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Der Imperativ der Würde steht heute im Zentrum zahlreicher sozialer Bewegungen und gesellschaftlicher Debatten über Diskriminierung, Arbeit oder sogar Tierhaltung. Gleichzeitig haben sich jedoch Verletzungen der Würde und Erfahrungen der Würdelosigkeit vervielfacht: in Krankenhäusern und Pflegeheimen zum Beispiel oder in Flüchtlingslagern und Gefängnissen. Das Versprechen der Würde, das die Moderne stolz verkündete, scheint wiederholt verraten worden zu sein, wie die französische Philosophin und Psychoanalytikerin Cynthia Fleury in ihrem neuen Buch zeigt.
Sie plädiert für eine psychoanalytische Klinik der Würde, um eine philosophische Diagnose stellen und therapeutische Lösungen finden zu können. Unter Berufung auf die Schriften von James Baldwin, auf Theorien der Sorge und postkoloniale Ansätze fordert sie dazu auf, sich nicht mit Untätigkeit abzufinden und das Konzept der Würde von seinen Rändern her neu zu denken. Im Zusammenspiel von Psychoanalyse, Literatur und Sozialwissenschaft gewinnt die Forderung nach Würde im Zeitalter des Anthropozäns so ihre ganze Radikalität zurück.
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Im Herzen der sozialen, politischen und ethischen Debatten, die sich zweifellos überlappen, hat sich in den letzten Jahrzehnten der Begriff der Würde als ebenso zentral durchgesetzt wie die Begriffe der Freiheit und Gleichheit, die für die Dynamik der sozialen Bewegungen in ähnlicher Weise konstitutiv sind. Der Begriff wird ständig benutzt, ganz gleich, ob es sich um die eher traditionelle Thematisierung der »Würde der Arbeiter« handelt, um die »Würde schwarzen Lebens« (Black Lives Matter), die »Würde der Revolution« (Maidan[1] ), die »Würde Europas«[2] oder auch um das »Recht, in Würde zu sterben«, um die Verteidigung der Würde des Alters und der Abhängigkeit sowie der Behinderung, ganz zu schweigen von der Würde der Tiere oder der Würde des Lebenden. Diese neue Geltendmachung ist mit einer ebenso generellen Anprangerung der Unwürde bestimmter Verhaltensweisen oder sozialer Kategorien verbunden, so als würde die neue Achse, die die Gesellschaft teilt, diejenigen, die in den Genuss würdiger Lebensbedingungen kommen, denjenigen gegenüberstellen, die ihnen zu Diensten, »Geber von Würde«, weil Geber von Fürsorge sind, denen gegenüber sich Erstere jedoch oft unwürdig verhalten, obgleich alle dieselbe irreduzible und nicht verhandelbare Würde besitzen.
8Die Moderne hat sich in den westlichen entwickelten Gesellschaften um eine doppelte, gegenläufige Dynamik herum entwickelt: auf der einen Seite um den immer feierlicheren Diskurs von der Wertschätzung der menschlichen und universellen Würde wie auch der Natur und des Lebenden - obwohl sich erweisen kann, dass sie miteinander konkurrieren - und auf der anderen Seite um die Zunahme beschädigter Formen der Würde in Institutionen und sozialen Praktiken (Krankenhäuser, Altenheime, Gefängnisse, Flüchtlings- oder Migrantenzentren, Armut und Prekarisierung des gewöhnlichen Lebens usw.). Das Unwürdig-Werden der Gesellschaft ist alltäglich geworden und zeigt, dass die Achtlosigkeit in unser alltägliches Leben zurückgekehrt ist, insbesondere in der Welt der Pflege - Pflegekräfte bekunden ein großes »ethisches Leiden«, dessen Ursache sie hauptsächlich auf ihre unwürdigen Arbeitsbedingungen zurückführen, die weit entfernt sind von einer Berücksichtigung der Singularität und Vulnerabilität der Menschen - der Patienten wie auch der Familien und Pflegekräfte selbst.
Die Moderne schien vom Ideal der Förderung und Verteidigung der Würde eines jeden Menschen geleitet zu sein. Wie steht es damit zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Hat die Kritik an der Aufklärung und am westlichen Universalismus den Begriff der Würde endgültig entwertet, ganz wie die neue Sensibilität für die Natur und die Sache der Tiere, die die Beziehungen zwischen Menschen und Nicht-Menschen neu definiert? Um die Würde als Wert und Praxis ist es schlecht bestellt. Muss man sie deshalb aufgeben und sich mit der Verallgemeinerung der Unwürde abfinden? Hier wird eine Analyse des Konzepts der Würde anhand seiner Ränder und Kehrseite ausgearbeitet, indem eine »Klinik der Unwürde« vorgeschlagen wird - der einzige Weg, um die Würde und das, wofür sie in unseren Gesellschaften steht, neu zu denken. Welches Ziel und Protokoll hat diese »Klinik«, die versucht, sowohl eine Diagnose als auch therapeutische Lösungen zu entwickeln, und die die Methoden der Moralphilosophie und der poli9tischen Philosophie sowie die Sozialwissenschaften - insbesondere die kritische Soziologie - mit der Erörterung klinischer Fälle verbindet (die Gefängnissoziologie wie auch die stigmatisierende Geschichte der AIDS-Klinik zeigen weiterhin, wie die Prüfung der Unwürde die Individuen normiert, indem jeder befürchtet, dem Risiko der Unwürde ausgesetzt zu sein, wenn er die Werte und Regeln der sozialen Kontrolle in Frage stellt)? Die Verinnerlichung der Angst, in die Unwürde abzugleiten, sowie die Ungerechtigkeit, die diejenigen trifft, die tatsächlich dazu bestimmt sind, normiert die Menschen, unterwirft die Subjekte im Sinne Foucaults und zeichnet ihre Lebensführung vor.
Fortan in öffentlichen Bewegungen die Würde der Person zu reklamieren, ist daher ein Zeichen für ein neues Zeitalter des politischen Handelns, das sich ganz der Rückeroberung einer Würde in Aktion widmet, deren »Materialisierung«[3] neue Formen an10nimmt. Die »Prüfungen des Lebens« haben seit jeher die Moraldiskurse und andere Initiationserzählungen strukturiert. Sie waren - per Definition - der Ort der Inkarnation der Würde der Person: Der verdienstvolle Mensch ist auch derjenige, der diese Prüfungen durchläuft, sie zuweilen akzeptiert und sie immer durch Sublimierung und einen Lernprozess besteht. Dennoch wird eine neue Art von Prüfungen immer alltäglicher, als ginge es darum, die Fähigkeit zu beweisen, ihnen die Stirn zu bieten und würdig zu bleiben, obwohl alles zur Unwürde neigt und Formen der Entwürdigung nicht mehr außergewöhnlich, sondern üblich sind. Muss man darin die Rückkehr des alten religiösen Begriffs der Schuld sehen - als würde dieses Risiko für immer auf uns lauern - oder vielmehr ein Wiederaufleben der Biomacht, die weiter auf dem Körper und Geist lastet, indem sie sie mit Unwürde bedroht? Die Verletzung der Würde der Person ist in der Gesellschaft zu einem gängigen Führungskonzept geworden, sowohl in ihrer Mitte (der »inklusiven« Arbeitswelt) als auch an ihren Rändern (der Welt der sozialen Ausgrenzung). Die Gefängniswelt ist mehr noch als eine Erfahrung des Freiheitsentzugs der Ort par excellence, an dem die Verletzung der Würde der Person Gestalt annimmt.
Warum also eine Klinik der Würde gründen? Weil es ein Paradoxon gibt zwischen der verstärkten und proklamierten Erwartung von Würde und der zunehmenden Unsichtbarmachung einer Fülle von Aufgaben und Arbeiten, deren Ziel es ist, dieser eine neue Dynamik zu verleihen. Am Krankenbett »unwürdiger« Leben entsteht eine reale und nicht phantasmatische Analyse der 11»Würde«: indem man die Last untersucht, die diese Leben auf den Körpern der Verwundbarsten hinterlassen, während gleichzeitig ihr idealtypischer Wert in den Demokratien gepriesen wird. Hinter der großen sozialen und politischen Bewegung zur Materialisierung der Rechte und würdiger Lebensbedingungen der Individuen verbirgt sich ein immer noch mächtiges »Unwürdig-Werden«, das unablässig neue Formen annimmt.
Klinik, weil der wiederholte und institutionalisierte Mangel an Würde unweigerlich zu Beeinträchtigungen der körperlichen und geistigen Gesundheit führt. Keine Politik der Würde kann sich entfalten, ohne sich - ohne Selbstgefälligkeit - auf eine Klinik der Würde zu stützen, die ihre Widersprüche aufdeckt und sie zwingt, wieder eine von Sorgsamkeit geprägte Beziehung zu den Körpern und Personen zu praktizieren. Die Moderne kann sich nicht mehr konstituieren, indem sie sich damit zufriedengibt, systematisch unmenschliche und unwürdige Kosten der Würde zu produzieren, die sie zudem universalisiert: die Unwürde anderer Leben, die bestimmten Menschen die Entfaltung eines würdigen Lebens gestatten, die Unwürde der Beziehung zur Erde und zum Lebenden, die die Sonderstellung des Menschen auf die Seite der moralischen Verfehlungen und Erniedrigungen stellt, während gleichzeitig das Konzept der Würde dem Fehlen einer relationalen Definition nicht widersteht.
Sicher, es gibt die irreduzible und symbolische Würde des Menschen und des Lebens, die umso symbolischer leuchtet, je weniger sie in unserem realen Leben vorhanden ist. Niemand kann die Notwendigkeit einer solchen Fiktion oder Sublimierung leugnen, um weiter unser Leben zu leben, doch kann auch niemand leugnen, dass die Herstellung von Würde einen neuen Akt in ihrer »Materialisierung« erfordert, der die Lebensbedingungen der Personen betrifft, vor allem aber die relationale Klinik, die sie verbindet. Auch wenn die Würde als axiomatischer, irreduzibler und symbolischer Punkt definiert wird, als Dreh- und Angelpunkt jeder Moralphilosophie, erinnert die Klinik der Würde daran, dass 12die Frage der Würde in der politischen Philosophie und Sozialphilosophie weniger substantiell als relational ist. Denn diese Frage betrifft ein kollektives Werk, das die Würde der sozialen Interaktionen und die Materialisierung würdiger Lebens- und Arbeitsbedingungen in einer solidarischen Verbindung mit der...
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