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Jetzt heißt's ja so schön, die Zeit heilt alle Wunden, und wenn du glaubst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her. So ein Schmarrn. Arnos Laune ist und bleibt im Keller, und weder die Zeit noch irgendein blödes Lichtlein könnten auch nur ein winziges bissl dran ändern.
Er sitzt seit Stunden auf seiner hellblauen Dreihunderter-Vespa und braust quer durchs ganze Land. Das Wetter ist herrlich, die Landschaft beeindruckend, die Straßen frei, aber der Arno ist immer noch am Boden zerstört. Dabei gibt's ja normalerweise gar kein besseres Anti-Krisenmittel als seinen Roller. Wenn alles nichts mehr hilft, wenn die ganze Welt über ihm einzustürzen droht, dann setzt er sich drauf und ein paar Kurven später sind normalerweise alle Sorgen vergessen. Also hat er sich gedacht: Wenn der Wiesinger ihm schon die Anreise nach eigenem Ermessen gestattet, dann wird er die 600 Kilometer nach Tirol eben verdammt noch einmal mit der Vespa fahren, und zwar ohne einen einzigen Autobahnkilometer. Mehr Krisenbewältigung geht ja gar nicht. Wie gesagt, hat er gedacht.
Und in Wahrheit ist's dann so gewesen:
Zwischen Hinterbrühl und Heiligenkreuz im Wienerwald hat er sein Schicksal noch nicht wahrhaben wollen. Ein böser Traum sei das, sonst nichts. Eine Verwechslung. Ein kleines Scherzerl vom Herrn Innenminister, alle lachen herzlich und morgen darf er wieder heim. Aber je mehr er sich an diese Vorstellung zu klammern versucht hat, desto klarer ist ihm geworden, was Sache ist, und zwar das hinterste Tiroler Kaff, heute, morgen, übermorgen. Vielleicht sogar für immer. Für . immer? Starr vor Entsetzen hätt er bei Alland fast eine schwarze Katze überfahren, und kurz nach Hafnerberg wär ihm die einzige Haarnadelkurve weit und breit beinahe zum Verhängnis geworden. Blanke Wut in Kaumberg, der Helm ist ihm richtig zu eng geworden, als er losgebrüllt hat, wieder und immer wieder, bis ihm in Rainfeld die Tränen kamen. Tankstopp und Taschentücher kaufen in Scheibmühl. Blindwütiger Zorn zwischen Kirchberg an der Pielach und Lunz am See, blanke Angst in Admont, wieder nachtanken in Trautenfels. Ehrfurcht beim Anblick des Grimming im Dachsteingebirge, dazu so ein komisches Gefühl, so ähnlich wie . ja, fast wie Freude. Eindeutig die Folge schwerer Dehydrierung, also in Schladming eine Riesenflasche Mineralwasser gekauft und hinuntergestürzt. Bis St. Johann im Pongau ist ihm dann vor lauter Kohlensäure im Bauch ordentlich schlecht gewesen, immerhin - so hat sich's doch gleich viel besser aushalten lassen alles. Pinkelpause auf Schloss Mittersill, depressive Verstimmung beim Überfahren der Tiroler Landesgrenze, Kitzbühel, Kirchberg, Westendorf und der ganze Singsang, einmal noch auftanken in Wörgl und dieselbe Gefühlsachterbahn wieder von vorn.
Jaja, der Arno und Tirol, das ist keine große Liebesgeschichte. Seit er in Wien lebt, ist er nur zwei-, dreimal hier gewesen, und das eigentlich auch nur, um seine Mama zu besuchen. Dass er in die Stadt gezogen ist, liegt nämlich nicht ausschließlich an der ersehnten Polizeikarriere, der bergfreien Landschaft und der viel gerühmten Lebensqualität Wiens. Es gibt da noch einen viel spezielleren Grund, und der heißt Florine. Aber dazu später.
Etliche Stunden nach seinem Aufbruch fährt der Arno von der Landesstraße ins Kitzlingtal ab. Er legt sich in die ersten Bergkurven hinein, so schräg, dass schon der Hauptständer am Asphalt kratzt, gibt Gas und bremst kurz darauf die nächste Kurve an. Die Vespa schnurrt, wohin sie soll, und bald hat er den Taleingang hinter sich gelassen. Unter anderen Umständen würde ihm das ja wirklich einen gewaltigen Spaß machen. Aber unter anderen Umständen würde er auch beim Tal hinein- und auf der anderen Seite über den Großen Kitzling gleich wieder hinausfahren.
Er ist schon früher ein paarmal hier gewesen, bei gemeinsamen Ausfahrten mit dem Vespaklub. Die Straße führt entlang des Kitzlingbachs taleinwärts. Es riecht nach feuchtem Waldboden. Sonnige Teilstücke wechseln sich mit schattigen Abschnitten, in denen die Fahrbahn so rutschig ist, als hätte sie jemand mit Schmierseife eingerieben und nur schlampig wieder abgespritzt. Aber überhaupt kein Problem für den Arno und seine Vespa, die zusammen schon viele Tausend Kilometer auf dem Buckel haben. Da kann kommen, was will, die beiden finden immer einen Ausweg. Links, rechts, wieder links, wieder rechts, dann geradeaus durch den ersten Ort: Vorderkitzlingen. Vereinzelt Menschen, nur ganz wenige Fahrzeuge. Aber mehr Details bekommt der Arno nicht mit, weil: Er hat schon wieder schwer den Tunnelblick. Das Grauen liegt jetzt direkt voraus. Nach einer langen, freien Strecke, in der er sich duckt und die Vespa noch einmal richtig fliegen lässt, kommt der Ort, in dem er schon morgen seine Strafe antreten soll.
Hinterkitzlingen.
Vorm Ortsschild bremst er auf fünfzig herunter und richtet sich auf. Rechts oben liegt ein Bauernhof, rundherum sieht man viele kleine, weiße Punkte - eine Schafherde, die die Felder abgrast. Der Hof und seine Nebengebäude wirken für eine Tiroler Landwirtschaft fast schon überdimensioniert.
Er schaut nach vorn. Baumreihen umgeben die Ortseinfahrt auf beiden Seiten. Fast wirkt's, als wolle sich die Gemeinde vor neugierigen Blicken verstecken, und bestimmt hat sie auch allen Grund dazu. Die ersten Häuser tauchen auf, zuerst nur einzelne, dann wird die Bebauung langsam dichter. Es sind alte, schwere Kästen, die nicht nur den Tiroler Winter, sondern garantiert auch jede andere Katastrophe aushalten können. Riesige Satteldächer, die Obergeschoße mit dunklem Holz verkleidet, so wie's halt im letzten Jahrtausend arg in Mode gewesen ist. Kein einziger Neubau. Kein Fertighaus und nichts vom Architekten. Jaja, die Landflucht, denkt der Arno, und wenn man ihn fragt, hat die junge Generation auch jeden Grund zu fliehen. Damit das Alte und Schwere nicht gar so viel aufs Auge drückt, hängen an den Balkonen Holzkisten mit Blumen in allen Farben. Man kann sich halt alles irgendwie schöndekorieren.
Der Arno kennt das alles. Auch die getrockneten Maiskolben, die er an einem Bauernhaus entdeckt. Der Blumenschmuck scheint hier fast aus dem Gebäude herauszuquellen. Als hätte im Inneren eine Pflanzendetonation stattgefunden, die die Mauern zerrissen hat. Vorm Haus steht eine Holzbank, auf die man sich nur noch den bärtigen, Pfeife rauchenden Altbauern denken muss. Alte Feldgeräte und hölzerne Handkarren sind an der Seite ausgestellt, womit das Haus fast wie ein Freiluftmuseum wirkt.
Der Arno fährt weiter und entdeckt eine weitere Spezialität seiner alten Heimat: die geballte Heiligkeit. Kreuze hier, Kreuze dort, an den Häusern, unter einem großen Baum in einem abgezäunten, unbebauten Grundstück und natürlich auch auf dem riesigen, nadelspitz zulaufenden Turm der Kirche.
Wie schon gesagt, er kennt das alles. Ein Dorf wie jedes andere in Tirol. Eines wie das, in dem er bis vor einem Jahr noch Dienst getan hat. Eines, in dem Viehtriebe, Blasmusik und katholische Prozessionen so fix dazugehören wie die Festspiele zu Salzburg. Hier ein Hydrant, dort eine Anschlagtafel mit Werbung für irgendein Platzkonzert. Überall verwitterte Lattenzäune.
Alle Häuser im Ort stehen auf der höheren Talseite, aus Arnos Fahrtrichtung rechts gesehen. Ein Holzschild weist zum Gemeindeamt hinüber, und deshalb weiß der Arno jetzt, dass die Polizeiwache nicht mehr weit sein kann. Er hat nämlich schon in Wien danach gegoogelt. Da soll eine Sackgasse kommen, links hinunter, mit einer eigenen Brücke über den Bach . und wie er sich daran erinnert, hat er sie auch schon entdeckt und biegt ab.
Die Wache schaut kein bissl weniger deprimierend aus als auf dem Satellitenfoto im Internet. Mehr Siebziger-Plattenbau-Baracke als sonst was. Ein kleines, fleckig weißes, frei stehendes Gebäude unterhalb des Ortszentrums, angebaute Garage mit Parkplatz und Feldern drumherum. Das obere Stockwerk hat in etwa die Hälfte der Fläche des Erdgeschoßes. Ein Flachdach schließt die Haus gewordene Tristesse nach oben hin ab.
Er seufzt, setzt den Blinker, als würde es irgendjemanden in diesem gottverdammten Tal interessieren, fährt über die schmale Brücke und hält zwanzig Meter weiter, am Ende der Sackgasse, auf dem kleinen Parkplatz an.
Als er absteigt und die Vespa auf den Hauptständer schiebt, merkt er erst, wie gerädert er ist. Die letzte Pause liegt Stunden zurück. Der Rucksack, in dem er nur das Notwendigste für ein paar Tage mithat, scheuert schon die ganze Zeit an seinen Schultern. Wie er sein Kreuz durchstreckt, kracht's laut im Gebälk, und seine vier Buchstaben sind ihm schon vor einer ganzen Weile eingeschlafen.
Er setzt seinen Helm ab und hängt ihn über den Gasgriff. Bevor er sich überlegt, wie's denn jetzt weitergehen könnte, gähnt er erst einmal ausgiebig, reibt sich das Gesicht und .
»Bussi?«
Als er seinen Namen hört, stellt's ihm gleich die Nackenhaare auf. Er taucht aus seinen Händen auf. »Ja?«
Ein junger Kollege in Uniform steht am Eingang. »Wissen'S, wie lang ich schon auf Sie warte? Es hat geheißen, Sie kommen am Nachmittag. Jetzt ist schon bald halb neun am Abend!«, schimpft er und wirft einen geringschätzigen Blick auf Arnos Vespa. »Sie sind jetzt aber nicht damit von Wien bis hierher gefahren, oder?«
»Doch!«, antwortet der Arno und geht an diesem Empfangspfosten vorbei ins Innere der Wache, wo ihm ein seltener Mief den...
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