Schweitzer Fachinformationen
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Der Arno und Tirol, das ist nach wie vor keine richtige Liebesgeschichte. Ja, er ist dort aufgewachsen, hat seine Polizeiausbildung dort gemacht, sich seine ersten Sporen in einer Inspektion am Achensee verdient und anschließend den Aufbaulehrgang zum dienstführenden Beamten im Ausbildungszentrum Absam-Wiesenhof absolviert. Als Jahrgangsbester hätte er sogar zwischen mehreren Tiroler Ortschaften wählen können, in denen er die Wache zukünftig geleitet hätte. Aber was tut er? Bleibt zuerst der Liebe wegen als einfacher Polizist am Achensee - und lässt sich dann nach Wien versetzen, als aus der Liebe doch nix wird. Seit damals spielt sein Schicksal verrückt. Und irgendwie schaut's so aus, als hätte dieses Schicksal einen Spaß daran, ihn immer wieder nach Tirol zu führen.
Klar, daheim ist daheim, aber wenn man in diesem Daheim nur noch Negatives erlebt - Strafarbeiten, Mord und Totschlag und enttäuschte Lieben obendrein -, dann kann man auch an seinem alten Zuhause die Lust verlieren. Zumal er mit der Weltstadt Wien eine gute, nein: die beste Alternative hat, jedenfalls was die Lebensqualität betrifft. Außerdem eignet sich die Umgebung von Wien viel besser fürs Triathlontraining als die zerklüfteten Alpen. Und es tut ihm ja selber leid, dass er sich so wenig bei der Mama und den anderen Verwandten und Bekannten blicken lässt - eher noch besuchen sie ihn hier in Wien als umgekehrt -, doch wenn er um Tirol einen Bogen machen kann, dann macht er den auch.
Trotzdem packt der Arno am Vormittag seine Sachen. Wie erwartet war's überhaupt kein Problem, spontan zwei Tage Urlaub zu nehmen. »Gehen S' nur, gehen S' nur, die nächste Woche gerne auch noch!«, hat der Herr Major ihn fast angebettelt und ihm damit wieder einmal vor Augen geführt, wie leicht das Bundeskriminalamt auf seine Dienste verzichten kann. Jaja.
Als er so vor seinem Kleiderschrank steht, versucht er, nicht an die Albträume aus der vergangenen Nacht zu denken. Erdlawinen, sintflutartige Regenfälle, brütende Hitze, Moskitoschwärme und andere biblische Qualen haben ihn heimgesucht und an seine ersten beiden Tirol-Einsätze erinnert: im Kitzlingtal, auf der Suche nach einem verschwundenen Bürgermeister, ein anderes Mal am idyllischen Lärchensee, wo er einen ganz und gar unidyllischen Kriminalfall zu lösen hatte. Hüben wie drüben ist er Menschen mit merkwürdigen, für Außenstehende scheinbar frei erfundenen Dialekten voller krachender Ks begegnet, und wäre nicht der eine oder andere Mensch darunter gewesen, zu dem sich der Arno durchaus hingezogen gefühlt hat - hier die Eva, dort die Laura -, wäre das Resümee noch trister ausgefallen.
»Eisfestival . Maria Schnee«, murmelt er lustlos vor sich hin. Schon bei den Namen wird ihm zu kalt. Aber er hat ja überhaupt nicht vor, sich groß im Freien aufzuhalten, sondern will hauptsächlich im Hotelschwimmbad seine Bahnen ziehen. Okay, beim Startschuss des Festivals wird er der Mama zuliebe dabei sein müssen, samt Sekt und Häppchen und Stars und Sternchen in irgendeinem blöden VIP-Zelt, aber danach hat er hoffentlich seine Ruhe. Denn wenn die Mama erst einmal ihre persönliche Hemmschwelle überschritten hat, findet sie meistens auch schnell neue Freunde.
Aus praktischen Gründen entscheidet er sich für die kleine Reisetasche, in die er seinen Not-Anorak packt, der sich auf Trinkflaschengröße komprimieren lässt. Waschzeug, zwei Garnituren Unterwäsche, eine Ersatzjeans, die langen Laufsachen, vor allem aber seine Schwimmutensilien - Badehosen, Brillen, Hauben -, und natürlich die wasserdichte Sportuhr, mit der er seinen Trainingsfortschritt messen kann. Mit den Laufschuhen ist seine Tasche auch schon voll - für alles andere ist in diesem Vier-Sterne-plus-Hotel bestimmt gesorgt.
Bleibt noch zu klären, wie er nach Tirol kommen soll. Fliegen scheidet aus, nicht nur wegen der Umwelt, sondern auch vom Geld her gesehen. Auto hat der Arno keines mehr, seit er in Wien ist. Eine Vespa schon, und das Wetter in Tirol ließe fast an die eine oder andere frühlingshafte Motorradtour denken. Aber erstens hat er keine Zeit für eine lange Anreise, weil er ja schwimmen muss, und zweitens steht die Vespa schon so lange unbenutzt in der Garage herum, dass die erst einmal eine neue Batterie braucht.
Fährt er eben mit der Bahn.
Am späten Vormittag steigt er am Bahnhof Meidling in den Railjet Xpress. Man kann über Österreich ja vieles behaupten, aber nicht, dass seine Bundesbahnen nicht erstklassig wären, selbst in der zweiten Klasse, in der der Arno sitzt. Saubere Waggons, freundliches Personal und flächendeckendes Gratisinternet - ein Wunder, was sich da aus der Asche der ehemals kaiserlich-königlichen Staatsbahnen erhoben hat. Pünktlich noch dazu.
Die ersten zwei Stunden surft der Arno im Internet herum, weil draußen dicker Nebel herrscht und ihm nix Besseres einfällt, um sich seine Zeit zu vertreiben. So kommt er unter anderem drauf, dass dieses Maria Schnee eine ziemliche Mogelpackung zu sein scheint, jedenfalls den Ortsnamen betreffend. Denn obwohl's dort bestimmt die eine oder andere Maria geben dürfte, sucht man den Schnee in Maria Schnee schon lange vergeblich. Der einzige Skilift im Ort ist vor ein paar Jahren abgebaut und verschrottet worden. Die Touristen, die sich noch nach Maria Schnee verirren - bestimmt vor allem des Namens wegen -, müssen per Shuttlebus in ein zwanzig Kilometer entferntes Gletscherskigebiet gekarrt werden, was sich in mancher Bewertung des Vier-Sterne-plus-Hotels Bergkristall niedergeschlagen hat. Schnee? Fehlanzeige! . Alle Knospen blüh'n im Februar . Grüne Wiesen statt Pistenspaß . Tägliche Expedition ins Skigebiet - und so weiter. Als könnte das Hotel irgendwas für das Ausbleiben des weißen Golds.
Dass Maria Schnee noch weniger Schnee abbekommt als die Gegend ohnehin schon, liegt angeblich an irgendeinem mikroklimatischen Phänomen. Der Ort bilde, so das Internet, eine meteorologisch ungünstige Insel zwischen Gebirgsstaulagen, die seit der Veränderung der globalen Windsysteme anders angeströmt werden - aber egal, aus welcher Richtung die Winde auch strömen mögen, an Maria Schnee strömen sie vorbei. Stichwort Klimawandel. Bestimmt hilft's nicht unbedingt, dass der Ort nur knapp siebenhundert Meter über dem Meeresspiegel liegt. Da braucht's dann auch kein mikroklimatisches Phänomen mehr, um demnächst die Zitronenbäume im Vorgarten pflanzen zu können.
Der Arno überlegt, ob er der Franzi was texten soll - da trifft ihn der erste Sonnenstrahl seit Tagen, irgendwo kurz nach Salzburg. Er schaut hinaus über die sanften Hügel hin zu den hohen Bergen, von denen nur die obersten Spitzen angezuckert sind. Trotz der fehlenden Winterstimmung kann er seinen Blick kaum von der Landschaft reißen. Der viele Nebel im Osten Österreichs schlägt ihm mehr aufs Gemüt, als er sich eingestehen möchte. Dort scheint im Winter das Grau in Grau kein Ende nehmen zu wollen, während im Westen die Sonne viel öfter scheint. Fast möchte man glauben, der Frühling sei schon da. Bald werden überall die Kühe und die Schafe auf den Wiesen stehen, die Laubbäume werden der Welt ihre frischen Blätter entgegenrecken, und alles wird leben und sich lieben und neues Leben hervorbringen, umringt von steilen Felsen, die .
»Einen Kaffee, der Herr?«, fragt die Zugbegleiterin und reißt ihn aus seiner ungeplanten Verzückung.
»Nein, nein, danke«, sagt er wie meistens, wenn er etwas angeboten bekommt - und überlegt erst hinterher. Da ist die Zugbegleiterin schon längst wieder weiter.
Knapp nach Kufstein, in Wörgl nämlich, steigt der Arno aus und wartet wie einige andere auch auf den Regionalexpress. Er kann's kaum glauben, welche Kraft die Sonnenstrahlen schon haben, als er auf dem Bahnsteig steht und auf seinen Anschlusszug wartet. Wie zum Beweis schlurft ein kurzärmliger Skifahrer an ihm vorbei, die Skischuhe über die eine Schulter gehängt, Ski und Stöcke auf der anderen, die Jacke um die Hüfte gebunden. »Tach«, gibt er sich als Deutscher zu erkennen. Der Arno würde ihn am liebsten fragen, ob er auch nach Maria Schnee will, des Schnees wegen vielleicht, aber Schadenfreude gibt nur schlechtes Karma. Also nickt er dem Mann freundlich zu und schaut dann auf seine Uhr, die gerade vibriert hat.
Eine SMS von der Mama. Bin da. Warte vorm Hotel. Hier ist's schon ganz eisig ;-) Wann kommst du? Bussi, Mama
Der Arno rümpft die Nase. Eisig. Kann er sich beim besten Willen nicht vorstellen, und so weit ist's nicht mehr bis Maria Schnee, als dass irgendein meteorologisches Mikroklimaphänomen den Ort auf Eistemperatur herunterkühlen könnte.
Er holt sein Handy heraus und tippt zur Antwort: Zug fährt gleich. Zwanzig Minuten max., geh schon vor! Bussi, Arno
Ehe er das Gerät wieder einstecken kann, schickt ihm die Mama drei gereckte Daumen, gefolgt von Ich wart - und da kommt auch schon der Zug.
Als der Arno in Maria Schnee aussteigt, glaubt er fast, er sieht nicht recht. Als hätte der Zug irgendwo auf den letzten Kilometern das Tor zu einer Paralleldimension durchstoßen, ist hier tatsächlich alles eisig - genau wie's...
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