Schweitzer Fachinformationen
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Meine Mutterlosigkeit ist wie eine Zahnlücke: Ich spüre sie ständig, aber ich kann sie verbergen, solange ich den Mund halte. Also rede ich nur selten über meine Mutter.
Es ist ein trauriges Detail, mit dem ich in meine unglaubliche kleine Geschichte einsteige, aber bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe mein Leben. Ich bin eine ziemlich normale Frau von Mitte dreißig, ich habe zwei Töchter und einen Mann namens Eddie, der gerade eine Ausbildung zum Pfarrer macht. Er scheint davon auszugehen, dass ich die perfekte Pfarrersfrau abgeben werde, aber ich weiß noch nicht so recht, ob ich der Herausforderung gewachsen bin. Im Vergleich zu meinem Mann bin ich eher rational veranlagt, gehe die Dinge lieber von der wissenschaftlichen Seite her an. Andererseits müsste ich nach allem, was ich in letzter Zeit erlebt habe, eigentlich alles für möglich halten.
Eddie behauptet, ich hätte sämtliche notwendigen Eigenschaften für eine Pfarrersfrau, und ich muss zugeben, dass ich mich für einen guten Menschen halte. Zum Beispiel können Sie mir alles anvertrauen, ich werde mir kein Urteil erlauben, und falls ich mich doch mal über etwas wundern sollte, lasse ich es mir nicht anmerken. Ich bin Eddie gegenüber immer ehrlich gewesen, das war von Anfang an klar zwischen uns: keine Lügen.
Bis jetzt.
Jetzt bin ich eine Lügnerin. Jetzt bin ich eine Diebin.
Und ich kann nicht einmal mehr guten Gewissens behaupten, ich sei normal. Aber das sollen Sie selbst beurteilen. Meinen Mann anzulügen, macht mich ganz krank, und ich will unbedingt damit aufhören, aber Lügen sind wie Zehen - sie treten nie einzeln auf. Das Schlimmste ist, dass ich angefangen habe, meine Mutter zu besuchen, und diese Tatsache verheimliche; und als mein Mann wissen wollte, woher all die blauen Flecken und Schrammen an meinem Körper stammen, habe ich auch gelogen. So viele Lügen. Wenn ich Eddie die Wahrheit sagen würde, dann würde er, lieb, wie er ist, versuchen, mich zu verstehen. Aber logisch betrachtet ist es wahrscheinlicher, dass er mich für verrückt hält.
Vielleicht tue ich ihm ja auch unrecht, denn er liebt und braucht mich genauso, wie ich ihn liebe und brauche, und im Lauf der letzten Monate ist mir etwas Wichtiges klar geworden. Ich kann Eddie nicht sagen, was los ist, so gern ich es auch täte. Nicht, weil er mir nicht glauben würde, sondern weil er mir tatsächlich glauben könnte.
Und wenn das passiert und Eddie mir glaubt, wird er versuchen, mich aufzuhalten.
Aber lassen Sie mich zum Anfang zurückgehen. Wenn ich nur wüsste, wo genau der Anfang ist. Die Zeit ist nicht so leicht zu verstehen, wie ich es einmal geglaubt habe.
Begonnen hat es mit dem Foto und dem Karton. Ach je, ich schreibe begonnen, wobei wir wieder beim Anfang wären. Okay, wir machen es anders. Über das Thema »Anfang« und das, was das wirklich bedeutet, könnte ich ins Philosophieren geraten, aber darauf möchte ich jetzt nicht eingehen. Und da Sie ja, was die Situation betrifft, noch gar nicht im Bilde sind, schlage ich vor, dass wir das Thema vorerst beiseitelassen (es wird wieder auftauchen, das verspreche ich Ihnen). Sagen wir einfach so: Es ist das Vernünftigste, die Geschichte mit dem Foto zu beginnen.
Es ist ein Foto, wie es unzählige Menschen besitzen. Man findet es in einem Buch, das man seit Jahren nicht mehr aufgeschlagen hat, oder es fällt aus einem alten Album, weil die Fotoecken nicht mehr haften. Ich wette, bei Ihnen findet sich auch so ein Foto in irgendeinem alten Schuhkarton, versteckt zwischen anderen Überresten Ihres Lebens wie Liebesbriefen, Postkarten und Tauffotos von unbekannten Säuglingen. Mein Foto ist aus einem Kochbuch herausgefallen, das keine Bilder enthält, dafür aber Fettflecken auf den Seiten mit den Lieblingsrezepten, schokoladige Fingerabdrücke und handgeschriebene Notizen. Meine Mutter, der das Kochbuch einmal gehörte, war eine leidenschaftliche Naschkatze; die am schlimmsten beschmierten Seiten sind die mit den Rezepten für Brownies und für Sticky-Toffee-Pudding.
Auf dem Foto bin ich zu sehen. Auf der Rückseite steht »Faye, Weihnachten 1977«. Ich habe das Foto umgedreht, und die sechsjährige Faye von vor dreißig Jahren strahlte mich an. Rosige Wangen, braune Augen, wilde Locken. Auf dem Foto hocke ich in einem Karton, in dem sich ein Hüpfball befunden hatte, und sehe aus wie eine Puppe, die am Weihnachtsmorgen aus ihrer Geschenkverpackung steigt. Ich trage einen ziemlich flauschigen rosa Bademantel mit einem kleinen, runden Kragen, und der Weihnachtsbaum hinter mir ist mit bunten Lichtern und Lametta geschmückt. Ich sehe total glücklich aus. Was sonst? Ich bin ein Kind, es ist Weihnachten, und meine Mutter machte ein Foto von mir. Es war bestimmt ein vollkommen sorgloser Tag. Meine Mutter, an die ich kaum Erinnerungen habe, wird die Liebe im Blick ihrer kleinen Tochter genossen haben. Meine Liebe. Ich habe genauer hingeschaut, versucht, hinter das Offensichtliche zu blicken, mehr zu sehen, als das Foto mir zeigen konnte.
Ich arbeite bei RNIB, einer gemeinnützigen Organisation für Blinde, wo ich Produkte für Menschen entwickle, die entweder stark sehbehindert oder blind sind. Vor einem Jahr habe ich zum Thema Hightech-Kameras recherchiert. Ein Blinder, mit dem ich zusammenarbeite - mein Freund Louis -, beteiligte sich lebhaft an den Diskussionen über Kameras der Zukunft und was sie würden leisten können. Sein größter Wunsch war es, ein Foto in die Hände nehmen und ertasten zu können, was darauf abgebildet war, und zwar nicht nur das, was man sehen konnte, sondern auch, was hinter dem Bild lag. Er sagte, er wollte den Leuten auf den Fotos einen Arm um die Schultern legen, und er war sich ganz sicher, dass das eines Tages möglich sein würde. Er ist von Geburt an blind, und ich glaube, er vermutet, dass Sehende schon jetzt mehr auf Fotos erkennen, als tatsächlich möglich ist.
Aber ich verstehe, was er meint, denn wenn ich das Foto von mir vor dem Weihnachtsbaum betrachte, möchte ich am liebsten hineingreifen und das Gesicht meiner Mutter berühren. Sie ist auf dem Bild nicht zu erkennen, und doch ist sie da. Ich verspüre den verzweifelten Wunsch, sie zu sehen und anzufassen, in das Bild zu steigen und ein paar Minuten mit ihr unter dem Weihnachtsbaum zu verbringen.
Jetzt wissen Sie also, dass ich meine Mutter schon vor langer Zeit verloren habe. Ich erwähnte bereits, dass ich angefangen habe, sie zu besuchen, und dass Eddie, wenn er davon wüsste, versuchen würde, mich davon abzuhalten. Und Sie werden sich denken können, dass Eddie, würde ich meine Mutter auf dem Friedhof besuchen, kein Problem damit hätte. Bitte, wenden Sie sich nicht von mir ab, wenn ich Ihnen erzähle, was ich neuerdings tue. Versetzen Sie sich in meine Situation und stellen Sie sich vor, Sie würden Ihrem Lebensgefährten, Ihrem Chef oder Ihrer besten Freundin von so etwas erzählen. Ich glaube, Sie würden ebenfalls lügen, denn wenn Sie behaupteten, Sie sagten die Wahrheit, würden Sie in der Klapsmühle landen.
Kann es sein, dass Sie verächtlich schnauben oder mitfühlend lächeln? Oder dass Sie sich zurückziehen und hinter sich nach der Türklinke tasten? Ich möchte nicht, dass Sie das tun. Ich möchte, dass Sie mir mit ernster Miene in die Augen sehen und sagen: »Weiter!« Und wenn Sie das tun, dann erzähle ich Ihnen meine Geschichte zu Ende.
Ich besuche meine Mutter, die gestorben ist, als ich acht Jahre alt war, und ich rede nicht vom Friedhof, ich rede von Besuchen, bei denen wir uns bei Tee und Keksen persönlich gegenübersitzen.
So, jetzt ist es heraus. Wenn Sie nicht mehr weiterlesen wollen, habe ich Verständnis dafür.
Die Menschen, die mir am meisten bedeuten, sind Esther und Evie. Dann kommt Eddie. Aber es ist nicht ganz so einfach, denn da sind auch noch Cassie und Clem, meine besten Freundinnen, die für mich wie Schwestern sind, die ich nie hatte. Aber wenn ich mir selbst Schwestern erschaffen oder aussuchen hätte können, dann wären sie es geworden. Einmal, es muss nach zwei Uhr nachts gewesen sein, redeten wir drei darüber, wem wir den letzten Rettungsring zuwerfen würden, wenn wir uns auf einem sinkenden Schiff befänden und alle anderen, einschließlich unserer Kinder, im Wasser wären. Als ich mit meiner Antwort zögerte, bekam ich nicht nur Schimpfwörter an den Kopf, sondern auch ein Kissen ins Gesicht geworfen. Ein natürlicher Impuls wäre es, einem meiner Kinder den Rettungsring zuzuwerfen, aber ich dachte, Rette denjenigen, der deine Lieben rettet. Also sagte ich: Eddie. »Und was ist mit uns?«, jammerte Clem, und dann wollte sie wissen, wem ich den Rettungsring zuwerfen würde, wenn nur sie und Cassie im Wasser wären. Und das war wirklich eine noch viel schwierigere Frage. Wenn man ohne Familie aufwächst und dann am College Mädchen wie Cassie und Clem kennenlernt, dann hat man auf einmal eine Familie.
Mein Leben bestand aus meinen Töchtern, Eddie, unseren Freunden, Arbeit und Haushalt. Das war so ziemlich alles, und es lief rund. Aber dann ist diese Sache passiert, die alles in Mitleidenschaft gezogen hat. Mein Fokus hatte sich verändert, und das Leben war plötzlich nicht mehr einfach.
Seit ich das Foto gefunden habe, steckt es immer in meiner Brieftasche, als wäre es ein Glücksbringer. Ich habe zwar Angst, es zu verlieren, aber ich muss es unbedingt bei mir haben. Noch nie in meinem Leben habe ich so viel und so intensiv an meine Mutter gedacht und daran, was mir alles entgangen ist. Und wenn ich meine Kinder anschaue, denke ich, wie viel ihr entgangen ist. Als ich so alt war, wie meine Töchter jetzt sind, war sie schon tot.
In meiner frühen...
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