Schweitzer Fachinformationen
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Meran - Freitag, 13. Juli, zur selben Zeit
Als Pavarotti den Steinernen Steg überquerte, stellte er fest, dass der Fluss nur noch wenig Wasser führte. Der Promenadenweg auf der anderen Uferseite lag ausgestorben in der prallen Sonne.
Pavarotti wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er hatte das Gefühl, auf heißem Gummi zu laufen statt auf den Sandsteinplatten, aus denen das Brückenpflaster bestand. Auf der Brücke regte sich kein Lüftchen.
Als er die andere Uferseite erreichte, prallte er zurück. Wie eine unbezwingbare Wand stand die Hitze auf der Winterpromenade vor ihm. Schwer atmend blickte er hoch und blinzelte gegen die grelle Sonne. Hier musste es sein.
Er kannte das Haus, das direkt vor ihm aufragte. Jeder, der den Steinernen Steg passierte, egal ob hinauf zum Tappeiner Weg oder in umgekehrter Richtung zum Elisabethpark und nach Obermais, musste daran vorbei. Pavarotti hatte nie einen Gedanken daran verschwendet, was sich wohl hinter den Mauern der etwas heruntergekommenen Villa abspielte. Auf eine Irrenanstalt wäre er im Leben nicht gekommen.
Pavarotti grinste. Diese Bezeichnung musste er sich drinnen natürlich verkneifen. Privatklinik für psychische Störungen, so nannte sich das heute.
Die Villa sah unbewohnt aus. Die Fensterläden waren geschlossen. Ihr Holz musste einmal in einem satten Grün geglänzt haben. Inzwischen war die Farbe an vielen Stellen abgeblättert. Über der ockerfarbenen Fassade lag der scharf konturierte Schatten eines vorspringenden Giebeldachs. Zur Linken ragte ein schlanker Turm mit spitzem Dach auf, der dem Gebäude eine eigenartige Disharmonie verlieh. Aus Pavarottis Perspektive sah es so aus, als neige sich der Turm einer Gruppe von Zypressen zu, die seine Fassade schwarz und elegant begleiteten.
Links neben dem Gebäude sah er eine schmiedeeiserne Gartenpforte, die vor Rost starrte, daneben eine einfache Klingel. Auf dem Klingelschild stand »Empfang - Apotheke«, sonst nichts. Pavarotti drückte den Knopf, dann drehte er probehalber am Türknauf.
Geräuschlos schwang die Tür auf.
Offenbar konnte sich hier jeder Zutritt verschaffen.
Pavarotti trat in den Schatten einer Zypresse, um durchzuatmen.
Wo steckte eigentlich Emmenegger?
Von der Hitze auf der Winterpromenade war hier nichts mehr zu spüren. Ein Windhauch strich über Pavarottis feuchte Unterarme, und er bekam Gänsehaut. Plötzlich glaubte er, Stimmen zu vernehmen. Er spitzte die Ohren. Eine Stimme war jetzt deutlich herauszuhören. Sie gehörte der hiesigen Gerichtsmedizinerin. Pavarotti hob die Augen zum Himmel und wappnete sich. Eine schreckliche Frau. Bedauerlicherweise war sie seine Schwester.
Bevor er sich auf den Weg nach hinten machen konnte, öffnete sich zur Rechten eine Tür, und ein Mann trat ihm in den Weg.
»Sind Sie der Ermittlungsleiter?«
Pavarotti nickte. »Ja, ich bin Commissario Pavarotti. Und Sie sind .?«
»Anselm Matern, ich bin .«, der Mann machte eine kurze Pause und fuhr sich mit der Hand über seinen fast kahlen braun gebrannten Schädel, ». der Chefarzt.«
Matern sah schlank und durchtrainiert aus und trug ein weißes Poloshirt über dunkelblauen Chinos. Die Oberarmmuskeln wölbten sich unter den knapp sitzenden Ärmeln.
Pavarotti war baff. Wo war der weiße Kittel?
»Sie sind Arzt?«
Matern nickte und lächelte. Er hatte ein freundliches Gesicht mit Grübchen in den Wangen. Sein vorspringendes energisches Kinn wollte dazu nicht recht passen.
»Psychiater und Psychotherapeut. Außerdem leite ich diese Klinik. Der Tote war mein Patient. Ich bin fassungslos. Ein Mord . hier bei uns . undenkbar!«
»Offenbar nicht«, sagte Pavarotti trocken. »Wer ist der Tote?«
»Seine Name ist . war . Michael Cabruni. Er war erst seit ein paar Wochen bei uns.«
Pavarotti beschloss, es zunächst dabei bewenden zu lassen. Erst einmal wollte er sich einen Eindruck verschaffen. »Können Sie mich hinführen?«
»Einfach geradeaus, Commissario. Nach Ihnen.«
* * *
Der moosüberwucherte Weg führte in einen weitläufigen Garten. Materns Schritte hinter ihm waren nicht zu hören. Mehrfach war Pavarotti versucht, sich umzuschauen, aber er unterdrückte den Impuls.
Im Garten war es schattig, fast düster. Ein stattlicher Bestand alter Olivenbäume mit wuchtigen Kronen säumte den Weg. Durchs Gehölz drangen nur wenige Lichtfunken, die sich im Blattwerk von Wacholderbüschen und hell schimmernden Schneeballsträuchern fingen.
Er passierte mehrere Bänke, auf denen niemand saß. Das Gelände machte einen ausgestorbenen Eindruck.
Die erregten Stimmen, die Pavarotti vorhin am Eingang gehört hatte, waren verstummt. Vielleicht war seiner Schwester Editha und Kohlgruber, dem Leiter der Spurensicherung, das verbale Gift ausgegangen. Pavarotti stellte sich die beiden vor, wie sie am Tatort nebeneinander arbeiteten und feindselig schwiegen, um sich ihre Bosheiten aufzusparen. Editha mochte den Spusi-Chef nicht, aber ihren Bruder hasste sie.
Plötzlich öffnete sich der Weg zu einer kleinen kreisförmigen Lichtung, auf der ein schindelgedeckter Holzpavillon stand.
Pavarotti blieb stehen. Ohne Vorwarnung herrschte wieder eine solche Hitze, als habe jemand über ihnen einen Heizstrahler angeknipst.
»Commissario, endlich!«
Pavarotti hatte unvorsichtigerweise nach oben in die Sonne geschaut und blinzelte, um die schwarzen Punkte auf seiner Netzhaut zu verscheuchen. Über ihm ragten die Einsneunzig seines Sergente auf.
Machte die Sonne seinen Augen immer noch zu schaffen, oder war Emmenegger blass um die Nase?
Arnold Kohlgruber, bekleidet mit dem grünen Tatortdress aus Nylon, trat aus der Türöffnung des Pavillons. Sein Gesicht war rot angelaufen. Stöhnend zog er sich die Gummihandschuhe von den Händen.
Als er Pavarotti sah, stemmte er die Hände in die Hüften. »Na prima, auch schon da! Schon klar, dass du als Italiener deinen Schönheitsschlaf brauchst! Andere rutschen schon seit Stunden in der Hitze auf dem Boden herum und schwitzen wie die Sau!«
Kohlgruber erwartete keine Antwort, das wusste Pavarotti. Sie waren halbwegs befreundet. Über einen bestimmten Punkt ging ihr Verhältnis allerdings nicht hinaus. Das lag daran, dass Kohlgruber als eingefleischter Südtiroler Italiener nicht mochte. Für Kohlgruber war das Zusammenleben mit Italienern immer noch strapaziös, auch wenn er gegenüber dem Commissario einmal widerwillig zugegeben hatte, dass sich im Laufe der letzten Jahre so einiges verbessert hatte.
Pavarotti ahnte, dass es zu Kohlgrubers seelischer Hygiene gehörte, einem Italiener in regelmäßigen Abständen einen verbalen Tritt in den Hintern zu verpassen, sozusagen stellvertretend für alle anderen, unter anderem seinen Behördenleiter, ebenfalls Italiener. Für Pavarotti ging das in Ordnung, wenn es sich in Grenzen hielt.
»Was habt ihr?«
»Eine Leiche halt«, brummte Kohlgruber.
Pavarotti verdrehte die Augen. »Geht's etwas genauer?«
Die Schärfe in Pavarottis Stimme bewirkte eine Veränderung in Kohlgrubers Miene.
»Mann Ende vierzig«, antwortete er sachlich.
Mein Alter, schoss es Pavarotti durch den Kopf. Klapsmühle. Tod. Vorbei. Ratzfatz.
»Sitzt im Rollstuhl, von hinten erstochen«, hörte er den Spusi-Chef fortfahren. »Ein einziger Messerstich, so wie es ausschaut. Sehr scharfe Klinge.« Kohlgruber hielt eine Beweismitteltüte hoch, die ein blutverschmiertes Messer enthielt, dem Anschein nach ein gewöhnliches Fleischmesser, wie es in den meisten Küchen zu finden war. »Die Klinge ist durchs Fleisch gegangen wie durch Butter«, ergänzte Kohlgruber. »Mehr hat mir deine Schwester nicht verraten.«
Pavarotti wandte sich an Anselm Matern, der vor dem blutigen Plastiksack zurückgewichen war. »Erkennen Sie das Messer? Schauen Sie sorgfältig hin!«
Der Mann warf dem Sack einen angeekelten Blick zu. »Unsere Küchenmesser sehen anders aus. Außerdem fehlt keines.«
»Haben Sie die Leiche gefunden?«
Der Klinikleiter schüttelte den Kopf. »Das war eine Patientin. Hanna Landsberg heißt sie. Sie hat sich hingelegt. Das Ganze hat sie ziemlich mitgenommen, wie Sie sich denken können.«
Pavarotti überlegte kurz. »Signore Matern, bitte gehen Sie jetzt ins Haus und bleiben in Rufweite. Ich will später ausführlich mit Ihnen sprechen. Das gilt auch für alle anderen.«
»Alle andern?«, echote Matern.
»Nun, das Klinikpersonal und die Patienten. Jeder, der sich im Moment auf dem Gelände aufhält. Als Erstes möchte ich nachher die Patientin befragen, die den Toten gefunden hat.«
Matern nickte bloß.
Nachdenklich blickte Pavarotti ihm nach, wie er in Richtung Turm davonging, der im Gegenlicht scharfzackig und dunkel in den blauen Himmel hineinragte.
Kohlgruber wartete, bis der Arzt verschwunden war, dann wandte er sich an den Commissario: »Da hast eine schöne Nuss zu knacken, das sag ich dir. Das ist wie ein öffentlicher Park hier. Sträflich so was. Die lassen hier einfach die Pforte unversperrt, obwohl sie einen Haufen Verrückte im Haus haben!«
Pavarotti sparte sich eine Antwort.
Gleich würde es losgehen. Ad-hoc-Analysen zum Tathergang direkt vor Ort, sozusagen während die Leiche noch warm war, waren Kohlgrubers Spezialität. Kohlgruber glaubte allen Ernstes, dass er eine Art sechsten Sinn für den Tathergang hatte. Einmal hatte er sich zu der Aussage hinreißen...
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