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Clemens Fuest
Wer sich als Wissenschaftler in der Politikberatung versucht, wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit früher oder später diesen Satz anhören müssen: »Grau ist alle Theorie.« Gemeint ist: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verstehen die Welt nicht, Politikberatung ist nutzlos, Frauen und Männer der Praxis müssen die Dinge in die Hand nehmen. Das ist eine Variante der Idee von der Ohnmacht wissenschaftlicher Politikberatung: Ohnmacht durch Unfähigkeit. Nur die Praktiker der Politik wissen, wie Politik zu gestalten ist. Wissenschaftler sind von den realen Problemen zu weit entfernt.
Viele, die diesen Satz verwenden, wissen vermutlich, dass er aus Goethes Faust stammt. Sie vergessen aber leicht, wer ihn ausspricht: Mephisto, der Teufel.
»Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldener Baum.«[1]
Das sagt Mephisto einem Schüler im Studierzimmer, um ihn vom Lernen abzulenken. Die Idee, Theorie sei entbehrlich, die Praxis allein reiche aus, ist also eine Idee des Teufels. Ideen, die vom Teufel kommen, sehen auf den ersten Blick verführerisch aus. Sie erweisen sich aber schnell als nicht tragfähig. Einer, der das erkannt hat, war John Maynard Keynes: Er hat die Bedeutung von Theorien für die Wirtschaftspolitik so beschrieben: »Viele Praktiker, die von sich glauben, von intellektuellen Einflüssen ziemlich frei zu sein, sind in Wahrheit Sklaven irgendeines lange verblichenen Ökonomen.«[2]
Das ist die These einer subtilen Macht der wissenschaftlichen Politikberatung: Wissenschaft produziert Ideen. Keynes hielt Ideen für mächtiger als Partikularinteressen, die kurzfristig großen Einfluss zu haben scheinen. Er war der Auffassung, dass jeder, der politische Entscheidungen fällt, bewusst oder unbewusst Theorien über die Funktionsweise der Wirtschaft folgt, die er irgendwann einmal gehört und übernommen hat. Da Keynes meinte, dass die meisten Menschen jenseits eines Alters von 25 bis 30 Jahren aufhören, neue Ideen aufzunehmen und ihre Auffassungen über Staat und Wirtschaft folglich nicht mehr ändern, beruht ihr Wissen, wenn sie in Positionen mit Entscheidungsmacht geraten, in der Regel auf veralteten Ideen.[3] Verstorbene Wissenschaftler beeinflussen die wirtschaftspolitischen Praktiker der nachfolgenden Generation. Viele Ideen und Argumente, die in der Vergangenheit entwickelt wurden, sind bis heute wertvoll. Manche geraten in Vergessenheit, obwohl sie wertvoll sind. Trotzdem sollten wirtschaftspolitische Entscheidungen - wie politische Entscheidungen überhaupt - aktuelle wissenschaftliche Ergebnisse berücksichtigen. Deshalb wäre es klug, wenn Praktiker sich für Erkenntnisse der modernen Wissenschaft interessieren würden. Viele Entscheidungsträger im wirtschaftspolitischen Prozess tun das auch und sind zumindest offen für den Austausch mit der Wissenschaft.
Im Folgenden soll es deshalb um Politikberatung unter Lebenden gehen. Politikberatung hat ebenso wie das Nachdenken darüber eine lange Geschichte, die bis in die Antike zurückreicht. Politikberatung der Vergangenheit war dabei oft die Beratung von Fürsten, mehr oder weniger autoritären Herrschern. Diese Art der Beratung hat ihre eigene Komplexität und ihre eigenen Widersprüche.[4] Sie unterscheidet sich allerdings in wichtigen Aspekten von der Politikberatung unserer Zeit, der Politikberatung in modernen Demokratien, auf die ich mich hier beschränken möchte.
In Deutschland ist es in letzter Zeit immer wieder zu harscher Kritik an Politikberatern und dem Politikberatungsbetrieb gekommen. Als der Sachverständigenrat für Wirtschaft den Mindestlohn kritisiert hat, wollten manche Politiker ihn gleich abschaffen. Nicht den Mindestlohn, sondern den Sachverständigenrat. Das wirft die Frage auf, was eine Beratung bringt, wenn diejenigen, die beraten werden sollen, den Rat ablehnen? Ist da nicht etwas faul? Dieser Streit spricht eher dafür, dass die Politikberatung in Deutschland, soweit sie sich in der Öffentlichkeit vollzieht, ganz ordentlich funktioniert.
Um das nachvollziehen zu können, muss man verstehen, wie Politikberatung in modernen Demokratien funktioniert.
Wie funktioniert Politikberatung und was kann sie leisten? Ich möchte diese Frage gerne anhand einer Reihe von »Modellen« der Politikberatung diskutieren, also vereinfachten Darstellungen, die wesentliche Aspekte des Problems herausarbeiten.[5]
Modell 1: Die Wissenschaftler stellen fest, was die richtige Wirtschaftspolitik ist, um das Gemeinwohl zu maximieren. Sie beraten die Politiker entsprechend, und die Politiker setzen die Politik um.
Dieses Modell der Politikberatung mag naiv erscheinen. Es eignet sich aber gut als Ausgangspunkt unserer Überlegungen. Das Modell beruht auf einer Reihe von Annahmen:
Was ist von diesen Annahmen zu halten? Annahme 1 ist die am wenigsten problematische, obwohl das Konzept des »Gemeinwohls« viele Fragen aufwirft. Die Idee, dass es so etwas wie »das Gemeinwohl« gibt, darf nicht mit der Vorstellung verwechselt werden, es gebe für freiheitliche Gesellschaften eine gemeinsame Zielsetzung, der sich die Mitglieder dieser Gesellschaft unterzuordnen haben. Kennzeichen freiheitlicher Gesellschaften ist gerade, dass ihre Mitglieder sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Gestaltung ihres Lebens haben. Das gemeinsame Ziel besteht darin, individuelle Freiheiten einzelner Mitglieder der Gesellschaft nur insofern zu beschränken, wie dies notwendig ist, damit die Nutzung dieser Freiheiten nicht die Freiheit der anderen untergräbt. In der politischen Praxis moderner Demokratien besteht über bestimmte Ziele der Politik häufig Einigkeit: Anliegen wie das Sorgen für innere und äußere Sicherheit, die Bereitstellung öffentlicher Infrastruktur, soziale Sicherung, Umweltschutz oder die Förderung von Wissenschaft und Kunst sind weithin akzeptierte Ziele staatlichen Handelns.
Bei Annahme 2 wird es schon schwieriger. Arbeiten die politischen Entscheidungsträger allein darauf hin, das Gemeinwohl zu maximieren? Würde man darüber abstimmen, ob das so ist, wäre das Ergebnis vermutlich ernüchternd. Für einen Ökonomen ist es ohnehin alles andere als naheliegend anzunehmen, dass Politiker das Gemeinwohl maximieren. Ökonomen arbeiten mit dem Analyseinstrument des »Homo oeconomicus«, der kühl seine persönlichen Interessen verfolgt. Bei Politikern wären das in erster Linie die Machterhaltung, die Wiederwahl, die Durchsetzung eigener ideologischer Präferenzen, vielleicht auch ein hohes Einkommen.
Sicherlich gibt es Politiker, die idealistisch sind und das Wohl ihres Landes mehren wollen. Aber auch die müssen darauf achten, wiedergewählt zu werden, sonst erhalten sie gar nicht die Gelegenheit, ihrem Land zu dienen.
Damit gilt das oben genannte Modell 1 nicht mehr, und wir sind beim zweiten Modell der Politikberatung. Es lässt sich wie folgt beschreiben:
Modell 2: Die Wissenschaftler wollen das Gemeinwohl maximieren, es lässt sich auch wissenschaftlich ermitteln, wie das geht, aber die Politiker verfolgen eigene Interessen, die vom Gemeinwohlziel abweichen können.
Dieses Modell ist nur wenig überzeugender als das erste, aus Gründen, die im Folgenden noch näher diskutiert werden. Dennoch ist es erstaunlich weit verbreitet. Mir begegnet es erstens in persönlichen Gesprächen. Mir wird oft gesagt, es sei ein Skandal, dass die Politik so wenig auf den Sachverstand der Ökonomen zurückgreife und die vielen guten Ratschläge nicht umsetze. Häufig werde ich gefragt, ob ich nicht furchtbar frustriert darüber sei. Ich nehme das als eine freundliche Geste und vermute, dass viele dieser Menschen durchaus sehen, dass nicht jeder Ratschlag der Politikberater überzeugend genug ist, um sofort umgesetzt zu werden.
Zweitens, und das ist erstaunlicher, gibt es Wissenschaftler, oft selbst Berater, die zumindest vorgeben, an dieses Modell zu glauben. Sie beklagen sich immer wieder darüber, dass ihr Rat nicht gehört wird, und führen das auf selbstsüchtige, schlecht informierte oder von Interessengruppen gesteuerte Politiker zurück.
Ein Beispiel für einen Ökonomen mit dieser Sicht der Welt ist Jeffrey Frankel, der immerhin ökonomischer Berater des US-Präsidenten Bill Clinton war. Er hat einen Aufsatz verfasst mit dem Titel: »Was kann ein wirtschaftspolitischer Berater tun, wenn der Präsident eine schlechte Wirtschaftspolitik macht?«[6]
In diesem Aufsatz schreibt er: »Es wäre erstaunlicher Zufall, wenn ein Präsident in jeder wirtschaftspolitischen Frage stets die Position seines wirtschaftspolitischen Beraters übernehmen würde. Aber es ist wahrscheinlich, dass die Unterschiede zwischen der Position des Präsidenten und guter Wirtschaftspolitik besonders groß sind in...
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