Schweitzer Fachinformationen
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Der weiße Oleander blüht in Kalifornien im Hochsommer. Dann, wenn die Hitze unerträglich erscheint. Für die zwölfjährige Astrid beginnt zu dieser Zeit eine turbulente und dramatische Odyssee von Pflegefamilie zu Pflegefamilie. Ihre Mutter, eine exzentrische Schriftstellerin, die zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt ist, übt trotz allem einen starken Einfluss auf sie aus. Erst allmählich gelingt es dem sensiblen und klugen Mädchen, einen eigenen Platz im Leben zu finden. Es zeigt sich, dass Astrid so stark wie der weiße Oleander ist, der selbst dann blüht, wenn man ihn immer wieder verpflanzt.
Die heißen Santa-Ana-Winde wehten aus der Wüste herüber und dörrten die letzten Frühlingshalme zu bleichem Stroh. Nur die Oleanderbüsche gediehen, die zarten, giftigen Blüten, die Blätter scharf wie Dolche. In den heißen, trockenen Nächten konnten wir nicht schlafen, meine Mutter und ich. Ich erwachte um Mitternacht und sah, dass ihr Bett leer war. Ich fand sie auf dem Flachdach; ihr blondes Haar leuchtete weiß wie eine Flamme im Licht des Dreiviertelmondes.
»Oleanderzeit«, sagte sie. »Liebende, die sich jetzt gegenseitig umbringen, werden es auf den Wind schieben.« Sie hielt ihre schmale, lange Hand in die Höhe, spreizte die Finger und ließ den trockenen Wüstenwind hindurchwehen. In der Zeit der Santa Anas war meine Mutter nicht sie selbst. Ich war zwölf Jahre alt und hatte Angst um sie. Ich wünschte mir, dass es wieder so wäre wie früher, dass Barry hier wäre, dass der Wind aufhörte zu wehen.
»Du solltest ein bisschen schlafen«, schlug ich ihr vor.
»Ich schlafe nie«, sagte sie.
Ich setzte mich neben sie, und wir blickten auf die Stadt hinunter, die wie ein Computerchip in einer rätselhaften Maschine summte und glitzerte und ihr Geheimnis wie ein Pokerspieler vor uns verbarg. Der Saum ihres weißen Kimonos flatterte im Wind, und ich konnte ihre Brust sehen, tief und voll. Ihre Schönheit war wie die Schneide eines sehr scharfen Messers.
Ich legte den Kopf auf ihr Bein. Sie roch nach Veilchen. »Wir sind die Stäbe«, sagte sie. »Wir streben nach Schönheit und Harmonie. Wir suchen das Sinnliche, nicht das Sentimentale.«
»Die Stäbe«, wiederholte ich. Sie sollte wissen, dass ich ihr zuhörte.
Unsere Tarotfarbe, die Stäbe. Sie legte mir immer die Karten und erklärte ihre Farben – Stäbe und Münzen, Kelche und Schwerter –, doch sie hatte aufgehört, sie zu deuten. Sie wollte nichts mehr über die Zukunft wissen.
»Wir haben unsere Farbe von den Nordländern«, sagte sie. »Haarige Wilde, die ihre Götter in Stücke hackten und das Fleisch an den Bäumen aufhängten. Wir sind diejenigen, die Rom geplündert haben. Fürchte nur die Schwäche des Alters und den Tod im Bett. Vergiss nie, wer du bist.«
»Ich verspreche es«, sagte ich.
Unter uns in den Straßen Hollywoods heulten die Sirenen und sägten an meinen gespannten Nerven. Während der Santa-Ana-Winde brannten die Eukalyptusbäume wie riesige Kerzen, ölfette Chaparral-Hänge gingen plötzlich in Flammen auf und trieben halbverhungerte Kojoten und Hirsche bis hinunter zur Franklin Avenue.
Sie hob ihr Gesicht zum angesengten Mond empor und tauchte es in seinen finsteren Schein. »Rabenaugenmond.«
»Käsecräckermond«, erwiderte ich, den Kopf auf ihr Knie gelegt.
Sie strich mir sanft über das Haar. »Verrätermond.«
Diese Verletzung – dieser Wahnsinn – wäre im Frühjahr gar nicht vorstellbar gewesen, doch sie hatte vor uns gelegen wie eine verborgene Landmine. Damals hatten wir den Namen Barry Kolker noch nicht einmal gehört.
Barry. Als er auftauchte, war er so klein gewesen. Kleiner als ein Komma, unbedeutend wie ein Hüsteln. Irgendjemand, den sie mal auf einer ihrer Lesungen getroffen hatte. Es war im Garten eines Weinlokals in Venice gewesen. Wie bei all ihren Lesungen trug meine Mutter Weiß; ihr Haar hob sich wie Neuschnee von ihrer leicht gebräunten Haut ab. Sie stand im Schatten eines gewaltigen Feigenbaumes, der seine Blätter wie Hände über sie streckte. Ich saß an einem Tisch hinter den Bücherstapeln, die ich nach der Lesung verkaufen sollte, dünne Bände, die bei der Blue Shoe Press in Austin, Texas, erschienen waren. Ich zeichnete die Hände des Baumes und die Bienen, die das Fallobst umschwärmten, die gegorenen Früchte aussaugten und berauscht zu Boden taumelten, wenn sie versuchten, wieder wegzufliegen. Ihre Stimme machte mich betrunken, tief, sonnengewärmt, mit der Spur eines fremdartigen Akzents; schwedischer Singsang, der noch eine Generation später nachklang. Wer sie einmal gehört hatte, kannte die Macht dieser hypnotisierenden Stimme.
Nach der Lesung umdrängten die Leute uns und gaben mir Geld für die Zigarrenkiste, während meine Mutter einige Bücher signierte. »Ach – das Dichterleben!«, sagte sie ironisch, als mir die Leute ihre zerknitterten Ein- und Fünf-Dollar-Scheine in die Hand drückten. Doch sie liebte Lesungen, genauso wie sie die langen Abende liebte, an denen sie mit ihren Schriftstellerfreunden bei einem Glas Wein und einem Joint bekanntere Dichter in der Luft zerriss. Gleichzeitig hasste sie sie aber auch, ebenso wie sie ihre geistlose Arbeit bei der Zeitschrift Cinema Scene hasste. Dort machte sie den Klebeumbruch und montierte Artikel, deren Verfasser fünfzig Cent pro Wort für das Auskotzen ihrer schamlosen Klischees, abgedroschenen Substantive und lustlosen Verben verdienten, während meine Mutter sich stundenlang mit der Frage quälen konnte, ob sie nun »ein« oder »der« schreiben sollte.
Beim Signieren ihrer Bücher hatte sie ihr übliches halbes Lächeln aufgesetzt, eher innerlich als äußerlich, so als mache sie sich im Stillen über die Leute lustig, wenn sie ihnen für ihr Kommen dankte. Ich wusste, dass sie auf einen ganz bestimmten Mann wartete; ich hatte ihn schon entdeckt: ein scheuer Blonder, der ein ärmelloses T-Shirt und eine Holzperlenkette im Ethnolook trug. Er hielt sich im Hintergrund und betrachtete sie hilflos, völlig von ihr gefangen. Nicht umsonst war ich zwölf Jahre lang Ingrids Tochter gewesen; inzwischen konnte ich diese Typen im Schlaf ausmachen.
Ein stämmiger Mann, der sein dunkles Haar zu einem lockigen Pferdeschwanz zurückgebunden hatte, drängte sich vor und schob ihr sein Buch hin, um es signieren zu lassen. »Barry Kolker. Mir gefällt deine Arbeit«, sagte er. Sie signierte sein Buch und gab es ihm zurück, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. »Was hast du nach der Lesung vor?«
»Ich bin verabredet«, erwiderte sie und griff nach dem nächsten Buch.
»Dann danach«, sagte er. Mir gefiel sein Selbstvertrauen, aber er war nicht ihr Typ. Er war untersetzt, dunkel und trug einen Anzug, der aussah, als sei er aus einer Sammlung der Heilsarmee.
Sie wollte natürlich den schüchternen Blonden, der erheblich jünger war als sie und ebenfalls dichterische Ambitionen hatte. Er war es auch, der uns schließlich nach Hause begleitete.
Ich lag auf meiner Matratze auf dem überdachten Balkon hinter den Fliegengittern und wartete darauf, dass er ging. Ich sah, wie das Blau des Abends sich in ein samtenes Indigo verwandelte, das wie eine unausgesprochene Hoffnung verweilte, während meine Mutter und der blonde Mann auf der anderen Seite der Fliegengittertür murmelten. Es duftete nach Aromaöl, eine ganz besondere Sorte, die sie in Little Tokyo gekauft hatte, ein teures Öl ohne irgendwelche Süße; es roch nach Holz und grünem Tee. Eine Hand voll Sterne erschien am Himmel, doch in L.A. konnte man keines der Sternbilder richtig sehen, deshalb verband ich sie zu neuen Konstellationen: die Spinne, die Welle, die Gitarre.
Als er weg war, traute ich mich wieder in das große Zimmer. Sie saß im Schneidersitz auf dem Bett, in ihren weißen Kimono gehüllt, und schrieb mit einem Füllfederhalter, den sie immer wieder in ein Tintenfass tauchte, in ein Notizheft. »Erlaube einem Mann niemals, über Nacht zu bleiben«, sagte sie zu mir. »Das Morgengrauen lässt die Magie der Nacht schal erscheinen.«
Die Magie der Nacht, das klang wunderbar. Eines Tages würde ich auch Liebhaber finden und hinterher ein Gedicht schreiben. Ich betrachtete den weißen Oleander, mit dem sie an diesem Morgen den Couchtisch dekoriert hatte: drei Blütenstände, die den Himmel, die Menschen und die Erde verkörpern sollten. Ich dachte an die Musik ihrer Stimmen in der Dunkelheit, an ihr leises Lachen, an den Geruch des Aromaöls. Ich berührte die Blumen. Himmel, Mensch. Ich hatte das Gefühl, kurz vor der Enthüllung eines wichtigen Geheimnisses zu stehen. Etwas hatte mich umgeben wie ein Mullverband, und ich begann ihn abzuwickeln.
Den ganzen Sommer lang ging ich mit ihr in die Redaktion. Sie plante nie weit genug voraus, um mich für eine Jugendfreizeit anzumelden, und von der Möglichkeit eines Sommerkurses erzählte ich ihr nichts. Die Schule selbst machte mir Spaß, doch es fiel mir schwer, mich als ein Mädchen zwischen vielen anderen einzufügen. Die Mädchen in meinem Alter schienen einer ganz anderen Spezies anzugehören; ihre Belange kamen mir so fremdartig vor wie die des Dogon-Stammes in Mali. Die siebte Klasse war besonders quälend gewesen, und ich erwartete sehnsüchtig den Moment, in dem ich wieder mit meiner Mutter zusammen sein konnte. Die Layout-Abteilung von Cinema Scene mit ihren Filzschreibern, einem Drehkarussell von vielfarbigen Buntstiften, mit Papierbögen in Tischgröße, Zurichtebogen, Kleberastern und Klebestreifen, mit ausrangierten Überschriften und Fotos, die ich aufkleben und zu Collagen verarbeiten konnte, war ein Paradies für mich. Es gefiel mir, wie die Erwachsenen sich unterhielten; sie vergaßen immer, dass ich da war, und erzählten sich die merkwürdigsten Dinge. In diesem Sommer tratschten die Redakteure und Marlene, Art Director der Zeitschrift, über die Affäre zwischen dem Verleger und der Chefredakteurin des Magazins. »Ein ziemlich bizarrer Auswuchs von Santa-Ana-Fieber«, kommentierte meine Mutter vom Montagetisch. »Die spitzschnabelige Magersüchtige und der toupierte Chihuahua. Das ist mehr als grotesk! Ihre Kinder wüssten wahrscheinlich gar nicht, ob sie Körner picken oder bellen sollten.«
Sie lachten. Meine Mutter sprach immer aus, was die anderen nur dachten.
Ich saß an dem leeren Zeichentisch, der neben dem meiner Mutter stand, und zeichnete die...
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