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Seit Ende der zwanziger Jahre konnten seine Leser in den verschiedenen Schriften Carl Einsteins gebannt verfolgen, wie der Autor um eine psychische Neubestimmung künstlerischer Prozesse und Bildfindungen auf anthropologischer Grundlage rang. Der deutsche Kunsthistoriker, 1928 nach Paris umgesiedelt, um hier in den intellektuellen Zirkeln der Metropole seine Zeitschrift Documents zu realisieren, wies dabei mehrfach auf das seiner Ansicht nach allzu statische Verständnis des Unbewussten bei Sigmund Freud hin. Er hatte erkannt, dass dieser sein therapeutisches Verfahren auf die mehr oder weniger zweifelsfreie Deutbarkeit verdrängter Vorgänge hin angelegt hatte. Einstein betonte demgegenüber die andauernde Umbildung neuer Eindrücke durch das Unbewusste, die in diesem angelegte Möglichkeit zu ständig voranschreitender, letztlich von ihm durchaus auch politisch verstandener Veränderung. Ziel seiner Argumentation war es, das Geheimnis künstlerischer Produktion nicht zu entzaubern, dem er selbst als Autor experimenteller Prosa unterworfen war. Eine ästhetische Haltung kam hier zur Sprache, geschult an den Gegenständen der außereuropäischen Kunst, mit der er seine ursprünglichen kubistischen Überzeugungen in eben dem Maße deutlich überschritt, in dem auch die nachkubistischen Werke von Picasso und Braque surrealistische Gestaltungsstrategien in sich aufgenommen hatten: »Diese starke Aktivierung des Unbewussten im Schauen und Erschaffen der Gestalten scheint uns gerade die Unerklärbarkeit der Kunstwerke zu bewirken, denn letzten Endes bleibt die Vision eben rätselhaft.«1
In diesem Zusammenhang sprach der Autor andeutungsweise auch von solchen zeitgenössischen Kunstwerken, bei denen die Umsetzung halluzinativer Vorgänge regressiver Natur sei. Offenbar haben wir es hier mit einer Invektive gegen den orthodoxen Surrealismus zu tun, dem damit ein »caractère infantile« sowie ein Festhalten an den »traumas de la jeunesse« unterstellt werden sollten.2 Einstein erhoffte sich vom Surrealismus etwas völlig anderes als eine in seinen Augen bloß thematische Erweiterung der Kunst durch psychologische Themen, wie er sie etwa Salvador Dalí vorwarf.3 Seiner festen Überzeugung nach lagen die Möglichkeiten von Malerei und Skulptur vielmehr darin begründet, mit Hilfe bildnerischer Mittel den erkenntniskritischen Zugriff auf Welt und Weltbild von Grund auf zu verändern. Und so machte sich Einstein daran, seine ästhetischen Erkenntnisse und insbesondere die ethnologisch-anthropologischen Voraussetzungen seiner Kunstauffassung im Dialog mit den Werken von Hans Arp und Paul Klee, von André Masson, Joan Miró und Gaston-Louis Roux entscheidend zu erweitern; im Dialog mit den Werken jener Künstler also, die nicht - oder doch nicht für längere Zeit - dem orthodoxen Kreis um André Breton angehörten.4
Dem für ihn wohl wichtigsten Künstler dieser Gruppe, dem Maler André Masson, widmete der Kunsthistoriker im Mai 1929 einen programmatischen Artikel seiner Zeitschrift Documents, dem Forum der surrealistischen Dissidenten. Geschrieben unmittelbar unter dem Eindruck der zweiten Einzelausstellung Massons, die im April des Jahres in der Galerie des gemeinsamen Freundes Daniel-Henry Kahnweiler veranstaltet wurde, formulierte der Autor unter dem sprechenden Titel André Masson, étude ethnologique sein Plädoyer für eine halluzinatorische Kunst, ohne deren Hilfe die bitter notwendig gewordene radikale Veränderung des modernen Weltbildes nicht zustande gebracht werden könne [Abb. 2]. Die besondere Wertschätzung, die Einstein für das Werk des Malers hegte, die Hoffnung, die er an dessen Bilder knüpfte, zeigen sich bereits in der editorischen Ausstattung des Artikels, der mit nicht weniger als fünfzehn Gemälden von der Hand des Freundes großzügig illustriert wurde, zu denen Kahnweiler die Abbildungsvorlagen zur Verfügung gestellt hatte, darunter Aufnahmen nach bedeutenden Werken aus den Sammlungen von Breton, Kahnweiler, Alphonse Kann, Gottlieb Friedrich Reber, Hermann Rupf und Roland Tual.5 Wieder einmal erwies sich das »intellektuelle« Layout der Zeitschrift als ein textüberbietendes Ausdrucksmittel, denn der Aufsatz beschäftigte sich keineswegs unmittelbar mit dem Beschreiben und Deuten der Werke Massons, sondern lieferte mit der Folge der Reproduktionen gewissermaßen einen zweiten, einen visuellen Essay, der die kulturhistorischen und psychologischen Thesen des Autors durch bildliche Evidenz auf eine übergeordnete Argumentationsebene hob.6
2 Carl Einstein: André Masson, étude ethnologique, Titelseite aus Documents, 1929
Nicht von ungefähr beginnt der Text mit einer scharfen Attacke gegen die zeitgenössischen Literaten (»Ces écrivains sont prisonniers des mots«), deren Sprache Einstein als hoffnungslos veraltet kritisierte und den Zwängen einer längst unwirksam gewordenen Grammatik unterworfen sah.7 Anders die bildenden Künstler, etwa Picasso, die erkannt hätten, dass nur eine tiefgreifende Umwandlung des bildnerischen Idioms dazu führen könne, die scheinbar zeitlos gültige Einheit der wahr- und für-wahr-genommenen Wirklichkeit aufzubrechen, um so deren auf Logik und Kausalität gründendes Ordnungsgefüge zugunsten komplexerer Wirklichkeitsmodelle zu zerschlagen: »Eine Sache ist wichtig: Das, was man Wirklichkeit nennt, durch das Mittel unangepasster Halluzinationen zu erschüttern, um die Wertehierarchien des Realen zu verändern. Die halluzinatorischen Kräfte schlagen eine Bresche in die Ordnung mechanischer Prozesse; sie führen Brocken der >Nicht-Kausalität< in eine Wirklichkeit ein, die man absurderweise als Einheit auffasst. Das ununterbrochene Raster dieser Wirklichkeit ist zerrissen, und man sieht sie in dualistischer Spannung.«8
Seinen Begriff des Halluzinativen, verstanden als eine aus den verschütteten Schichten der Psyche hervorbrechende Einbildungskraft, verankerte Einstein tief in der Kultur- und Religionsgeschichte und erläuterte ihn durch die historische Antinomie von religiös-mythischer Vorstellungswelt, dogmatisch verpflichtend für die Glaubensgemeinschaften vergangener Epochen, und dem Wirklichen, das unter diesen Voraussetzungen als »contraste misérable« zum Übernatürlichen gelten musste.9 Bewusstsein und Kenntnisstand einer religiös bestimmten Vergangenheit wurden durch diese Art der Imagination beherrscht und das Übernatürliche besaß so vor aller modernen Logik seine unangefochtene Gültigkeit. In der Gegenwart, so Einstein weiter, widersetzen sich die halluzinatorischen Kräfte den gesellschaftlichen Verabredungen anscheinend nur noch durch subjektive Revolte. Es müsse jedoch erreicht werden, Vision und Imagination als realitätsbestimmende Faktoren wieder in ihre Rechte zu setzen, da sie keineswegs auf persönlicher Willkür beruhen, sondern Ausdruck schicksalsgebundener, unbewusster Vorgänge sind (»das Imaginative entspringt tatsächlich schicksalhaften Prozessen, die nahezu unmöglich zu steuern sind«).10
Der Autor forderte - wenn nicht im Alltag, so doch in Kunst und Erkenntnistheorie - eine Absage an Kausalität und Bewusstsein. Im Bruch zwischen der vorausgesetzten ursächlichen Ordnung der Natur und den spontanen Prozessen etwa des künstlerischen Ausdrucks liegt seiner Überzeugung nach die einzige Hoffnung auf Freiheit begründet; auf eine Freiheit, die zum Sturz überkommener Vorstellungen vom Wesen der Welt und des Menschen beitragen wird. Der Verlust verbindlicher Gesetze sowie die damit einhergehende Subjektivierung und Vereinzelung des Menschen seien einerseits - seit Nietzsche und, so dürfen wir ergänzen, seit Freud - durch eine »idéalisation de la sexualité« aufgefangen worden, wodurch das Unbewusste noch einmal eine kollektive Basis erhielt, andererseits aber auch durch die politischen Kollektivierungen in der Moderne. Die Wesensgleichheit von Halluzination und Subjektivität wies Einstein dabei als bürgerliche Fiktion zurück und betonte noch einmal das Schicksalhafte und damit Kollektive unbewusster Ausdrucksformen: »Wie dem auch sei, muss man gerade in den halluzinatorischen Formen die Zeichen schicksalhafter Prozesse sehen, in deren Verlauf alle egozentrischen Reaktionen verschwinden.«11
Erst an dieser fortgeschrittenen Stelle seiner Argumentation kommt der Verfasser ausdrücklich auf die Möglichkeiten der Bildenden Kunst zu sprechen. Analog zur psychoanalytischen Rückführung der menschlichen Selbsterkenntnis hin zu den verborgenen Schichten der eigenen Vergangenheit sah Einstein in der künstlerischen Arbeit - das heißt: in einem säkularisierten religiösen Akt - ein wirksames Verfahren, um längst vergessen gedachte archaisch-mythische Schaffensprozesse wiederzubeleben und damit im und durch das Kunstwerk zu einem kollektiven Gedächtnis vorzudringen: »Wir stellen die Rückkehr mythologischer Schöpfung fest, die Rückkehr eines psychologischen Archaismus, der dem bloß imitativen Archaismus der Formen entgegen steht. Die Malerei gibt die Beschreibung gegebener Formen oder in den Gegenständen entdeckter Strukturen auf. Das heißt, man eliminiert und vergisst die Wirklichkeit auf die gleiche Weise wie ein Mönch, der diese völlig vergisst, wenn er sich darauf konzentriert, die Ekstase zu erreichen.«12
Auf der Suche nach der für Einstein keineswegs verlorenen Zeit gelange der Mensch so zu kindlichen Ausdrucksformen zurück, doch er setze, als Künstler, die erinnerten Erlebnisse mit verfeinertem handwerklichem Können um. Das...
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