Schweitzer Fachinformationen
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»Sie hat nie etwas getaugt.« Das sagte mein Großvater, als wir aus der Trauerhalle in die helle Märzsonne traten und hinter dem Sarg Richtung Familiengrab gingen. Sie, das ist meine Mutter.
Mein Vater, meine Schwester und ich waren am Morgen in den blauen Mercedes meines Vaters gestiegen und von Hamburg nach Celle gefahren. Mein Vater am Steuer, ich hinter meinem Vater, meine Schwester hinter meiner Mutter. Wie immer. Nur, dass der Platz meiner Mutter jetzt leer war. Sie war gestern mit einem grauen Beerdigungswagen vorausgefahren worden.
Wir fuhren auf der Allee, die wir immer nahmen, wenn wir früher zu unseren Großeltern fuhren. Die hohen alten Bäume entlang. Vorbei an den großen traditionellen Gehöften aus rotem Ziegelstein. Die weiten Felder dahinter. Wir werden gleich die ganze Verwandtschaft treffen: Api, den Vater meiner Mutter. Elisabeth, die Mutter meines Vaters. Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins. Meine Großmutter Ami, die Mutter meiner Mutter, ist schon tot. Und sie alle werden uns anstarren und denken: Was für ein Schicksal.
Meine Schwester drehte sich zu mir und schaute mich mit zusammengekniffenen Augen an. Dann reichte sie mir eine schlaffe Hand, die ich automatisch ergriff, und sagte mit der heiseren Stimme von Onkel Faust: »Herzliches Beileid, mein Kind.« Ich musste lachen. Mein Vater murmelte: »Lasst das jetzt mal.« Wir aber konnten nicht anders. Wir mussten uns wappnen gegen das, was da kommen würde. Ich schaute aus dem Fenster. Der Mercedes glitt auf der asphaltierten Straße dahin. Wir hatten den Tod nicht kommen sehen.
Früher waren wir mit unserem alten VW-Käfer über das Kopfsteinpflaster gerumpelt. Früher, als meine Mutter noch da war, war sie es, die den Tod kommen sah, sie konnte das.
Es war auf einer unserer Fahrten auf dieser Straße zu meinen Großeltern nach Celle gewesen. Die Sonne stand tief, und die Bäume der Allee warfen lange Schatten auf die Straße. Hell dunkel hell dunkel. Da kam uns auf der Gegenfahrbahn ein Auto entgegen. Meine Mutter erkannte ihn gleich. Er saß reglos auf dem Beifahrersitz, den Blick starr nach vorne gerichtet. Er war ganz in Weiß gekleidet, mit einem weißen Tuch um den Kopf. Eine Art Turban, der sein Haar - hatte er überhaupt welches? - ganz verhüllte. Es war nur ein kurzer Augenblick, dann war er vorbei.
Das war der Tod, sagte meine Mutter ganz ruhig. Eine Sekunde lang war es still im Auto. Wir hatten ihn alle gesehen. Aber erst, als meine Mutter es aussprach, erkannten wir ihn. Ja, das war der Tod gewesen. Ich war acht Jahre alt und war dem Tod begegnet. Er hatte genauso ausgesehen, wie ich ihn mir immer vorgestellt hatte. Nur eins hatte mich ein bisschen enttäuscht: Der Tod hatte in einem orangefarbenen Ford Taunus gesessen. »Ein Ford Taunus«, lachte mein Vater, »da kommt er ja billig davon.«
Kurze Zeit später passierten wir eine Unfallstelle. Ein Motorrad lag auf der Seite. Der Krankenwagen kam gerade angebraust, und die Polizei stellte Sichtschutzwände auf. Langsam rollten wir vorbei. Ich blickte von hinten auf meine Mutter. Sie konnte so etwas sehen, manchmal. Das wollte ich auch können, damals.
Wir bogen jetzt in die kleine Sackgasse vor dem Celler Waldfriedhof ein, parkten den Wagen unter den noch kahlen Bäumen. Der Parkplatz war voll, die anderen waren schon da. Mein Vater drückte uns zwei Rosen in die Hand und nahm selber die dritte. »Da müssen wir jetzt wohl durch«, sagte er.
Wir betraten den Waldweg und gingen geradeaus, an den metallenen Wasserbecken vorbei, hinter denen kleine Schaufeln und Harken lagen und grüne Plastikgießkannen. Die waren für andere Menschen, die hier schon wohnten und deren Verwandten sich hier schon eingerichtet hatten. Ich wollte mich hier nicht einrichten.
Wir kamen auf dem Vorplatz der Trauerhalle an. Einige wenige standen noch vor der Tür. Tante Almut, eine Cousine meiner Mutter. Herr Blanke, ein Freund meines Großvaters, mit dem Monokel im rechten Auge. Und Jürgen, einer ihrer früheren Liebhaber. Alle anderen mussten schon drin sein, hinter dem roten Samtvorhang, der vor dem Eingang hing.
Jürgen. Ihn hatte ich seit vielen Jahren nicht gesehen. Schlank und elegant wie immer, in seinem Burberry-Trenchcoat und dem dazu passenden beige-braun karierten Kaschmirschal. Er stand vor der Tür der Kapelle mit einem geschmackvollen kleinen Frühlingsstrauß in der Hand. Mit solchen Sträußen hatte er früher vor unserer Haustür gestanden, wenn er meine Mutter besuchte.
»Warum?«, sagte Jürgen und schüttelte betrübt den Kopf. »Es ist doch unbegreiflich. So eine schöne Frau«. Almut schaute erst ihn an und dann auf den Frühlingsstrauß. »Vielleicht deswegen«, murmelte sie, kaum hörbar.
Wir standen, den Moment hinauszögernd, vor der Tür der Trauerhalle. Ich sah unser Spiegelbild in der Glasscheibe. Mein Vater links, mit leicht ergrauten Haaren, in einem schwarzen Anzug, seine Brillengläser waren in der Sonne dunkler geworden. Rechts meine Schwester mit blonden Locken, in einem hellen taillierten Mantel. Eine kleine schwarze Handtasche hing diagonal über dem Körper, als wäre meine Schwester mit einem Filzstift durchgestrichen. Und ich selbst zwischen ihnen, mit schwarz gefärbten kurzen Haaren, in brauner Lederjacke, schwarzen Jeans und Cowboystiefeln mit glänzenden Metallspitzen. Die hatte ich vor ein paar Tagen draufgehämmert.
Da standen wir mit blassen Gesichtern in der hellen Frühlingssonne und waren nur noch drei. Die Vierte, die hier sein müsste, war unsichtbar, verschwunden hinter der spiegelnden Fläche. Wir mussten da jetzt rein.
Mein Vater nickte uns zu, öffnete die Tür und schob den Samtvorhang beiseite. Wir betraten den dämmrigen Raum. Er war voll, jeder Platz schien besetzt zu sein. Es gab keine Fenster, nur runde Bullaugen ganz oben knapp unter der Decke, die auf uns herunterstarrten. Das unangenehme Gefühl eines untergehenden Schiffes.
Wir gingen auf dem Mittelgang über den roten Läufer, der wie eine lange gerade Blutspur auf dem Steinboden nach vorne zum Sarg führte, mein Vater links, meine Schwester rechts, ich in der Mitte. Überall saßen meine Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins und auch zwei meiner Großeltern. Die Köpfe schauten geradeaus, aber die Augen verfolgten uns bis zur ersten Reihe. Da blieben wir stehen und zögerten.
Wir hatten bei einer Beerdigung noch nie in der ersten Reihe gesessen. Onkel Heiner, der Bruder meiner Mutter, saß in der zweiten Reihe. Er nickte und wies mit dem Kinn auf die Bank vor ihm. Es fühlte sich an wie der kantige Befehl eines Bundeswehrobersts, der er ja auch war. Aber aus seiner viereckigen großen schwarzen Brille schauten riesenhaft vergrößerte Augen heraus, die Augen einer tieftraurigen Stubenfliege.
Wir nahmen Platz, mein Vater links von mir, meine Schwester rechts. In der ersten Reihe sitzt man nur, wenn man ein wichtiger Trauernder ist. Wenn man am traurigsten von allen ist. Aber das war ich nicht. Wenn es nach der Trauer gegangen wäre, hätte ich in der fünften oder sechsten Reihe sitzen müssen. Vielleicht sogar in der siebten oder achten. Ich saß hier vorne, aber in Wahrheit fühlte ich nichts. Meine Gefühle waren hinter einer dicken Panzerglasscheibe.
Ich schlug die Beine übereinander, gar nicht so einfach mit engen schwarzen Jeans. Die Lederjacke ließ ich geschlossen. Wir schauten nach vorne. Drei Meter vor uns stand der Sarg.
Da lag sie, zwischen zwei großen weißen Kerzen, dahinter der Altar. Vor ihr, an die steinernen Stufen gelehnt, standen Kränze. Mit weiß-goldenen Schleifen. Stiller Gruß, Lebe wohl, Ruhe in Frieden. Wie still kann ein Gruß sein? Kann man noch wohlleben, wenn man tot ist? Und kann man in Frieden ruhen, wenn man sich im Badezimmer erhängt hat?
»Die Mädchen haben sich ja um nichts gekümmert«, wisperte eine Tante hinter mir. Stimmt. Meine Schwester und ich hatten keine Scheiß-Kränze bestellt und »Ruhe sanft« druntergeschrieben. Ich verschränkte die Arme, meine Lederjacke knarzte.
Tante Gudrun, die Schwester meiner Mutter, setzte sich neben uns. Sie hatte sich meine Mutter kurz vorher noch mal angesehen, ihren Ärztinnen-Blick auf sie gerichtet. Sie sah ganz friedlich aus, hatte Tante Gudrun gesagt. Und dann war ihr schlecht geworden.
Meine Mutter war ohne ein einziges Wort verschwunden. Einfach abgehauen. Weg. Von einem Tag auf den anderen. Und jetzt lag sie da vorne und war plötzlich wieder da. Anwesend und abwesend zugleich. Eigentlich war das immer so gewesen. Ihre Anwesenheit wurde von ihrer gleichzeitigen Abwesenheit neutralisiert. Ich saß da, die Spitzen meiner Cowboystiefel glänzten im Schein der Kerzen. Hinten schnäuzte jemand in ein Taschentuch. Dabei hat es doch noch gar nicht angefangen, dachte ich.
Auf der großen Kerze vorne prangte ein rotes Wachskreuz mit der Jahreszahl, oben die 1 und die 9, unten die 8 und die 4. 1984. Eingerahmt von zwei Buchstaben, oben das Alpha, unten das Omega. Anfang und Ende. Zwei Klammern. Und dazwischen: 47 Jahre Leben. Ich werde nicht älter als 47, hat meine Mutter immer gesagt. Und dann hatte sie selber die Klammer geschlossen. Mit 47 Jahren.
Da steht immer noch eine Kerze, fast an der gleichen Stelle. Aber sie zeigt jetzt eine andere Jahreszahl. Oben die 2 und die 0, unten die 2 und die 3. 2023. 39 Jahre später. Gerade habe ich Platz genommen, in der ersten Reihe. Warum? Was will ich hier?
Ich hatte nicht vorgehabt, noch einmal hierherzukommen. Vor einer Stunde war ich in Celle angekommen, für eine Lesung aus meinem Buch »Meine Schwester«. Ich war...
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