Schweitzer Fachinformationen
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Seit Ausbruch der Corona-Pandemie zu Beginn des Jahres 2020 und fortgesetzt in der aktuellen Energie- und Lieferkettenkrise, für welche der Krieg Russlands gegen die Ukraine nur eine, wenn auch die wesentliche Ursache bildet, steht das Sozialmodell der Bundesrepublik Deutschland unter erheblichem Druck. Die Lockdowns der Jahre 2020 und 2021 haben viele Unternehmen vor oder in den Ruin geführt, die dramatisch steigenden Gas- und Stromkosten des Jahres 2022 haben Gewinne erneut einbrechen und Preise steigen lassen. Das Anschwellen der Verbraucherpreise bringt vor allem die unteren Einkommensschichten in Not; der Anstieg der Zinsen lässt viele Eigenheimträume zerplatzen. Deutschland sorgt sich um die Gefahr des sozialen Abstiegs breiter Bevölkerungskreise, aber auch um die Wettbewerbsfähigkeit seiner Wirtschaft.
Die Politik hat in den vergangenen Jahren - über den Regierungswechsel des Jahres 2021 hinweg - mit vielfältigen Maßnahmen reagiert, die sich durch einen gemeinsamen Charakter auszeichnen: Sie sind darauf angelegt, für alle Bürger den Status quo zu erhalten. Corona-Beihilfen und Kurzarbeitergeld, Steuerstundungen und Gaspreisbremsen - sie alle vereint der Gedanke, die Bürgerinnen und Bürger vor den Unbilden der Zeit abzuschirmen. Der Wohlstand - so muss man dies lesen - wird garantiert, und was der freie Markt nicht leistet, wird zur Aufgabe des Staates erklärt. Und der Staat wird bei der Bewältigung dieser Aufgabe den Aspekt der Gleichheit immer im Blick haben - der normativen Gleichheit der Bürger in ihrem verfassungskräftigen Anspruch auf ein Mindestmaß sozialer Sicherung, aber auch ihrer faktischen Ungleichheit in der jeweils anderen schicksalhaften Betroffenheit durch Krisen und Katastrophen.
Die Politik des garantierten Wohlstands speist sich - so scheint es - aus drei verschiedenen Quellen. Die erste - und besonders naheliegende - Begründung für die meisten Maßnahmen findet sich in der Überlegung, dass kurzfristige Schocks nicht langfristige Investitionen zerstören sollen. Der Aufbau eines Unternehmens, der Aufwand für die eigene Ausbildung, die Gestaltung des persönlichen Umfelds (einschließlich der eigenen Wohnstätte) benötigen bei den meisten Menschen viele Jahre, vielleicht sogar mehrere Generationen; dieses »versunkene Investment« soll nicht durch vereinzelte und willkürlich erscheinende Schocks zerschlagen werden. Deswegen bemüht man sich um den Erhalt von Unternehmen und Arbeitsplätzen, ordnet Stundungen von Steuer-, Miet- und Darlehensforderungen an, verteilt Sozialleistungen, die den Verbleib im eigenen Heim ermöglichen sollen. Das erscheint gut und richtig - und funktioniert aber nur dann, wenn die Krise, die bewältigt werden soll, in der Tat kurz und vereinzelt bleibt. Schwieriger wird die Situation, wenn diese Krisen länger anhalten als gedacht oder wenn Krise auf Krise sich türmt. Wie viele Krisen haben wir in Deutschland (und Europa) alleine seit der Jahrtausendwende erlebt? Von der Finanzmarktkrise über die Eurokrise und die Migrationskrise bis zur Coronakrise und der Ukrainekrise reicht die endlos scheinende Folge an Störungen. Und im Hintergrund steht seit Jahrzehnten die größte Herausforderung von allen: Der Klimawandel, der global nicht nur den Wohlstand, sondern das Überleben großer Teile der Menschheit infrage stellt. Die Vorstellung, diesem permanenten Übergang von einer Krise zur nächsten mit immer neuen befristeten Hilfestellungen begegnen zu können, ist jedoch nicht haltbar, weil sie eine konstante Leistungsfähigkeit des Staates unterstellt, der ja doch auch durch dieselben Krisen in seinem wirtschaftlichen Fundament erschüttert wird. Schwankt die Wirtschaft, so schwankt auch der Staat, dessen Handlungsfähigkeit nicht nur ideell, sondern auch finanziell von Voraussetzungen lebt, die er nicht selber garantieren kann.
Die zweite Begründungslinie ist sozialpsychologischer Natur. Politik und Bürger scheinen sich darin einig zu sein, dass die Bundesrepublik Deutschland ein »reiches Land« ist, dessen Normalzustand in Vollbeschäftigung, einem steigenden Bruttosozialprodukt, einem maßvollen Zinsniveau (genug für die Sparer, nicht zu hoch für die Schuldner) und einer wohlstandsfördernden Exportstärke liegt. Massive Konfrontationen durch einbrechende Lieferketten, durch wettbewerbsschädigende Energiekosten, durch eine sinkende Auslandsnachfrage, durch stark steigende Verteidigungskosten etc. sind in diesem Modell nicht vorgesehen. Der Wohlstand ist die Normalität, die Krise die Ausnahme. Daher sieht sich die Politik in der Pflicht, diesen über Jahrzehnte etablierten und von der Bevölkerung als sicher unterstellten Wohlstand zu gewährleisten. Ein Rückschritt ist nicht eingeplant und wird von der Politik immer als Versagen empfunden und deklariert - und auch dann, wenn - wie im Fall des Ukrainekrieges - die maßgeblichen Ursachen außerhalb ihres Einflussbereichs liegen. Diese Perspektive ist strukturell rückwärtsgewandt. Sie korrespondiert mit einem langjährigen politischen Diskurs, der den Bestandsbewahrern immer die besten Chancen auf den Wahlsieg verschafft. Wie sagte schon ein deutscher Bundeskanzler aus Anlass der Wiedervereinigung: »Es wird niemandem schlechter gehen als zuvor - dafür vielen besser.«[1] Aufstieg ist immer eine Option, Abstieg nicht. Damit geht aber auch eine strukturell pessimistische Weltsicht einher, die in der Konservierung gewachsener Strukturen die Lösung wirtschaftlicher und sozialer Probleme sieht und für die eine wohlfahrtsfördernde Wirkung von Innovation - auch im Sinne der »schöpferischen Zerstörung« (vgl. Joseph Schumpeter) - keinen Sinn besitzt.
Eng mit diesem Selbstbild einer auf Wohlstandsbewahrung gerichteten Politik verknüpft ist eine wohlwollende Sicht auf die Situation der Individuen in einer Gesellschaft, denen man keinerlei persönliche Schuld an den drohenden Wohlstandsverlusten zuweisen kann und die man deshalb auch von allen nachteiligen Folgen freistellen möchte. Natürlich stimmt es, dass weder die Covid-19-Pandemie noch der Ukrainekrieg aus der deutschen Gesellschaft heraus initiiert oder gefördert worden sind. Dann - so scheint es - könne man die nachteiligen Folgen dieser internationalen Entwicklungen auch nicht bei der deutschen Bevölkerung abladen. Hier zeigt sich ein Verständnis von Staatlichkeit, das ein dem Einzelnen ungnädiges Schicksal nicht mehr kennt. Ganz anders die Tradition seit der Antike: Casum sentit dominus - so lautete ein Leitsatz des römischen Rechts: Das Unglück trifft den (jeweiligen) Eigentümer. So wenig der Staat für Naturkatastrophen oder internationale Kriegswirren einzustehen hat, so wenig muss er herkömmlich den Einzelnen von den finanziellen Folgen eines solchen Schicksalsschlags freistellen. Es gehört vielmehr seit alters her zur Conditio humana, Kollateralschäden historischer Entwicklungen individuell hinnehmen zu müssen. Doch die Zufälligkeit der Schäden und ihre willkürliche Verteilung auf die betroffenen Individuen stehen in einem fundamentalen Kontrast zur Idee der Gerechtigkeit im Sinne einer gleichen Teilhabe aller an den Chancen und Risiken des Lebens.
Es ist daher eine alte Idee, dass die im Staat verfasste Gemeinschaft auch den Charakter einer auf Gegenseitigkeit angelegten Versicherung besitzt und besitzen sollte. Unser Grundgesetz hat das Ziel der Verwirklichung des Sozialstaats gleichrangig neben die Prinzipien der Demokratie und des Rechtsstaats gestellt. Das sozialstaatlich-versicherungsrechtliche Denken beginnt bei der Pflichtversicherung für Gebäude gegen Brandschäden und für Unfälle im Straßenverkehr und endet bei Maßnahmen der Sozialfürsorge - von der klassischen Sozialhilfe über »Hartz IV« bis hin zum neu eingeführten »Bürgergeld«. Sozialstaatlichkeit ist immer auch Verwirklichung sozialer Gleichheit. Die Frage ist eben nur, wie weit die Handlungsfähigkeit des Staates als deutschlandweite Versicherungsanstalt reichen kann und soll. Wird dem einzelnen Bürger ein soziales Existenzminimum garantiert oder sein letzter Einkommensstand? Sollen kleine oder große Unternehmen um jeden Preis durch jede Krise gerettet werden - und wo beginnt der harte Auswahlprozess des Marktes? Muss die Wohnung so warm sein wie im letzten Winter - oder dürfen ungebremste Gaspreise die Bevölkerung zu Sparsamkeit anhalten? Man muss den Eindruck gewinnen, dass der Sozialstaat sich unter dem Eindruck der Krisen der letzten Jahre - vielleicht auch unter dem Eindruck einer neugefundenen fiskalischen »Leichtigkeit des Seins« - von dem alten Modell einer bloßen Existenzsicherung gelöst und dieses durch ein neues Modell der Besitzstandswahrung ersetzt hat. Der Staat als Hilfestellung gegen alle Wechselfälle des Lebens geht aber letztlich über ein versicherungsrechtliches Instrument der Risikoallokation hinaus und versteht sich in Wahrheit auch als ein Motor der Umverteilung: der Umverteilung über Steuern, aus deren Mitteln laufende Hilfen geleistet werden, oder der Umverteilung über Schulden, und damit über die Grenzen zwischen den Generationen hinweg.
Was diese Art von Politik indessen nicht leisten kann, ist die Erhaltung der Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft, einer Wirtschaft insgesamt. Ein äußerer Schicksalsschlag wie eine Pandemie oder ein Krieg, der die staatliche Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit trifft, muss notwendig - wie zuletzt Kai A. Konrad und Marcel Thum konzise ausgeführt haben - den Wohlstand dieser Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit mindern. Man kann dann versuchen, die Auswirkungen für die einzelnen Bürger nach...
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