Wettbewerb der Baumeister
Art des Auftrages: Planung und Bauleistung
Bezeichnung des Auftrages: Konstruktiver Ingenieurbau Fußgängerhängebrücke
Ausführungsort: Oberstdorf (Grenzgebiet)
Los: Die Regierung von Schwaben mit Sitz in Augsburg wählt anhand von ästhetischen, funktionalen und finanziellen Kriterien aus allen eingereichten und den Anforderungen entsprechenden Modellen und Planungsunterlagen das Gewinnerprojekt des Brückenbau-Wettbewerbs 2021 Oberstdorf aus.
»Was soll das denn bloß sein, Egi?«
Der aus Lindau stammende Polizeioberwachtmeister Rudolf Ströber, der Rudi, las die Ausschreibung, die auf dem großen Schild im Foyer der Oybele Halle abgedruckt war, und kratzte sich am Doppelkinn. Der wohlgenährte Beamte lebte bereits seit über einem Jahrzehnt in Oberstdorf und kannte sich aus wie ein Einheimischer. Jedoch schien ihm die letzten Monate anscheinend doch etwas entgangen zu sein. Er war gemeinsam mit seinem Vorgesetzten Polizeihauptkommissar (PHK) Egon Huber, dem Egi, zur polizeilichen Überwachung des Brückenbau-Wettbewerbs abkommandiert worden. Der amtierende Polizeiinspektionsleiter Erwin Bachmeier, insgeheim von ganz Oberstdorf »Chefmeier« genannt, hatte ihnen aufgetragen, die Ausstellung der Wettbewerbsbeiträge in Form von kleinen Brückenmodellen in der Oybele Halle zu beobachten und dort für Disziplin und Ordnung zu sorgen. Disziplin und Ordnung war in diesem Jahr ein Reizthema in ganz Bayern, und somit auch im Allgäu. Das Corona-Virus wütete noch immer hierzulande, daher war die Allgemeinheit aufgerufen, bei großen Veranstaltungen dieser Art Mund-Nasen-Bedeckungen zu tragen und mindestens 1,5 Meter Abstand zueinander zu halten. Besonders in einer Touristen-Hochburg wie Oberstdorf gestaltete sich die Durchsetzung derart freiheitsberaubender Maßnahmen als ein Drahtseilakt. Vor allem, wenn es ein dermaßen interessantes Projekt gab, von dem man nie zuvor in den Zeitungen gelesen hatte. Erst diese Woche Montag war die Polizeiinspektion (PI) Oberstdorf darüber informiert worden, dass sie hier zum Einsatz kommen würde. Nun wollten natürlich alle Einheimischen und auch viele Touristen herkommen und erfahren, was als Nächstes in Oberstdorf gebaut werden würde. Und mit abstimmen durfte man auch, die Eintrittskarte war auf der Rückseite mit einem Wahlbogen bedruckt. Die Besucher wurden darauf aufgefordert:
Bitte tragen Sie
die Nummer Ihres Favoriten
in das Kästchen ein!
Vor zwei Jahren hatte das noch ganz anders ausgesehen, damals waren die Oberstdorfer nicht nach ihrer Meinung gefragt worden. Die Nebelhornbahn hatte man nun doch entgegen aller Erwartungen abgerissen und ersetzt. Neunzig Jahre lang hatten die ältlich wirkenden, gelben Gondeln brav ihren Dienst getan, nun fuhr seit diesem Frühjahr eine neumodische Umlaufbahn die Touristen den Berg hoch. Und damals, vor knapp zwei Jahren, hatte Egi das noch zu verhindern versucht, als der alte Moosberger sich das aufwendige Seilbahn-Neubauprojekt ausgedacht hatte, kurz vor der Verwirklichung seines Hirngespinstes jedoch in seinem Klausenkostüm ermordet worden war. Nun hatten die OK-Bergbahnen das (zugegebenermaßen) längst überfällige Projekt selbst in die Hand genommen und damit die Touristen letztendlich doch noch glücklich gemacht.
Und jetzt schien sich auch noch jemand eine neue Fußgängerhängebrücke ausgedacht zu haben. Egi und Rudi standen daher in Polizeiuniform sowie zum eigenen Schutz maskiert im Eingangsbereich der Oybele Halle und waren verblüfft darüber, was hier in Oberstdorf geplant war. Hunderte Besucher, Einheimische wie Touristen, staunten ebenso und wollten partout als Erste in die Halle hineinkommen, um sich die Brückenmodelle ansehen und darüber spekulieren zu können, wo denn eine solch geheimnisvolle Fußgängerhängebrücke hier in Oberstdorf gebaut werden konnte. Genauso wollten sie mitentscheiden, welcher Wettbewerbsbeitrag gewinnen sollte. Das Security-Personal im Außenbereich und auf den Parkplätzen hatte bereits seit Stunden einige Mühe damit, ihnen wiederholt Abstands- und Benimmregeln zu erläutern. Für die uneinsichtigen Gesellen wären dann später Egi und Rudi zuständig. Die nicht zu übersehende, uniformierte Amtsgewalt sollte die Raufbolde unter den Besuchern einschüchtern. Aktuell war es aber ruhig im Foyer, die Eingangstüren waren noch verschlossen.
»Ich hab nix mitbekommen von so einem anstehenden Brückenbau in 2021«, wunderte sich auch Egi. »Die haben das bestimmt verheimlicht, damit nicht so viele Auswärtige anreisen und das Virus einschleppen. Und damit wir Einheimischen uns nicht gegen diesen Wahnsinn wehren können!«
»Da magst recht haben, Egi. Das isch doch a Witz!«, echauffierte sich Rudi. »Was tun die denn da schon wieder bauen wollen?«
»Du, Rudi, wir können jetzt nix groß was dagegen unternehmen. Denk lieber an Chefmeiers Worte: Seht zu, dass die da kein Super-Spreader-Event draus machen! Wenn die mir das Virus hier verbreiten, können wir nach diesem entbehrungsreichen Winter Oberstdorf endgültig dicht machen!«
Egi imitierte dabei treffend Chefmeiers halb fränkischen Dialekt inklusive rollendem R. Rudi erinnerte sich an die extrem emotional vorgetragenen Worte vom Chefmeier und bekam unverzüglich eine Gänsehaut. Hier durfte heute absolut nichts passieren, was einen lokalen Lockdown nach sich ziehen würde, sonst würden in der PI Oberstdorf Köpfe rollen. Und zwar die Köpfe von Egi und Rudi!
»Grüß Gott, die Herren Polizisten«, hörten die zwei plötzlich eine tiefe Männerstimme hinter sich.
Egi und Rudi warfen ihre Köpfe herum. Hinter ihnen stand der Veranstalter des Wettbewerbs, dessen Name auf einem Schildchen an seiner Brust prangte: Hartmuth Rappen. Herr Rappen war an die einen Meter neunzig groß und kräftig, er hatte ein Kreuz wie ein Bodybuilder. Rudi kam gleich in den Sinn, dass Herr Rappen seinen feinen Zwirn, einen dunkelblau schimmernden Anzug mit strahlend weißem Hemd und silberner Krawatte, in einer Herren-Boutique gekauft haben musste. Wie Egi und Rudi trug der Politiker aus Augsburg eine weiß-blau karierte Mund-Nasen-Bedeckung bedruckt mit dem Logo des Brückenbau-Wettbewerbs. Das war zu diesen Zeiten Pflicht in öffentlichen Bereichen, vor allem seit sich in jeder noch so abgelegenen Ecke diese neuen Virus-Mutanten verbreiteten.
»Grüß Sie Gott, Herr Rappen«, sagten Egi und Rudi und nickten ihm kurz zu. Seit nunmehr über einem Jahr war Händeschütteln weltweit verboten.
»Bevor wir die Pforten öffnen, sehen Sie zwei sich am besten als Erstes die Ausstellung an. Hier ist ein Plan, in dem die Ballungsbereiche mit roten Punkten markiert sind. Unsere Security übernimmt natürlich den ganzen Ablauf, schleust die Höchstzahl an Personen rein, schaut, dass sie ordentlich den Laufwegen folgen, sich nicht zu nahe kommen und leitet sie dahinten durch die Tür auf der gegenüberliegenden Seite wieder raus. Wir rechnen heut in unserer Ausstellung mit einhundert bis zweihundert Besuchern. Sie beide sorgen lediglich dafür, dass bei etwaigem Gerangel oder Streitigkeiten sinnvoll aussortiert wird und drücken den Rabauken ein deftiges Bußgeld auf! Und Sie schauen natürlich, dass dabei nichts zu Bruch geht. Verstanden? Überlegen Sie sich in Anbetracht der vorgegebenen Laufwege, wie Sie die Übeltäter am elegantesten wieder hier rausbekommen!«, meinte Herr Rappen und drückte Egi den Hallenplan in die Hand. »Ach ja, und um 17:00 Uhr wird der Gewinner gekürt, dann sind aber nur noch die Jury, die Wettbewerbsteilnehmer und die Presse hier. Sie können dann gern noch zusehen und für Ruhe sorgen, falls es laut wird. Nicht dass sich die Verlierer die Köpfe einschlagen, wenn sie die Entscheidung hören, hahaha.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, machte Herr Rappen auf dem Absatz kehrt und ging energischen Schrittes auf eine Tür mit der Aufschrift Privat zu. Hinter dieser verschwand er.
»Der isch ah mit am linka Fuaß aufgschdanda«, kommentierte Rudi im breiten Dialekt und rieb sich den Bauch, der einen durchaus beachtenswerten Umfang hatte. Rudi war dazu um die fünfzehn Zentimeter kleiner als Herr Rappen, so dass er neben ihm wirkte wie ein Gartenzwerg. Der Polizeioberwachtmeister schien froh, dass der Politiker aus Augsburg schnell wieder einen Abgang gemacht hatte.
Egi schüttelte den Kopf und faltete den Hallenplan auf, auf dem die dargebotenen Ausstellungsstücke mit Namen, Herkunftsort des Wettbewerbsteilnehmers und einer zugeordneten Nummer abgedruckt waren.
»Du, schau mal, Rudi, das gibt's doch nicht! Da kommen sogar welche aus München, Hamburg, Köln, Berlin und Kopenhagen, um hier eine Fußgängerhängebrücke zu bauen«, meinte Egi verwundert und kratzte sich am Vollbart, der unter seiner Mund-Nasen-Bedeckung versteckt war. »Was soll das nur für eine Brücke werden?«
»Lass uns doch endlich nachsehen, die stehen dahinten ja allesamt«, schlug Rudi vor und stapfte los.
Egi folgte ihm und passierte die doppelten Glastüren, die das Foyer vom Ausstellungsraum trennten. Der...