Schweitzer Fachinformationen
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In den alten Gebäuden brannte nicht ein einziges Licht. Der Kontrollposten zwischen Deutschland und Dänemark in der Nähe von Flensburg war unbesetzt. Man hatte ihm gesagt, er brauche sich keine Sorgen zu machen, dennoch atmete er erleichtert auf. Jetzt in den Abendstunden sah es hier aus wie in einer Geisterstadt. Oder wie in einer kleinen, verlassenen Town im Wilden Westen, in der die allgemeine Gesetzlosigkeit die Einwohner in die Flucht geschlagen hatte.
Aber hier gab es weder Geister noch Cowboys. Es gab nur die EU und so gut wie offene Grenzen. Ein Paradies für Leute wie Doskino und ihn selbst.
Bernandas Mielkos schlug mit beiden Händen ein Trommelsolo auf das Lenkrad. Verließ die Autobahn an der nächsten Ausfahrt und steuerte den Wagen langsam über eine schmale Straße. Bald hatte er den Rastplatz erreicht. Er schaltete das Radio ein. Stieß auf Musik, die seiner Meinung nach weder Melodie noch Rhythmus hatte. Suchte weiter. Hielt inne, als er bekannte Töne hörte. Sang leise und falsch mit: ». All along the waterfall, with you, my brown-eyed girl. You, my brown-eyed girl. Do you remember when we used to sing, shalalala .«
Das Dröhnen eines von hinten nahenden Dieselmotors übertönte sowohl seine eigene Stimme als auch die von Van Morrison. Der Platz um ihn herum wurde in helles Licht getaucht. Bernandas Mielkos sah in den Rückspiegel. Sechs Scheinwerfer blendeten ihn. Zwei viereckige unten und vier runde oben auf dem Führerhaus. Er klappte die Zigarettenschachtel auf und ließ das Fenster etwa drei Zentimeter herunter. Die kalte Dezemberluft kühlte sein Gesicht. Er war vor fast 19 Stunden in Litauen losgefahren und hatte unterwegs nur selten Pause gemacht. Sechs Mal. Sieben, wenn er eine Pinkelpause von einer Minute mitzählte. Er hätte lieber eine lange Pause gemacht, aber der Alte in Vilnius hatte ihm eingeschärft, dass der Wagen nie länger als zehn Minuten am Stück stehen sollte. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Bernandas zündete die Zigarette an. Nahm einen tiefen Zug und spürte die wohltuende Wirkung des Nikotins. Zog noch einmal und beobachtete, wie sich die Glut ein paar Millimeter durch das Papier fraß. Ließ das Fenster noch ein kleines Stück hinunter und blies den Rauch in den kalten Winter.
Die Fahrertür des Lastwagens fiel laut ins Schloss. Bernandas zuckte zusammen. Der andere Fahrer warf einen langen Schatten auf den Boden vor dem Transporter. Bernandas nahm noch einen Zug und versuchte, den anderen im Außenspiegel zu verfolgen. Der Mann verschwand aus seinem Blickfeld. Um ihn durch das andere Fenster sehen zu können, lehnte Bernandas sich auf die Beifahrerseite. Da. Der Mann verschwand zwischen ein paar schneebedeckten Büschen.
Bernandas sah auf die Uhr am Armaturenbrett. Zwölf Minuten nach Mitternacht. Noch waren von seiner Pause ein paar Minuten übrig.
Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, dachte Bernandas. Doskino musste verdammt paranoid sein. Dennoch traute er sich nicht, längere Pausen zu machen. Er konnte nicht ausschließen, dass sie den Wagen mit einem hochmodernen Ortungs- und Abhörsystem ausgestattet hatten. Bernandas musste lächeln. Die Paranoia hatte offensichtlich auch von ihm Besitz ergriffen.
Außerdem hatte man ihm unmissverständlich nahegelegt, dass er bei der Fracht nichts zu suchen hatte. Dass es für ihn das Beste wäre, wenn er sich nur im vorderen Bereich aufhielte und den Laderaum des vier Jahre alten VW Caravelle gar nicht erst betrat. Eine Wand mit einem kleinen Plastikfenster trennte die drei Vordersitze vom Laderaum. Hinter der Scheibe hing eine kleine Gardine, die die Sicht versperrte.
Der Lastwagenfahrer kam zurück. Kletterte ins Führerhaus. Der schwer beladene Laster benötigte den gesamten Rastplatz, um genügend Fahrt aufzunehmen und sich auf der Autobahn in die rechte Spur einzureihen. Er donnerte an Bernandas vorbei, als hätte der Fahrer ihn nicht einmal bemerkt. Als existierte der rote Caravelle nicht.
Bernandas griff in eine Tüte mit Süßigkeiten, die er sich an einer Tankstelle in Flensburg gekauft hatte. Die ersten drei Stückchen waren lecker gewesen, jetzt schmeckten alle gleich, ob salzige Lakritze oder süßes Weingummi. Er hatte die Süßigkeiten ohnehin nur gekauft, um sich noch ein paar Stunden wach zu halten, dazu ein paar Dosen Red Bull. Er nahm einen großen Schluck von dem künstlichen Getränk und aß vier Lakritzstückchen aus der Tüte. Dann schnappte er sich seinen Rucksack, der auf der Beifahrerseite auf dem Boden stand, und stieg aus. Ließ den Blick mehrere Male über den Rastplatz schweifen, um ganz sicherzugehen, dass außer ihm niemand da war. Er öffnete den Rucksack und holte den Schraubenzieher heraus. Montierte die litauischen Schilder ab und ersetzte sie durch schwedische.
Als er sich wieder ans Steuer setzte, war von seiner Pause noch eine Minute übrig. Er ließ den Motor an und fuhr auf die Autobahn. Behielt in ganz Dänemark und hinter Kopenhagen konstant hundertzehn Stundenkilometer bei, bis er den Wagen schließlich in den Tunnel vor der Öresundbrücke lenkte. Er beugte sich vor und stützte sich mit den Unterarmen auf das Lenkrad, um seinen Rücken durchzustrecken. Bremste auf neunzig Stundenkilometer herunter. Im Spiegel sah er ein Auto, das von hinten näher kam. Er knipste das Licht an und klappte die Sonnenblende herunter, in die er ein Foto seiner kleinen Schwester geklebt hatte. So klein war sie im Übrigen gar nicht mehr, zwanzig - vier Jahre jünger als er - und definitiv die Klügere von ihnen beiden. Es machte ihm nichts aus, das zuzugeben, er wusste, dass ihr später einmal alle Türen offenstehen würden. Für ihn selbst galt das nicht. Das einzige Fach, in dem er nicht durchgefallen war, war Sport gewesen. Darin hatte er sogar Bestnoten bekommen. Es war aber keineswegs so, dass Bernandas als Jugendlicher eine überdurchschnittlich gute Konstitution und Ausdauer besessen hätte. Doch nachdem sein Lehrer die ganze Klasse dazu gebracht hatte, ihn auszulachen, weil er die Runde auf dem Sportplatz nicht schnell genug gelaufen war, hatte Bernandas ihm noch am selben Abend mit einem selbst gebastelten Schlagstock einen Besuch abgestattet.
Danach brauchte er am Sportunterricht nicht mehr teilzunehmen.
Bernandas' Blick ruhte weiterhin auf seiner Schwester, doch nun näherte er sich dem Zoll. Er steuerte das Häuschen mit der Nummer sechs an, wo nur zwei Autos vor ihm in der Schlange standen. Er wartete, bis er an der Reihe war, und bezahlte die Mautgebühr für die Brücke nach Schweden in bar. Zum Dank schenkte ihm die Frau vom Zoll ein routiniertes Lächeln. Gleich hinter dem Grenzübergang standen fünf Polizeifahrzeuge und mindestens doppelt so viele Polizisten. Es sah aus, als bereiteten sie sich auf einen Zugriff vor.
Bernandas fluchte. Davor hatte er sich gefürchtet, seit er zu Hause losgefahren war. Und nicht nur da. An jedem Grenzübergang hatte er darüber nachgedacht. Sie hatten ihm gesagt, die Sache sei bombensicher. Er könne unmöglich geschnappt werden. Aber was für ein Schwachsinn war das denn? Natürlich konnte er geschnappt werden.
Die Klimaanlage stand auf dreiundzwanzig Grad, er drehte den Temperaturregler auf sechzehn und stellte die Lüfter so ein, dass ihm die Luft direkt ins Gesicht geblasen wurde. Atmete langsam. Plötzlich kam ihm ein anderer Gedanke: Vielleicht war das hier eine Testfahrt? Vielleicht war in dem Wagen überhaupt nichts versteckt? Vielleicht wollten sie ihn mit der ganzen Tour bloß testen? Ob er in der Lage war, den Job zu machen. Deshalb wollte Doskino auch nicht so recht raus mit der Sprache, was er transportieren sollte und wo das Zeug versteckt war. Und deshalb sollte er selbst auch nicht suchen. Weil er nichts finden würde.
Ein dunkelhaariger Polizist hob die Hand und bedeutete Bernandas anzuhalten. Er knipste eine längliche Taschenlampe an. Das grelle Licht blendete Bernandas durch die Windschutzscheibe. Er hatte das Gefühl, als würden die Süßigkeiten jeden Moment in ihm hochkommen.
Er spähte durch die Frontscheibe. Prüfend. Auf der Suche nach einem Fluchtweg. Die Polizisten schienen nur darauf zu warten, dass er einen Fluchtversuch unternahm. Einen Moment lang erwog er, das Auto rückwärts aus der Warteschlange zu manövrieren und gegen die Fahrtrichtung zurück zur Brücke zu fahren, bis er wieder in Dänemark war - falls er die Fahrt überlebte. Auf dänischem Boden konnten sie ihm nichts anhaben, obwohl sie ihre dänischen Kollegen vermutlich informieren würden. Er warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel. Wo vorhin noch ein Auto hinter ihm gewartet hatte, stand nun ein Lastwagen. Den konnte er nicht so einfach wegschieben wie einen PKW.
Sie waren nicht zufällig da.
Das hier war keine Routinekontrolle, so etwas gab es zwischen Dänemark und Schweden nicht. Die Grenzen waren hier so gut wie offen. Eine Zollkontrolle war eine Sache. Aber eine Polizeikontrolle?
Die Hecktür eines Polizeiautos wurde geöffnet. Ein Hund sprang heraus. Ein Drogenhund. Alles andere ergab keinen Sinn. Sie mussten den Hinweis erhalten haben, dass eine größere Menge Drogen unterwegs nach Schweden war. Und zwar genau an dieser Stelle, in genau diesem Augenblick.
Dann klopfte es dreimal energisch gegen die Scheibe. Er holte tief Luft. Kein Grund zur Panik, sagte er sich. Ganz cool bleiben, bald kannst du weiterfahren.
Er drückte auf den Knopf am Fenster und ließ die Scheibe ganz herunter. Sah den Polizisten fragend an. Unschuldig und glaubwürdig auszusehen, kostete ihn keine einzige Kalorie. Vor einem Richter log er ebenso routiniert wie vor seiner Mutter, und beides hatte er...
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