Schweitzer Fachinformationen
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Bis heute Morgen haben wir in unserer kleinen Zweizimmerwohnung gelebt. Links und rechts und unterhalb von uns wohnten eine Menge anderer Leute. Einige hielten Katzen, Hunde, Kanarienvögel, Schwiegereltern. Es gab in unserer Nachbarschaft siebzehn Schwiegereltern und zwölf Haustiere.
In diesem unserem Land wohnten wir überhaupt alle eng beieinander. Das stärkte unser sozialistisches Lebensgefühl. Bestimmt. Enger wäre es nur gegangen, wenn wir alle in der gleichen Wohnung gelebt hätten. So aber grenzte der Krach von Vater und Mutter an den Krach der Väter und Mütter meiner Freunde.
Von außen sahen unsere Wohnungen wie kleine beleuchtete Würfel aus, aufeinandergeschachtelt. In ihrem Inneren stritten Erwachsene über weiß ich was. Wenn man ihnen von der dunklen Straße aus zuschaute, hörte man nichts. Vater hingegen wusste es besser, denn er war nebenbei unser Hausverwalter und bekam einiges mit.
»Du möchtest wissen, worum es in anderen Familien geht, wenn sie Krach haben?«, fragte er mich einmal erstaunt. »So genau kann ich es dir nicht sagen. Die holen mich, wenn die Zeit reif ist für Beleidigungen. Dann muss ich mir einiges anhören. Bis ich sie auseinandergebracht habe, habe ich meistens neue Schimpfwörter gelernt. Hurendreck zum Beispiel. Keine Ahnung, was das ist, aber das sagt Negreanu zu seiner Frau, wenn er besoffen ist. Hure, das ist das Mindeste, das muss einfach sein, und er wiederholt es irgendwie genüsslich. Er läuft rot an. Danach wärmt sie ihm die Suppe auf. Dann ist da noch dieses zurückgezogene Akademikerpaar im sechsten Stock. Du weißt schon, welches. Das mit dem ungarischen Familiennamen. Er ist so dünn und dürr, sie trägt diese scheußlichen Hüte mit breitem Rand. Also, er nennt sie Krake. Verstehst du? Krake, mit Tentakeln und so weiter. Was er damit sagen möchte, weiß nur er alleine.«
»Und sie, Vater, wie nennt sie ihn?« Vater stockte kurz.
»Impotent.«
»Hm?«
»Das erkläre ich dir, wenn du ein Mann bist.«
Vater vergisst, dass ich ihn nicht mehr brauche, wenn ich ein Mann bin.
Vorgestern Abend nahm Mutter Abschied von ihrer besten Freundin. Sie erzählte bloß, dass wir für einen Monat in die Berge führen. Sie erzählte nichts davon, dass wir ohne Wohnung bleiben würden. Wie üblich kam sie am Schluss des Gesprächs auf meine Geburt zu sprechen.
»Und da hat der Junge losgeschrien. Hat auf sich aufmerksam gemacht, der Kleine. Und wie. Da merkte man schon, dass es ihm vorbestimmt war, Einzelkind zu bleiben«, sprach Mutter in den Hörer.
Ich lauschte weiter hinter der Tür.
»Nein, der aß Eis, stell dir vor. Draußen regnete es in Strömen. Eine Frau alleine im Krankenhaus, stell dir vor«, fuhr sie fort.
Die sich was vorzustellen hatte, hieß Doina. Sie saß am anderen Ende der Leitung. Manchmal musste auch Mutter sich was vorstellen. Dann ging es um Liviu, den Mann von Doina. Der trieb es mit anderen Frauen. Wenn Mutter so redete, dann bebte ihre Stimme. Vor Wut. Das hatte sie zu erklären vergessen.
Bei meiner Geburt aß Vater viel Eis, Mutter und ich schrien im Krankenhaus um die Wette. Ich war laut, Mutter war leer. Vater meint, er habe vor Aufregung so viel Eis gegessen, dass er Krämpfe bekam und aufs Klo musste. Das soll's geben.
»Verdammt noch mal. Kannst du mit dieser Geschichte nicht einfach aufhören?«, erwiderte Vater, als Mutter am Telefon davon erzählte.
»Aufhören? Wieso denn? Ist doch lustig. Deine Frau bekommt ein Kind, und du reinigst die Klobrille«, antwortete Mutter spöttisch, nachdem sie den Hörer mit der Hand abgedeckt hatte.
»Hör einfach auf. Was muss der Junge so mit anhören.«
»Er hat längst alles mitbekommen, längst alles. Aber keine Angst, er kann unterscheiden. Er ist intelligent.«
»Kannst du nicht einfach den Mund halten?«
»Den Mund halten? Ich? Ich habe doch nichts getan. Was habe ich denn getan?«, fragte Mutter unschuldig.
Vater schluckte leer. Niemand hatte mich gesehen. Niemand erzählte, ob ich viel Besuch bekam, auf der Neugeborenenabteilung.
Als ich geboren wurde, war es für den ersten Mondflug zu spät. Dabei wäre ich so gerne mitgeflogen. Apollo 11. Armstrong, Aldrin und Collins. Als Armstrong von der Leiter der Apollokapsel herabsprang, erbrach ich den Milchbrei auf die Bluse des Hausmädchens. Vater und Mutter waren am Meer. So wird es erzählt.
Milchbrei ist wohl nichts für Raumfahrer.
Es ist Anfang August, und vorgestern am späteren Abend war die Luft immer noch warm. Die Umrisse unseres Wohnhauses verschwammen, aber die vielen Würfel leuchteten. Es herrschte eine seltsame Ruhe überall. Nachdem ich meinen Eltern eine Zeit lang zugehört hatte, entfernte ich mich bäuchlings wie ein Apache und ging Dorin suchen.
Dorin war mein bester Freund im Viertel. Seine Familie war anders als meine. Meine Eltern sind Intellektuelle. Das ist wichtig bei uns, ob man intellektuell ist oder nicht. Dabei weiß ich, dass der Obergenosse die Intellektuellen gar nicht mag. Vater hat es erzählt. Aber wenn es ums Heiraten geht, ist man besser ein Intellektueller. Schwiegermütter mögen das.
Die Familie von Dorin arbeitete in der Fabrik: Vater, Mutter, Bruder. Nur Nero, der Hund, groß und schwarz, arbeitete nicht. Der hatte seinen Platz auf dem engen Gang vor der Küche. Dorin würde auch in der Fabrik arbeiten. Das sagte auch er selber.
Jedes Mal, wenn ich an der Wohnungstür von Dorin läutete, bellte Nero los. Das wusste ich im Voraus und legte mir die Worte zurecht.
»Nero, ruhig, Nero, ich bin's.« Nero wusste nicht, wer ich war, und bellte weiter. Ich versuchte mich zu beruhigen und läutete wieder. Dann ging die Tür auf. Man hatte keine Schritte gehört, als ob seine Mutter dahinter gewartet hätte. Sie machte die Tür einen Spalt weit auf, ich sah nur ihren Kopf. Wenn sie mich nicht gleich loswerden konnte, zog sie noch einige Male an der Zigarette. Hinter ihr schwebte eine Menge Rauch in der Luft.
»Such ihn, Junge, anderswo. Der ist nicht da. Sag ihm, er soll heimkommen, wenn du ihn findest. Er soll sich um Nero kümmern. Sonst vergifte ich den Köter eines Tages. Sag ihm das.« Dann schlug sie die Tür zu, und man hörte nichts mehr. Sie liebte Nero. Da war ich mir sicher.
Vorgestern Abend fand ich Dorin im Hinterhof. Er versuchte an einen Spielzeugpanzer heranzukommen, den ein Kleiner fest an sich drückte. Als er mich sah, ließ er den schreienden Knirps los und kam auf mich zu. Wir überquerten die Schienen der Straßenbahn durch ein Loch im Zaun, der die Straße teilte, und gingen ins Nachbarhaus hinein. Wir fuhren ins oberste Stockwerk. Von dort aus gelangten wir schnell aufs Dach. Dort war die Stille noch größer und die Dunkelheit noch finsterer. Wir fürchteten uns vor Außerirdischen. Bis man uns vermisst hätte, wären wir wohl schon auf dem Sirius gewesen, die fliegen ja mit doppelter und dreifacher Lichtgeschwindigkeit. Oder man hätte uns für grässliche Experimente benützt und unsere Willis gemessen, uns ins Hirn geschaut, und dann hätte man alle unsere Erinnerungen ausgelöscht. Tolle Aussichten. Danach hätte ich in die Geschichtsstunde gehen und der Madame - so nannten wir unsere Geschichtslehrerin - erzählen müssen, dass ich alle Jahreszahlen zum glorreichen Kampf des Volkes gegen ., gegen ., na, gegen die anderen, die Bösen, vergessen hätte. Und dass sie sich, bitte schön, bei den Außerirdischen beschweren könne. Die hätte mir kein Wort geglaubt, und Vater hätte erneut in die Schule gehen müssen, was aber die Madame, die eine Schwäche für ihn hat, ganz sicher nicht bedauert hätte.
»Auaaah! Kies. Wer zum Kuckuck hat Kies hierhergebracht?«, fragte Dorin flüsternd, als wir uns hinsetzten.
»Ufos«, antwortete ich.
»Ha, Ufos. Was sollen denn die Ufos mit dem Kies anstellen?«, fragte er ungläubig.
»Brennstoff.«
»Brennstoff? Kies? Und die lagern's hier auf dem Dach unserer Nachbarn ab? Wozu?«
»Welteroberung.«
»Und die fangen bei uns an?«
»Sei kein Schaf. Es war ein Witz.«
»Komiker.«
»Komiker, wer's glaubt.«
»Dabei habe ich mich verletzt. Es brennt.«
»Psst, sei still«, flüsterte ich und fügte dann doch noch hinzu: »Was wolltest du von Cibi?«
»Den Scheißpanzer wollte ich. Ist ein ganz schönes Modell. Englisch.«
»Und deshalb hast du den Kleinen wie eine Sparbüchse durchgeschüttelt? Sein Vater hat's doch mit der Flasche. Wenn der es erfährt, da kannst du was erleben. Da läuft er hinter dir her und lässt dich nicht mehr in Ruhe. Bis du aufgibst. Weißt du noch, wie du dich vor ihm auf dem Dach des Kiosks in Sicherheit bringen musstest? Erst als man deinen Bruder mit Nero holte, verzog er sich.«
»Ach, das war doch vor einem Jahr. Mittlerweile kann er keine fünf Schritte mehr machen. Man hat ihn letzte Nacht auf allen vieren gefunden, das Gesicht voller Hundekot.«
»Was?«
»Ja, er ist mit dem Gesicht hineingefallen. Und heute Morgen hat er angekündigt, dass er Nero vergiften wird. Er hat sich in den Kopf gesetzt, dass es Neros Kot war. Er hat es also auf Nero abgesehen und ich auf seinen Sohn. Die Rechnung ist doch einfach.«
Wir schwiegen kurz, dann fiel ihm ein, weshalb wir dort waren.
»Hatten wir nicht vor, uns Weiber anzuschauen?«, fragte er.
»Klar.«
»Wieso quatschen wir dann so viel?«
Wir saßen auf dem warmen, aufgeweichten Teer und hoben vorsichtig die Köpfe über das Geländer. Unsere Augen wurden groß wie Pflaumen. Jenseits der Straße leuchtete unser Wohnhaus wie ein Weihnachtsbaum. Überall waren die Fenster weit offen, ein leichter Wind ging durch...
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