an das sich Lissie klar und deutlich erinnerte, inklusive des intensiven Fliedergeruchs im Frühling, war die alte Villa, in der sie ihre Kindheit verbracht hatte.
»Was ist mit meinen Eltern? Warum sind sie nicht hier?«
Professor Walter schaute sie an. Lissie wurde klar, dass er mit der Frage gerechnet hatte, und wappnete sich. »Ihre Mutter lebt in einem Heim. Alzheimer im Endstadium«, sagte er.
Lissie empfand nichts, deshalb nickte sie einfach. Ihre Hand fuhr zu ihrem Rucksack und zu dem Seitenfach, in dem das Foto steckte. »Was ist mit meinem Vater?«
Der Arzt nahm ihre Hand. Eine dieser Gesten, die sie nicht mochte. »Wir haben natürlich versucht, ihn ausfindig zu machen. Aber niemand weiß, wo er sich aufhält«, sagte er tonlos. Das Joviale war auf einmal wie weggeblasen. »Ihr Vater ist im Sommer 1990 verschwunden. Hier, in Meran. Seitdem fehlt jede Spur von ihm. Merkwürdig, finden Sie nicht?«
Das Bett, auf dem sie saß, schien zu schrumpfen, wurde zu ihrem alten Kinderbett. Irgendwo, sehr weit entfernt, hörte sie eine Stimme, die sie kannte. Als sie den Kopf hob, war es bloß Professor Walter, der sich in einen banalen medizinischen Vortrag flüchtete.
». ist immer noch eines der größten medizinischen Mysterien. Es kann sein, dass Ihr Gedächtnis vollkommen wiederhergestellt wird.« Er zögerte. »Genauso gut kann es passieren, dass Sie sich nie wieder erinnern. Die nächsten Wochen sind entscheidend. Wir müssen einfach abwarten.«
Sie biss die Zähne zusammen, als Stauwehr gegen die Tränen. Der Professor beäugte sie, als sei sie eine seltene Insektenspezies.
»Interessant ist in Ihrem Fall, dass Ihre Gedächtnislücke so weit zurückreicht. Womöglich hat das Trauma mit Ihrem Vater zu tun .« Er ließ ihre Hand los. »Ich würde Ihnen raten, einen Psychotherapeuten aufzusuchen.«
Lissie wollte gerade den Mund zu einem wütenden Kommentar öffnen, da ging die Tür auf, und ein Mann in einem schwarzen Anzug kam herein. Lissie hatte ihn im Halbschlaf ein paarmal vage wahrgenommen, als er sich über ihr Bett beugte.
»Ah, Commissario«, sagte Professor Walter und zu Lissie gewandt: »Das ist Commissario Pavarotti, ein guter Freund von Ihnen.«
Lissie musterte den Mann genau. Ein italienisches Gesicht. Die dunklen Augen ernst, fast schwermütig. Das Gesicht hager, Sorgenfalten quer über der Stirn, die Nase gut geschnitten. Ein fast klassisch zu bezeichnendes Profil. Ihr Blick wanderte über seinen Körper, der um die Taille ein wenig zur Fülle neigte, aber nicht korpulent war. Der Anzug schlotterte um seine Figur. So, wie es aussah, wurde die Hose nur von einem Gürtel davon abgehalten, ihm in die Kniekehlen zu rutschen.
Guter Freund? Bis vor ein paar Wochen hatte sie den Mann noch nie gesehen.
»Hallo«, sagte sie widerstrebend.
Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Hallo.« Dann wandte er sich an Professor Walter, als sei Lissie gar nicht vorhanden.
»Ich bin hier, um sie abzuholen. Es kommt nicht in Frage, dass sie nach Deutschland zurückfährt. Da gibt es niemanden, der ihr helfen kann.« Der Fremde bückte sich nach Lissies Rucksack. »Ich kümmere mich um alles, machen Sie sich keine Sorgen, Professore. Fürs Erste kann sie bei mir wohnen, bis sie sich etwas . orientiert hat.«
»Ich will aber nicht bei Ihnen wohnen«, sagte Lissie, den Trotz einer Siebzehnjährigen in der Stimme.
Beide Männer wandten den Kopf um und starrten sie an. Professor Walter war der Erste, der sich fasste. »Ja, wo denn dann?«
»In Katharinaberg. Ich will nach Katharinaberg.«
Auf der Rückseite des ramponierten Fotos, das sie in ihrem Portemonnaie gefunden hatte, stand in einer schwungvollen Handschrift:
Katharinaberg, 1. Juli 1990 - der Berg ruft!
Ort und Zeit ihrer letzten Erinnerung.
***
Widerstrebend schob Dr. Ing. Sergio Tutto ein »Betreten verboten«-Schild zur Seite, das ihm im Weg stand. Das Knirschen, das der Metallfuß des Schildes auf dem asphaltierten Untergrund verursachte, ging ihm durch Mark und Bein. Zornig kickte er mit dem Fuß dagegen.
Nachdem er sich unter dem Absperrband durchgezwängt hatte, das die Baustelle markierte, blieb er stehen, entschlossen, sich nicht länger zum Narren machen zu lassen. Er packte den neuen Vorarbeiter am Arm, der tags darauf seinen Posten los sein würde, so viel stand fest. Er hatte gleich gewusst, dass der Kerl ihm nur Scherereien bereiten würde.
»Bleiben Sie endlich stehen. Ich will eine Erklärung, warum Sie den Abriss gestoppt haben. Und zwar jetzt auf der Stelle.«
Der Mann verschränkte die Arme. »Die Archäologen hätten uns gekreuzigt, wenn wir weitergemacht hätten.« Seine Augen blitzten.
Tutto unterdrückte einen zornigen Aufschrei. Frustration stieg in ihm auf. Ausgrabungen - der Alptraum eines jeden Projektentwicklers. Nachdem er dieser Katastrophe während seiner gesamten bisherigen Laufbahn entgangen war, sollte sie ihn nun doch noch auf den letzten Metern ereilen, bei einem seiner letzten...
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