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Um das ambivalente Verhältnis Rosa Luxemburgs zur deutschen Sozialdemokratie besser zu verstehen, muß man sich deren Entwicklung im 20. Jahrhundert vergegenwärtigen, ja darüber hinaus auch die Problematik der modernen deutschen Geschichte andeuten.
Die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts steht im Zeichen einer eigenartigen Tragik. Bei den großen Völkern des Westens war die nationale Frage schon relativ früh in einer Synthese von nationaler Einheit und bürgerlicher Freiheit gelöst worden. In Deutschland wurde die Nation erst spät - zu spät? - mit Hilfe von »Blut und Eisen« geeint. Der aus Bismarcks »Revolution von oben« resultierende typisch deutsche Konstitutionalismus begründete ein Herrschaftssystem, das vor allem auf Kosten der politischen Freiheit, die nur eine Scheinexistenz führte, funktionierte. Auch nach 1871 hatte der imperialistische Kampf gegen die »feindliche« Umwelt - ein Kampf unter autoritärer Führung und im reaktionären Geiste - das Primat. Der Schwäche der freiheitlich-revolutionärdemokratischen Kräfte entsprach die außerordentliche Stärke autoritär-reaktionär-bürokratischer Institutionen, Kräfte und Verhaltensweisen.
Bis ins 20. Jahrhundert hinein überdauerte der Militär- und Polizeistaat; ihm entsprach eine Obrigkeitsgesellschaft und eine Untertanen-Mentalität. War dieser Staat auch kein totalitärer Staat, so war er doch ein »Überstaat«, der mit seinen Eingriffen ordnend, schützend oder unterdrückend weit in die verschiedenen Lebensbereiche der Gesellschaft hineinreichte. Heinrich Manns Der Untertan wie auch der Hauptmann von Köpenick sagen über diese Seite der deutschen Wirklichkeit mehr aus als alle gelehrten Abhandlungen.
Diesem historisch-sozialen Milieu ist auch die Sozialdemokratie stets verhaftet geblieben, die ja erst nach der schweren Niederlage der achtundvierziger Demokratie, also in einer restaurativen Epoche, entstanden ist.1 Zwar berief sie sich lange Zeit mit Stolz nicht nur auf Lassalle, sondern auch auf Marx und Engels. Sowohl die Einstellung der Mehrheit ihrer Anhänger wie auch die von ihr schon vor 1914 wirklich verfolgte Politik waren jedoch nicht die einer marxistischen Arbeiterpartei.
Der Aufstieg der Arbeiterbewegung fiel in eine Epoche des wirtschaftlichen Aufschwungs, der im neuen Reich besonders zu spüren war.2 So läßt sich eine, wenn auch noch so bescheidene, wirtschaftliche Verbesserung der Lage eines nicht unbeträchtlichen Teils der Arbeiterschaft kaum bestreiten. Vom Beginn der sechziger Jahre bis zur Jahrhundertwende waren, natürlich zum Teil auch als Folge der gewerkschaftlichen Kämpfe, die Reallöhne um nahezu ein Drittel gestiegen; danach waren sie allerdings, infolge des Ansteigens der Lebenshaltungskosten, stabil geblieben. Nicht ohne Wirkung waren auch die Verkürzung des Arbeitstages vom Zwölfstundentag in den siebziger Jahren zum Zehnstundentag 1914, die Leistungen der Sozialversicherung, die Verbesserung des Arbeitsschutzes geblieben. Dem standen allerdings das anhaltende Wohnungselend sowie die zunehmende Differenzierung der Arbeiterklasse in eine Oberschicht mit kleinbürgerlichem Lebenszuschnitt, eine breite Mittelschicht und eine verelendete Unterschicht gegenüber.
Im Kaiserreich sind die Institutionen und Organisationen der Arbeiterbewegung außerordentlich rasch erstarkt. Hierfür nur wenige Zahlen:3
Das Vermögen der Freien Gewerkschaften stieg zwischen 1890 und 1914 von 425.845 Mark auf über 88 Millionen. Die Zahl ihrer Mitglieder wuchs im selben Zeitraum von weniger als 300.000 auf über 2,5 Millionen. Viel stärker vergrößerte sich noch der Kreis der festangestellten Funktionäre: Waren es 1900 bei den Zentralverbänden 269 gewesen, so erreichten sie bei Kriegsausbruch die stattliche Zahl von 2.867. 1900 kamen also auf je 10.000 Mitglieder nur 4 hauptamtliche Funktionäre, 1914 dagegen mindestens 11. Die Gesamteinnahmen des Parteivorstandes stiegen von 232.000 Mark 1891/92 auf 1.358.000 Mark 1910/11, das Vermögen von etwa 172.000 Mark 1890 auf etwa 2.335.000 Mark 1913. Die Parteipresse - 1912 gab es 90 Tageszeitungen! - beschäftigte 267 Redakteure, 89 Geschäftsführer, 413 Angestellte als kaufmännisches und Verwaltungspersonal, 2.646 als technisches Personal und 7.589 Zeitungsausträgerinnen; der Literaturumsatz der Buchhandlung Vorwärts belief sich 1911/12 auf 790.000 Mark. Die Partei hatte 1913/14 9.115 Vertreter in Landgemeinden, 2.753 Stadtverordnete, 320 Mitglieder von Gemeindevorständen und Magistraten. Sie verfügte über 231 Landtagsmandate. Als Kuriosum sei erwähnt, daß sie in Schwarzburg-Rudolstadt die absolute Mehrheit im Parlament erringen konnte (9:7). Im Preußischen Abgeordnetenhaus blieb sie eine verschwindende Minderheit (10 von 443 Mandaten). In den Vertretungs- und Verwaltungskörperschaften der Arbeiterversicherung, in den Gewerbe- und Kaufmannsgerichten und den kommunalen Arbeitsnachweisen saßen bereits 1910 fast 100.000 Sozialdemokraten. Die Mitgliederzahl der SPD hatte sich in weniger als einem Jahrzehnt verdreifacht (1906: 384.000; 1914: 1.086.000). Ihre Erfolge bei den Reichstagswahlen sind geradezu sensationell: Stimmten 1871 weniger als 3% aller - natürlich nur männlichen! - Wähler für sie, so waren es 1912 34,8%. Die Zahl ihrer Stimmen vervierzigfachte sich von 1871 (124.655) bis 1912 (4.250.399), die ihrer Mandate wuchs in diesen vier Jahrzehnten noch mehr - von 2 auf 110 (von diesen Abgeordneten waren 36 Gewerkschaftsführer).
Wie breit war nun die soziale Basis der sozialistischen Organisationen?4 Vor 1914 war nur eine Minderheit der Arbeitnehmerschaft gewerkschaftlich organisiert, die Arbeitnehmer der staatlichen Betriebe und Verwaltungen sowie die Landarbeiter überhaupt nicht, die Gemeindearbeiter und Frauen nur schwach. Die Organisation der Angestellten war noch wenig fortgeschritten. Das Schwergewicht der Gewerkschaften lag bei den Arbeitern in Industrie, Handwerk, Handel und Verkehr. Von diesen hatten sich 1907 etwa 24% den freien Gewerkschaften angeschlossen. Am stärksten organisiert waren die gelernten Arbeiter in den Betrieben mit 10 bis 1.000 Arbeitern, d. h. also die der kleinen und mittleren Betriebe. Aber auch innerhalb der eigentlichen gewerblichen Arbeiterklasse waren die mehr handwerklich geprägten, klein- und mittelbetrieblich bestimmten Industriezweige am stärksten durchorganisiert. An der Spitze standen die damals überwiegend konservativen Buchdrucker. Schwächer waren die Gewerkschaften in der Großindustrie, am schwächsten in der Schwerindustrie. Im Bergbau waren sie ohne großen praktischen Einfluß, in der großen Eisen- und Stahlindustrie hatten sie überhaupt noch nicht Fuß fassen können.
Vor dem Ersten Weltkrieg war die SPD aber nicht nur die stärkste Partei in der Zweiten Internationale, die Freien Gewerkschaften die größten Gewerkschaften der Welt (der britische Trade Union Congress hatte 1913 2,2 Millionen Mitglieder, die amerikanische Federation of Labor nicht ganz 2 Millionen). Daneben hatte sich die deutsche Arbeiterbewegung in einer ganzen Reihe von Neben- und Hilfsorganisationen organisiert, die wie ein dichtes Netz die SPD umgaben. Hierfür nur einige ganz wenige Beispiele: 1913/14 wurden 49 Gesellschaftsreisen für Arbeiter veranstaltet; es gab 147 Arbeiterbibliotheken; es fanden 769 Volksvorstellungen und 38 Kindervorstellungen statt. Dieses organisatorische Geflecht reichte in der Tat vom Konsum bis zum Bestattungsverein, vom Kegelklub bis zur Parteihochschule.
Der weitgehenden Verstoßung des Proletariats von oben entsprach eine zeitweilige, mehr oder weniger unfreiwillige »secessio plebis« von unten. In der zerspaltenden, partikularistischen deutschen Gesellschaft lebte das Proletariat im 19. Jahrhundert in der Tat in einem Leerraum. Das Verlangen dieser vom wilhelminischen Obrigkeitsstaat und von der noch halbfeudal-militaristischen Gesellschaft nicht akzeptierten deutschen Industriearbeiterschaft nach einer neuen Heimat fand seine Erfüllung in einer eigenen Welt von Organisationen und Institutionen, in der der Genosse von der Wiege bis zum Grabe (oder bis zum Ausschluß!) zu leben vermochte. Hier konnte sich auch im besten Falle ein Gefühl von Würde und Kraft entfalten, das gelegentlich bis zu einem ausgesprochenen Sendungsbewußtsein reichen konnte. Dieses suchte sich in einem stark fatalistisch-religiös gefärbten Vulgärmarxismus zu artikulieren, wie er gegen Ende des Jahrhunderts herrschend wurde. Wie Peter von Oertzen5 ausführt, nahmen die Arbeiter, soweit sie die marxistische Lehre akzeptierten, sie nicht als Arbeiter, als Produzenten auf, sondern als Mitglieder ihrer Parteiorganisation. Sie bezogen sie also nicht auf ihre konkrete Lage in der Wirtschaft und im Betrieb, sondern auf ihre Tätigkeit als politisch organisierte Parteimitglieder. Die von der SPD erfaßten Massen der Arbeiter hatten aber nur eine begrenzte Möglichkeit der Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung. Der sozialdemokratische Wahlverein operierte ohne Beziehung zu der Wirtschaft und den konkreten sozialistischen Zukunftsaufgaben. Insofern kann man also fast von einer Schizophrenie des klassenbewußten Proletariats sprechen: »Auf der einen Seite stand der berufsstolze, dem Verband unverbrüchlich treue Gewerkschaftsgenosse, auf der anderen Seite das radikal-demokratische, auf das allgemeine Wahlrecht und die politische Aufklärung der Massen vertrauende Parteimitglied«. Während die Gewerkschaften weder über eine ausgesprochene Arbeiterintelligenzschicht noch über eine eigene Theorie verfügten, besaß die Sozialdemokratie beides.
Soweit die Partei an der Entwicklung eines eigenen, neuen sozialistischen Menschentypus arbeitete und sich nicht auf den Ausbau der...
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