Schweitzer Fachinformationen
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Als man ihm sagt, dass alles in Ordnung ist - keine Auffälligkeiten, nichts Besorgniserregendes - für sein Alter tipptopp -, da empfindet er neben der Erleichterung eine insgeheime Enttäuschung. Er hat gehofft, man würde etwas finden. Und auch wenn es ihm kaum bewusst gewesen ist, hat ihm die Hoffnung darauf ein Gefühl von Wichtigkeit gegeben: Man würde etwas finden und entsprechende Maßnahmen ergreifen. Eine Diät etwa. Sport. Drei Tabletten pro Tag. Maßnahmen, auf die er sich gefreut hat und die er trotz Vorfreude darauf zuerst mit einigem Widerstand, dann, sich nach und nach fügend, am Ende eifrig befolgt haben würde. Aber so? Was soll er machen? Man händigt ihm die Befunde aus, er nimmt sie entgegen. Jetzt könnte er darauf zu sprechen kommen, wie schwer es ihm fällt, morgens aufzustehen, aber da hat man ihn bereits aus dem Untersuchungsraum begleitet, zurück ins Wartezimmer, wo er am liebsten bleiben würde. Es ist schön hier. Man hat sich Mühe gegeben. An den Wänden hängen Fotos von Babys in Blumenkelchen, und er würde gerne, sehr gerne davor sitzen bleiben. Sich fragen, wie sie wohl dorthinein geraten sind, die Babys mit ihren Schmetterlingsflügeln, wie die wohl befestigt wurden, an ihren schmalen weißen Rücken. Auch darauf hätte er zu sprechen kommen können, dass er sich immerzu fragt und fragt und fragt, ohne dass sich daraus ein Sinn ergibt, und ob das nicht symptomatisch ist für eine Krankheit, dass er keine Ruhe hat vor den Fragen, gerade morgens nicht, wenn er die Augen aufschlägt, dass dann die Sinnlosigkeit auf seinen Brustkorb drückt. Oder ist das normal? Eine Alterserscheinung? Und es braucht Zeit, die er ja nun hat, bis er sich gewöhnt hat ans Zeithaben? Bei der Garderobe nimmt er seine Jacke vom Haken, sie ist dunkelgrau, fast schon schwarz. In dem Geschäft, wo er sie gekauft hat, sagte man ihm, die Farbe sei von einer zeitlosen Eleganz, sowohl klassisch als auch modern, dazu der Schnitt, von einer Schlichtheit, die stark im Trend liege und dabei gleichzeitig traditionell und - im Grunde nichtssagend ist. Den Gedanken hat er freilich für sich behalten, ebenso wie den, dass es wohl die letzte Jacke war, die er kaufte, das letzte Hemd, die letzten Schuhe. Diese Sachen, dachte er, genügen. Mehr braucht er nicht mehr. Und es hat ihn mit einer Zufriedenheit erfüllt, derart bescheiden zu sein in seinen Ansprüchen für sich selbst, zugleich mit einer Wehmut, an jenem Punkt angelangt zu sein, von dem er immer geglaubt hatte, er befinde sich in weiter Ferne, irgendwann würde er nichts mehr haben wollen. Nun war es so weit. Lächerlich. Jetzt sieht er es ein. Und dass er sich glücklich schätzen sollte, Hauptsache gesund, nicht auf die Uhr schauen, nicht seufzen, die Mundwinkel nach oben ziehen. Fast tut es weh, das Lächeln, mit dem er die Praxis verlässt. Ein leichtes Zucken im Gesicht, so in etwa stellt er sich einen Phantomschmerz vor.
Es war seine Frau, die ihn dazu gedrängt hat, sich einmal von Kopf bis Fuß untersuchen zu lassen. Sie meinte, Vorsicht sei besser als Nachsicht und das schon gar nicht mehr zu ihm hin, sondern an ihm vorbei ins Leere gemurmelt: »Immerhin wäre das eine Beschäftigung.« Das Kränkende daran hat er zuerst nicht hören wollen. Erst etwas später, schon halb im Schlaf, fand er sich ganz zu Unrecht in eine Reihe gestellt mit jenen anderen, die nichts Besseres zu tun hatten, als jeden Monat einmal zum Arzt zu gehen, um dort mit Gleichgesinnten über ihre Wehwehchen zu sprechen und auf diese Art, wenigstens zeitweilig, der den Wehwehchen zugrunde liegenden Einsamkeit zu entfliehen. Er sah sie vor sich. Fröhlich schwatzend über ihre Krankheiten, die, wenn man es genau nahm, gar keine waren, und sie wussten es und hielten dennoch daran fest, an ihrem Stechen und Brennen und Zwicken. »Erbärmlich!« Mit diesem Wort und indem er es gleichsam aus sich herausschleuderte, versuchte er sich von ihnen abzugrenzen, aber sooft er es auch wiederholte mit immer schwächer werdendem Nachdruck - »Erbärmlich! Erbärmlich! Erbärmlich!« -, am Ende schien es ihn miteinzuschließen, und was ihn kränkte, war nicht die Zugehörigkeit, sondern eben die Einsamkeit, die sie voraussetzte. Dass er in seinem Bett lag, daneben die Wand. Er nach einer Bewegung auf der anderen Seite lauschte, aufgrund eines Knarrens genau wusste, seine Frau war noch wach. Er nicht mehr über sie wusste als das. Und dass er sie nicht zu benennen vermochte. Bloß spürte. Die Fremdheit, die zwischen ihnen stand, sie das einzig Vertraute war, was sie miteinander verband.
Und jetzt? Er gibt sich den Anschein, ein Ziel zu haben. Mit großen Schritten geht er los, als ob dort, wohin er geht, jemand warten würde und es von höchster Dringlichkeit wäre, rechtzeitig hinzugelangen. Müßig spazieren zu gehen, einfach so, um des Gehens willen, hat er probiert - kann er nicht. Das Problem dabei sind seine Hände, er weiß nicht, was tun mit ihnen. Wenn er sie in die Jackentaschen steckt - so fühlt er sich wie ein Schüler, der die Schule schwänzt, und wenn er sie an sich herunterbaumeln lässt - so fühlt er sich wie ein davongelaufener Affe, der sich nach seinem Käfig sehnt. Und wozu auch? Spazieren gehen? Seine Frau meint: um die Knochen in Schwung zu halten. Sie schickt ihn jeden Tag vors Haus. Er solle doch eine Runde drehen. Ihr nicht im Weg sein, will sie damit sagen. So gut kennt er sie. Und daher hat er es sich angewöhnt, schließlich gar kein so schlechter Zeitvertreib, bloß dass er nicht spazieren geht, sondern läuft, dieser Unterschied ist ihm wichtig. Wenn er einen Hund hätte! Dann ja! Einen weißen Spitz, der ihn hinter sich herzöge, eine der Vorstellungen, die bewirken, dass er einen Moment lang das Atmen vergisst, so sehr beglückt sie ihn, die Vorstellung von einer straff gespannten Leine. Aber okay, er versteht es ja. Seine Frau hat es ihm begreiflich gemacht: Ein Hund kostet erstens Geld, zweitens hängt man sein Herz an ihn. Kindisch. Drittens: kein Urlaub mehr. Viertens: der Schmutz. Und fünftens: Irgendwann stirbt er, was dann? Worauf er entgegengehalten hat, weil es das Kleinste war, gemessen an Geld, Liebe und Tod, und weil er im Kleinsten, wenigstens da, recht haben wollte, dass sie ohnehin nie in den Urlaub führen, worauf sie gelacht hat, er auch, sie plötzlich stumm geworden ist, er auch, und sie beide für den Rest des Tages in ein ungemütliches Schweigen verfallen sind. Den weißen Spitz hat er danach nicht wieder erwähnt, und er bemüht sich, so selten wie möglich an ihn zu denken. Manchmal passiert es ihm aber, zum Beispiel beim Essen, und seine Frau scheint es zu merken an der Art, wie er nach ein bisschen mehr Salz verlangt. Eigentlich schön: Sie sind ein eingespieltes Team. Er denkt an etwas. Sie merkt es. Er merkt, dass sie es merkt. Und auch wenn keiner von ihnen ein Wort darüber verliert, ist es, als ob sie einander über den Tisch hinweg anschreien würden.
Aber es wartet niemand auf ihn, und es ist egal, ob er zu spät kommt oder nicht. Nach zwei, drei Häuserblöcken, zügig gelaufen, rinnt ihm der Schweiß von der Stirn, und es ist ihm peinlich, sich derart verausgabt zu haben, immerhin müsste er das nicht, er könnte sich irgendwohin setzen, sich zurücklehnen, die Wolken über sich vorbeiziehen lassen, aber auch das - er hat es probiert - kann er nicht. Sein Blick bleibt jedes Mal an den Stromleitungen hängen, wie sie den Himmel zerschneiden, und es ist ein Bild, das ihn traurig macht: die Vögel, die über den zerschnittenen Himmel fliegen. Dann lieber die Peinlichkeit aushalten, stehen zu bleiben und sich mit dem Taschentuch, das er für solche Fälle bereithält, den Schweiß abzuwischen. Er, der gar nicht mehr schwitzen müsste, schwitzt, wie er in all den Jahren, als er noch arbeiten ging, nicht geschwitzt hat, und er nimmt sich vor, diesbezüglich nachzuschlagen, sobald er zu Hause ist. Unter den Stichwörtern »schwitzen« und »Ruhestand« wird er bestimmt etwas finden. Eine hormonelle Störung, die anhand der Blutwerte, die er bei sich trägt, nicht leicht erkennbar ist, und er fragt sich, ob er vielleicht morgen in die Praxis? Das nochmals abklären lassen? Oder lieber gleich in ein größeres Krankenhaus? Einen Spezialisten aufsuchen? Nein, erst einmal forschen, auf eigene Faust, es gibt Dinge, die macht man mit sich selber aus, und solche, die erledigen sich von alleine. Der Sex, unter anderem, gehört dazu. Schwitzend denkt er daran zurück. Das letzte Mal - hat es überhaupt stattgefunden? - ist eine schwache Erinnerung an Haut oder, knapp darüber, an hauchdünnen Stoff. Er ist betrunken gewesen. Schade. Das Mädchen hat ihn gleich nachher rausgeschmissen. Und er erinnert sich, an einem grell beleuchteten Eck gestanden und sich gleichzeitig erbrochen und in die Hose gepinkelt zu haben. Das war kurz vor seiner Pensionierung gewesen. Ein paar Kollegen hatten ihn herausgefordert. Alles Leute, mit denen er nichts mehr zu schaffen hat, von heute auf morgen sind sie untergetaucht. Oder ist er der Untergetauchte, und sie schwimmen oben? Von exakt dem Tag an, als er das Büro verlassen hat, mit einem Rollkoffer voller Zeug, Fotos und Andenken, mit denen er seinen Schreibtisch geschmückt hatte, darunter ein Specht, der, wenn man ihn aufzieht, gegen einen Baumstamm klopft, ist er kein einziges Mal auf die Idee gekommen, sich bei einem von ihnen zu melden.
Die Gesichter sieht er klar vor sich, und auch die dazugehörigen Durchwahlnummern weiß er noch auswendig, aber den Hörer in die Hand nehmen, anrufen und »Hallo« sagen? Womöglich würde man ihn für ein Gespenst halten, und er hat Angst vor der Pause, nachdem er seinen Namen genannt hätte.
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