Schweitzer Fachinformationen
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Ich muss zehn Minuten gehen, um zu meinem Klavierlehrer zu kommen. Er ist eigentlich ganz nett, und es ist ja nicht seine Schuld, dass ich Klavier nicht leiden kann. Das ist natürlich echt blöd für ihn, aber ich kann es nicht ändern. Im September habe ich angefangen. Also vor acht Monaten. Beim letzten Mal hat er zu mir gesagt: »In der Kunst, wie auch bei allem anderen, erreicht man nie etwas Gutes, wenn man sich rückwärts bewegt.« Im ersten Moment war ich total genervt, aber vielleicht wollte er andeuten, dass er weiß, wie ungern ich zu seinen Stunden komme. Außerdem ist er ein alter Mann. Ich weiß nicht, wie alt, aber deutlich älter als mein Großvater. Wenn ich wenigstens was über zeitgenössische Komponisten lernen würde, aber nein! Ich komme in den Genuss des vollen Programms: Chopin, Mozart und so weiter. Na ja, nur noch ein Monat, dann ist es vorbei. Dann bin ich endlich achtzehn.
Komisch, der Obdachlose gegenüber ist immer noch da. Und muss dieses verdammte Türchen jedes Mal quietschen? Das nervt! Es ist, als stiege ich in eine Zeitmaschine, wenn ich den Garten betrete. »Öffnen Sie das Gartentor, und treten Sie ein in die Welt der Dinosaurier!« Gut, das stimmt nicht ganz. Das Haus ist Gründerzeit, so viel steht fest. Aber innen ist es ultramodern. Zweckmäßig, aber gemütlich. Eine Sache fand ich schon beim ersten Mal reichlich albern. An den Wänden hängen Bilder, so als ob er sie sehen könnte. Total verrückt! Ich weiß nicht, ob die Deko extra für seine Besucher gedacht ist. Oder ob einer seiner Freunde die leeren weißen Wände plötzlich nicht mehr aushielt und loszog, um ein paar Landschaften zu besorgen .
Ich klopfe an die Tür, obwohl ich weiß, dass sie immer offen ist. Aber ich will auch nicht, dass er einen Herzinfarkt kriegt. Jedes Mal ruft er: »Hereeeiiin!« Es klingt, als ob er singt. Ich glaube, er freut sich über die Ablenkung. In seinem Alter und mit seiner Behinderung macht er wahrscheinlich nicht mehr allzu oft Party.
»Ich bin es, Monsieur.«
»Ich weiß, dass du es bist, Corentin. Es ist Montag, Punkt siebzehn Uhr. Wie geht es dir?«
»Passt schon«, sage ich, um irgendetwas zu antworten.
Doch dann ärgere ich mich sofort über mich selbst, weil ich so unfreundlich war.
»Na ja, ganz normal«, füge ich daher hinzu.
Wenn ich ehrlich bin, mag ich ihn wirklich gern, diesen Alten. Da er nichts sieht, kann ich einfach ich selbst sein und muss nicht mal lächeln. Ich gehe zum Klavier, doch er bleibt in seinem Sessel sitzen, statt mir zu folgen. Ich warte eine Weile, aber er bewegt sich nicht. Vielleicht hat er einen Schwächeanfall. Könnte ja sein, schließlich hat er die Augen immer zu, sodass das schwer zu erkennen ist.
»Monsieur, ist alles in Ordnung?«
»Heute muss der Unterricht noch ein wenig warten, Corentin. Zieh bitte die Vorhänge zu, aber mach das Licht nicht an! Und dann setz dich!«
Ich stehe vom Klavierhocker auf, schließe die Vorhänge und taste mich wieder zu ihm ins Wohnzimmer zurück. Ich mache das Sofa ausfindig und lege mich der Länge nach darauf. Wahnsinn, was für eine Befreiung, dass mich niemand sehen kann!
»Wenn ich wütend bin und mich so richtig über eine Sache ärgere, für die ich absolut nichts kann, dann . Nun ja, dann höre ich die Pathétique von Beethoven, und heute bin ich wütend. Wenn es dir also nichts ausmacht .
Er drückt die Fernbedienung, und die ersten Akkorde erfüllen den Raum. Am Anfang muss ich fast lachen. Jetzt mal im Ernst: Der Typ ist sauer, er gibt sich Musik aus dem Höhlenzeitalter, und ich finde mich plötzlich im Stockdunkeln wieder, statt auf meinen Tasten zu klimpern. Aber wenn es ihm Spaß macht, dann tue ich ihm den Gefallen. Immerhin geht die Zeit vom Unterricht ab. Erst versuche ich noch, in seine Richtung zu blinzeln, aber ich erkenne sowieso nicht viel, also warte ich einfach, bis es vorbeigeht. Weil ich ja nichts sehe, schließe ich irgendwann die Augen, mein Kopf liegt auf der Armlehne des Sofas, und ich bin gezwungen, seiner Musik zuzuhören. Anfangs bin ich noch nicht bei der Sache, aber irgendwie fängt das Ganze an, mir echt an die Nieren zu gehen. Seine Pathétique zieht mich total runter. Es kommt mir vor, als würde ich meinen eigenen Dämonen zuhören. Als könne ich die Wut über mein jämmerliches Leben, meine Eltern, meine Einsamkeit hören. Am liebsten würde ich weinen, aber plötzlich ist alles still, und ich wage mich nicht zu bewegen. Wir warten, ich weiß nicht, worauf. Aber was hat er denn heute?
»Weißt du, Corentin? Ich bin vielleicht blind, aber ich kann trotzdem hellsehen!«
Ich lache nervös, ohne es verhindern zu können. Warum macht er aber auch so miserable Wortspiele?
»Na, zumindest habe ich dich zum Lachen gebracht, das ist doch immerhin ein Anfang. Die meisten Menschen, die nicht viel mit Blinden zu tun haben, schämen sich, sobald ihnen bewusst wird, dass sie das Wort sehen verwendet haben. Sie brechen peinlich berührt mitten im Satz ab und stammeln eine unbeholfene Entschuldigung. Die Armen! Wenn sie wüssten, wie oft man das Wort sehen jeden Tag verwendet, mich eingeschlossen. Nun ja. Kommen wir zu dir zurück, Corentin. Wann willst du mir endlich die Wahrheit sagen?«
Was soll das denn jetzt schon wieder? Wovon spricht er, um Himmels willen? Ich fühle, wie ich rot werde. Was für ein Blödsinn!
»Denkst du nicht, dass heute ein guter Tag wäre, es mir zu sagen?«
»Was zu sagen?«
Jetzt beunruhigt mich der Alte wirklich. Und dieses Schweigen, das finde ich überhaupt nicht mehr lustig.
»Man muss kein Hellseher sein, um zu merken, dass du die Klavierstunden hasst. So etwas merke ich bei einem Schüler am ersten Tag - ob er sich zwingen muss oder ob es ihm Spaß macht. Und du, Corentin, du zwingst dich seit Monaten.«
Er hat das ohne jede Wertung gesagt. Aber was soll ich darauf antworten? Ich weiß nicht, ob es an der Pathétique im Dunklen liegt, weshalb meine Nerven so in Aufruhr geraten sind, auf jeden Fall kommt es jetzt raus.
»Meine Eltern zwingen mich.«
»Ah, jetzt sprechen wir die gleiche Sprache.«
Erneutes Schweigen.
»Ich vermute, dass die Musik, wie bei allen Jugendlichen deiner Generation, eine wichtige Rolle in deinem Leben spielt. Sie tut dir gut, die Texte sprechen dich an, du identifizierst dich damit. Für mich ist das genauso, nur eben bei der klassischen Musik. Ich nenne sie die große Zauberin. Weißt du, warum? Weil sie in der Lage ist, die unendliche Palette unserer Gefühlszustände auszudrücken. Wahrscheinlich könnte ich dir sogar mein Leben erzählen, ohne Worte, indem ich dir ein Musikstück nach dem anderen vorspiele. Dann könntest du alles nachempfinden, ohne dass ich es dir erkläre.
Lass mal überlegen . Meine Symphonie des Lebens könnte beginnen mit The Cold Song aus der Oper King Arthur von Henry Purcell. Diese Arie drückt meine langen und schmerzlichen Lehrjahre aus, als meine Eltern beschlossen, mich auf ein besonderes Internat in Paris zu schicken. Es herrschte Krieg, und ich war zum ersten Mal weit weg von zu Hause, in einem Internat für junge Blinde. Ich lehnte mich gegen mein Schicksal auf, empfand panische Angst und fühlte mich ausgeliefert. Ich verübelte es meinen Eltern, dass sie mich weggeschickt hatten. Ich dachte, sie wollten mich los sein. Erst im Nachhinein begriff ich, dass sie eine gute Entscheidung getroffen hatten. In diesem Internat lernte ich nicht nur Braille. Ich erfuhr auch, wie man mit unserer Behinderung zurechtkommt und dank eines manuellen Berufs auch selbstständig leben kann. Zum Beispiel als Stuhlmacher oder - bei einem Hang zur Musik wie bei mir - als Klavierstimmer oder Lehrer, in solchen Berufen eben. Anfangs wehrte ich mich gegen meine Situation und lehnte die Musik ab. Jahrelang hatte ich Angst, und die Zukunft bereitete mir geradezu Panik. Ich hasste alle, die sehen konnten und es als gegeben hinnahmen. Warum hatte es ausgerechnet mich getroffen?
Mit der Zeit gewöhnte ich mich allerdings an die Traurigkeit und merkte, dass die Musik ein wichtiger Bestandteil meines Alltags wurde. Ich wandte mich ihr zu, wenn ich traurig war, und spürte, welche Schwingungen ich darin wahrnahm, jeweils abhängig von meiner Stimmung. Erst wurde die Musik eine Verbündete, dann eine Freundin. Sie war immer für mich da. Entweder war sie es, die zu mir sprach, oder ich war es, der mich durch sie ausdrückte. Wir hatten Gespräche, die unterbrochen wurden, wieder aufgenommen, manchmal verändert und dem Augenblick und den Gegebenheiten angepasst. Ich klammerte mich an die Musik wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring, voller Verzweiflung. Doch allmählich verblasste die Angst, und schließlich konnte ich die Musik einfach genießen. Ich verstand, dass sie immer für mich da war. Mehr noch - ich würde immer noch Neues an ihr und somit auch an mir entdecken. Schließlich bin ich kein Abenteurer. Vielmehr erlebe ich meine Abenteuer mit dem Herzen, da ich meine Reisen im Innern unternehme. Was mich zum nächsten Punkt bringt: Du bist du. Du bist nicht ich und auch sonst niemand anders. Keiner kann dich zwingen, Musik zu mögen, noch viel weniger, sie zu erlernen. Du musst selbst entdecken, wofür du geschaffen bist. Hast du das deinen Eltern erklärt?«
»Natürlich!«, platzte es aus mir heraus. »Aber meine Mutter besteht darauf. Ich sage das jetzt nicht, damit Sie sich schlecht fühlen, aber sobald ich achtzehn bin, erkläre ich Ihnen, dass ich mit allem aufhöre.«
»Wann wirst du achtzehn?«
»Nächsten...
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