Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Vor dem Campus in Madurai verkaufte eine Frau Ananas. Sie bot ihre Ware auf einem einfachen Holzpritschenwagen an, der am Straßenrand stand. Mit anderen Studenten aus europäischen Ländern verbrachte ich ein Semester am Tamilnadu Theological Seminary in Südindien. Wir hatten gelernt, dass man von Weißgesichtern Touristenpreise verlangte; und wir hatten uns von unseren indischen Kommilitonen sagen lassen, was die Sachen, die wir kaufen wollten, für Einheimische kosteten. Mit diesem Wissen und dem Stolz, keine dummen Touristen zu sein, handelten wir die zuerst ausgerufenen Preise immer noch etwas runter - auch bei der Ananas-Verkäuferin.
Eines Abends, als ich spät zum Campus zurückkam, sah ich, dass die Frau unter ihrem Verkaufswagen schlief, auf dem Boden, in eine einfache Decke gehüllt. Sie lebte, wie viele andere Menschen in den großen Städten Indiens damals, buchstäblich am Straßenrand. Ich kam mir schlecht vor, gegenüber dieser Frau den Ananas-Preis um ein paar Rupien heruntergehandelt zu haben. Seitdem ich sie dort schlafen sah, habe ich immer lächelnd den von ihr verlangten Preis gezahlt: Die Ananas war ja immer noch billiger als bei uns im Supermarkt. Ich konnte den teureren Preis problemlos zahlen. Nicht nur beim Ananas-Kauf, sondern bei allen Käufen erlebte ich, dass ich als Student aus Europa in Indien ein reicher Mann war: Mit meinen wenigen Dollar konnte ich hier Waren und Dienstleistungen kaufen, die ich mir zu Hause nicht hätte leisten können. Alles war hier viel billiger - nicht nur die Ananas, die durch den Export nach Europa noch im Preis zulegen kann. Alles war günstiger, weil das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen in Indien viel geringer war als in Deutschland. Ich spürte, was die Statistik sagt: dass ich - wiewohl zu Hause ein bescheiden lebender Student - global gesehen zu den Reichen gehörte. Und dieses materielle Gefälle zwischen mir und den meisten Menschen in Indien fühlte sich ungerecht an. Warum bin ich im Wohlstand groß geworden und sie in Armut? Warum ist der Abstand zwischen mir und ihnen, hinsichtlich dessen, was wir uns an materiellen Gütern leisten können, so enorm? Das Bezahlen eines leicht überhöhten Ananas-Preises war da nur der hilflose Versuch, diese von mir empfundene Ungerechtigkeit ein klein wenig auszugleichen.
Meine Studienzeit in Indien war Mitte der Neunzigerjahre. Inzwischen verkünden diejenigen, die den Wohlstand der Nationen am Bruttoinlandsprodukt ablesen, dass gerade bevölkerungsreiche Schwellenländer wie Indien und China mächtig aufgeholt hätten. Durch wachsende Wirtschaftsleistung dort ist in den letzten Jahrzehnten die relative Ungleichheit im Pro-Kopf-Einkommen zwischen dem obersten und dem untersten Zehntel der Weltbevölkerung geschrumpft: War das oberste Zehntel 1989 noch hundertmal reicher als das ärmste, so ist der Faktor bis 2006 auf neunzig gesunken, nachdem davor seit Beginn des 19. Jahrhunderts diese Ungleichheit fast ununterbrochen gewachsen war. Freilich ist der Unterschied damit gegenwärtig immer noch riesig. Außerdem heißt relative Angleichung nicht auch absolute Angleichung: In absoluten Zahlen - also in Dollar und nicht im Verhältnis zueinander dargestellt - ist der Unterschied zwischen den Ärmsten und Reichsten auf der Welt auch seit 1989 weiter gewachsen! Und zuletzt erleben wir derzeit eine Verlagerung der Ungleichheit: Während sie zwischen einzelnen Schwellen- und Industrieländern abnimmt, wachsen die Unterschiede innerhalb der Nationen - sowohl im globalen Süden wie im globalen Norden. Kurz: Es besteht wenig Anlass zu glauben, dass die Ungleichheiten sich mit der Ausweitung des globalen Marktes wirklich abmildern. Dass diese Ungleichheit von vielen spontan als ungerecht empfunden wird, zeigen die auf Empörung zielenden Veröffentlichungen dieser und vergleichbarer Zahlen. Mehr noch als Zahlen aber wirkt die Begegnung mit einem Menschen wie der Ananas-Verkäuferin.
Aber meine Erfahrung mit der indischen Verkäuferin bestand ja nicht nur darin, dass mich ihr Leben am Straßenrand erschütterte. Meine Scham entstand dadurch, dass ich gegenüber der Frau einen für mich günstigeren Preis rausgehandelt hatte, obwohl sie augenscheinlich des Geldes viel mehr bedurfte als ich. In unseren Breiten verhandeln wir meistens nicht mehr beim privaten Einkauf, sondern zahlen den Preis, mit dem die Ware ausgezeichnet ist; oder wir kaufen die Ware eben nicht, wenn sie uns zu teuer ist. Aber hinter den Produkten mit scheinbar festen Preisen stehen immer - und mitunter auch schwierige - Preisverhandlungen: Die Lebensmitteldiscounter drücken Milch- und andere Preise, die zumindest für Landwirte mit geringer Fläche oder Viehbestand kaum mehr auskömmlich sind; die Textilmarken lassen dort produzieren, wo die Zulieferer noch günstigere Preise, also billigere Arbeitskräfte anbieten können. Die Löhne der Arbeitnehmer werden ausgehandelt, sei es individuell oder kollektiv durch Gewerkschaften. Bauherren, die Bauprojekte ausschreiben, Autofirmen, die Zulieferer beauftragen, oder Krankenkassen, die Verträge mit einzelnen medizinischen Dienstleistern abschließen: Fast überall, wo gekauft beziehungsweise verkauft wird, werden Preise mehr oder weniger frei verhandelt. Heutzutage werden aber solche Kauf- und Verkaufsprozesse nur noch selten mit der Frage nach Gerechtigkeit in Verbindung gebracht.
Wenn heute über Gerechtigkeit in wirtschaftlicher Hinsicht gesprochen wird, dann redet man in der Regel über »soziale Gerechtigkeit«. Das ist freilich ein etwas hilfloser Begriff, denn Gerechtigkeit setzt immer schon Sozialität voraus, also das Verhältnis von mindestens zwei Personen, zwischen denen ermittelt werden muss, was als gerecht gilt. Allein auf der einsamen Insel stellen sich keine Gerechtigkeitsfragen. Normalerweise bezeichnet der Begriff heutzutage das, was früher verteilende oder austeilende Gerechtigkeit genannt wurde. Diese als iustitia distributiva bezeichnete Form der Gerechtigkeit regelt das, was dem Einzelnen von der Gemeinschaft her zusteht. Die gegenwärtig populärsten Formen sind die Verteilungsgerechtigkeit und die Chancengerechtigkeit. Erstere bezeichnet den Versuch, die Verteilungsergebnisse, die sich auf dem Markt durch Kauf und Verkauf ergeben haben, zu korrigieren, zum Beispiel durch Steuern oder Sozialtransfers. Die Chancengerechtigkeit hingegen führen diejenigen an, die versuchen, die Zugangsbedingungen zum Markt gerechter zu gestalten, zum Beispiel durch eine bessere schulische Bildung für alle. Beide Formen setzen also nach beziehungsweise vor den eigentlichen Marktprozessen an. Das Geschehen auf dem Markt, was zu welchen Preisen ge- und verkauft wird, scheint hingegen kaum mehr auf Gerechtigkeitsfragen ansprechbar.
Das war nicht immer so. Die verteilende Gerechtigkeit hat in der philosophischen Tradition ihr Gegenstück in der ausgleichenden Gerechtigkeit, iustitia commutativa. Diese Form der Gerechtigkeit ist für den Verkehr zwischen den Bürgern zuständig, regelt also, wie die Einzelnen untereinander handeln sollen. Klassischerweise trennt man sie noch in die Strafgerechtigkeit und die Gerechtigkeit bei freiwilligem Tausch, wie es Kauf und Verkauf sind. Deswegen spricht man auch von Tauschgerechtigkeit.
Aus dieser Fülle von Gerechtigkeitsthemen geht es auf den folgenden Seiten um die Tauschgerechtigkeit. Denn diese Vorstellung von Gerechtigkeit hat sich signifikant gewandelt: Galt einst ein Handel dann als gerecht, wenn Waren gleichen Wertes oder Ware und Geld gleichen Wertes getauscht wurden, so ist diese Vorstellung abgelöst worden durch die Idee: Gerecht ist ein Handel, wenn beide Vertragspartner ihm freiwillig zustimmen - unabhängig davon, ob das gezahlte Geld dem Wert der Ware entspricht. Dieser Wandel hat, grob gesprochen, im späten Mittelalter begonnen und sich im Laufe der frühen Neuzeit weitgehend durchgesetzt - und er hängt mit dem Aufkommen kapitalistischer Wirtschaftsformen zusammen.
Der emeritierte Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Wolfgang Streeck, hat diesen Wandel sehr gut auf den Punkt gebracht. In einem Aufsatz mit dem schönen Titel »Taking Capitalism Seriously«, also: den Kapitalismus ernst nehmen, spricht er von der »legitimen Gier« als einem Charakteristikum kapitalistischer Gesellschaften. Und er konturiert das durch den Vergleich mit früheren Zeiten: »Die unendliche Vermehrung von materiellem Besitz galt in vorkapitalistischen Zeiten als moralisch minderwertig und blieb ein Randphänomen, das bestenfalls als leider unausrottbar toleriert wurde. Wenn im Kapitalismus, im Vergleich dazu, materielle Gier durch freiwillige Vereinbarung zum Ziel kommt anstatt durch Gewalt, wird sie als normal und legitim angesehen.«1 Die Gier, von der Streeck spricht, wurde in »vorkapitalistischen Zeiten« als das Laster angesehen, das Ungerechtigkeit zur Folge hat, indem einer mehr beansprucht, als ihm zusteht beziehungsweise durch seine »Vermehrung von materiellem Besitz« anderen etwas wegnimmt. Hier hat mit dem Aufkommen kapitalistischer Wirtschaftsformen tatsächlich ein Normwandel stattgefunden; und für diesen Wandel sind die Kategorien Freiwilligkeit und Vertrag (Streeck spricht etwas unbestimmt von »Vereinbarung«) entscheidend gewesen.
Von daher...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „glatten” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.