Schweitzer Fachinformationen
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German saß im Lesesaal der Württembergischen Landesbibliothek. Das Frühlingslicht drang gleißend in den noch im Winterschlaf verharrenden Raum und vertrieb den gelblichen Schimmer, der die Bücher in den Regalen überzog. Die automatischen Jalousien, die im Sommer mit einigem Quietschen an den Fenstern auf und ab fuhren, schienen noch nicht in Betrieb zu sein, und so machte sich unter seinem Winterpullover eine unangenehme Wärme breit, der nur durch einen sofortigen Platzwechsel zu entkommen war. Trotzdem blieb er über dem alten Buch sitzen, das vor ihm auf dem Tisch lag.
Aus reiner Neugier hatte er sich die Originalausgabe eines Werkes von Sebastian Münster ausgeliehen. Basel 1628 stand auf dem schweinsledernen Einband. Und: Cosmographia. Das ist: Beschreibung der ganzen Welt! Daran sollten sich die heutigen Büchermacher ein Beispiel nehmen, dachte er, hier wird gleich auf dem Einband erläutert, was zwischen den Deckeln steckt. Ein Register gab es auch, am Anfang, und nicht, wie heutzutage üblich, am Ende des Buches, und so suchte er erst einmal nach seiner Heimatstadt und den Städten, in denen er studiert hatte: Stuttgart wurde für seinen trefflich großen Weinwachs gerühmt, Tübingen für seine Hohe Schul, die viele gelehrte Männer erzogen hat, und Cambridge, wo er ein Jahr lang die Universität besucht hatte, erhielt den Titel einer lustigen Stadt. Seine Konkurrentin namens Ochsenfurt war auch erwähnt: Diese Stadt sei etwas kleiner als Cambridge, aber sehr lustig. Das war Cambridge also gewesen: größer, aber nicht ganz so lustig! Er blätterte noch eine Weile in dem pergamentenen Folianten, bevor es ihm wirklich zu heiß wurde und er sich entschloss, draußen ein wenig Abkühlung zu suchen.
Als er durch die Drehtür ins Freie trat, wurde er eines Besseren belehrt. Die Wärme war wie weggeblasen und die Vorübergehenden stemmten sich in ihren Wintermänteln gegen den heftigen Wind. Vorbei am Wilhelms-Palais überquerte er den Charlottenplatz, der eigentlich gar kein Platz war, sondern eine riesige Kreuzung, an der man, als Autofahrer, darauf wartete, dass man über sie hinwegdonnern durfte. Aber German war Fußgänger, Passant, Vorübergehender. Und Wartender. Denn um den Charlottenplatz zu überqueren, musste man eine Reihe von Ampelübergängen bewältigen, und garantiert stand die nächste Ampel immer auf Rot. Er hätte den Charlottenplatz auch unterqueren können, es wäre weniger windig gewesen, und man hätte auch den Eindruck gehabt, man käme voran, was in der Oberwelt eben nicht der Fall war. Aber German stieg nie hinab in die Unterwelt, wenn es nicht unbedingt nötig war.
Vor der Auslage einer Buchhandlung blieb er stehen. Hier war es windgeschützt, hier wollte er ein wenig verweilen. Er blickte in einen Tropenwald von Reiseführern. Wahrscheinlich war jetzt die Zeit, in der man sich Gedanken zu machen hatte, wo man seinen Jahresurlaub verbringen wollte. Dann waren da noch Steuer- und Prozessratgeber, Gartenbücher und auch ein paar Gedichtbände mit Lokalbezug. Schtuegart. Warum die Landeshauptstadt nicht so schreiben? Sebastian Münster hatte sich orthografisch auch nicht festgelegt: einmal Stuckgart, dann Stutgard, dann wieder Studtgart.
Inzwischen war es ihm kalt genug geworden, um wieder in den überheizten Lesesaal zurückkehren zu können. Gerade hatte er die Fassade des Instituts für Auslandsbeziehungen passiert, als ihm von hinten jemand auf die Schulter schlug, dass er beinahe in die Knie ging und vor Schreck kurzzeitig die Orientierung verlor.
»German, altes Haus!« brüllte ihm jemand ins Ohr.
Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder gefangen hatte und das fremde Gesicht einordnen konnte. Und dann war alles wieder da: Knut Rapp. Studienkollege in Tübingen, dann nach Berlin, dann in die weite Welt hinaus. Immer auf Reisen, aber immer Kontakt gehalten. Immer wendig und mit allen Wassern gewaschen. Und jetzt auch noch »altes Haus«! Was war denn das wieder für eine Phrase!
»Was treibst du denn hier?«
Diese Frage hätte eigentlich German stellen müssen, immerhin war er es, der hier in Stuttgart lebte, hier Ausländer in Deutsch unterrichtete, hier täglich in die Bibliothek ging und dessen Heimatstadt Stuttgart war! Aber Knut war ihm wieder einmal zuvorgekommen.
»Ich bin auf dem Weg zurück in die Landesbibliothek. Und du, was führt dich in die Stadt, in der Hochdeutsch eine Fremdsprache ist?«
»Ich hatte hier zu tun, du weißt, Auslandsbeziehungen, Networking, Projekte, Kontakte. Ohne die geht's heute nicht. Immer an einem Ort, das ist doch nervtötend. Ich mache lieber an vielen Orten dasselbe als dasselbe an einem Ort. Weil es dann nicht mehr dasselbe ist, verstehst du?«
German verstand Knut. Er verstand ihn sogar besser, als Knut sich selbst verstand. So kam es ihm zumindest vor.
»Danke auch für deine Postkarte aus Phnom Penh, Knut. Entschuldige, dass ich dir nicht dafür gedankt habe. Nicht einmal per Mail. Aber du weißt ja: Ich bin dir immer dankbar.«
»Nicht der Rede wert! Gerade neulich ist mir wieder eingefallen, wie sich dieser Germanistikprofessor, wie hieß er noch gleich, im ersten Semester, du weißt schon, über deinen Namen lustig gemacht hat. German Roman.«
Jedes Mal, wenn sie sich sahen, kam ihm Knut mit dieser Geschichte. Sie war wie eine Erkennungsmelodie, wie das Klingelzeichen eines Handys, das ertönen musste, bevor der Gesprächsfaden gesponnen werden konnte.
»Du seist die wandelnde Germanisch-Romanische Monatsschrift. Erinnerst du dich? Und wir wussten nicht einmal, was die Germanisch-Romanische Monatsschrift ist!«
»Immerhin hat er meinen Nachnamen richtig betont. Auf der ersten Silbe. Ich bin ja kein geschriebener Roman. Leider. Ich bin nur ein lebendiger Mensch mit einem romanischen Nachnamen.«
So oder so ähnlich war seine Antwort auf Knuts Erkennungsmelodie immer gewesen. Er fühlte sich dabei jedesmal wie einer der Dioskuren, der seinem Freund, Bruder, Zwilling ein zerbrochenes Tontäfelchen reicht. Und es war immer wieder schön, wenn die Scherben ineinanderpassten.
»Hör zu, German, das ist doch ein echter Zufall, dass ich dich gerade jetzt treffe! Vor ein paar Minuten habe ich erfahren, dass sie noch Dozenten suchen. Deutschlehrer im Ausland. Das wäre doch was. Auch für dich. Dann kommst du mal raus aus deinem Schtuegart!«
Knut versuchte sich immer wieder im Schwäbischen. Schon damals in Tübingen. Aber mit der Aussprache scheiterte er immer kläglich. Auch jetzt.
»Danke! Aber du weißt, ich bin nicht gemacht für die Fremde.«
»Ach was, du unterrichtest doch Ausländer hier in Stuttgart! Warum willst du das nicht auch einmal im Ausland versuchen? Da zahlen sie auch besser! Denk darüber nach! Es geht um eine Stelle in Ägypten. Kurzfristig. Sie wird nicht öffentlich ausgeschrieben. Mund-zu-Mund-Propaganda, hinter vorgehaltener Hand, du verstehst!«
Für German klang das wie Mund-zu-Mund-Beatmung, und er musste förmlich nach Luft schnappen, nicht nur, weil ihm auf dem windigen Stuttgarter Charlottenplatz plötzlich eine windige ägyptische Fata Morgana vorgegaukelt wurde, sondern auch, weil er dem voranstürmenden Knut atemlos hinterherrannte.
»Schau, ich bleibe heute noch in Stuttgart. Ich übernachte bei einer Freundin in Sillenbuch. Deswegen muss ich auch hier hinunter zur U-Bahn. Begleite mich doch! Dann haben wir noch zwei Minuten.«
»Ich fahre nicht gern in die Tiefe!«
»Was heißt hier Tiefe? Da musst du erst mal die Metro in Sankt Petersburg erleben. Neulich war ich dort zu einem Vortrag. Da fährst du minutenlang hinunter mit der Rolltreppe. Und über dir fließt die Newa. Das ist was anderes als Neckar und Nesenbach!«
Und German eilte Knut willenlos hinterher, als der ihn nun doch in die Unterwelt führte und ihn schließlich mit den Worten »Ägypten! Schreib mir noch heute eine Mail!« an der Haltestelle der U-Bahn stehen ließ.
Noch ganz benommen von diesem Auftritt seines ehemaligen Studienkollegen nahm German wieder seinen Platz im Lesesaal der Landesbibliothek ein. Ägypten. Hatte er nicht vorhin im Schaufenster der Buchhandlung auch die Pyramiden gesehen? Und ein malmendes Kamel davor? Was wohl Sebastian Münster über Ägypten zu sagen hatte? Und er blätterte in dem jahrhundertealten Folianten, bis er auf das Kapitel über Ägyptenland stieß.
Was er da las, klang nicht schlecht. Kein Land sei edler, älter und fruchtbarer. Man habe nie gesehen, dass es in Ägyptenland geregnet habe. Das habe schon Platon bestätigt. Die Luft sei durchweg hell und wohltemperiert. Und die Ägypterinnen seien so fruchtbar, dass sie nicht nur Zwillinge, sondern öfters auch Drillinge und Vierlinge bekämen. Und die Babys hätten es so eilig, auf die Welt zu kommen, um die wohltemperierte Luft zu genießen, dass sie schon nach acht Monaten vom Mutterleib genug hätten und ans Tageslicht strebten. Nicht immer im Neonlicht der Bibliotheken, wie er, sondern im klaren Licht des Tages! Das war also die ägyptische Verheißung!
Er blätterte noch eine Weile in dem Folianten, betrachtete Zeichnungen von den Pyramiden, die einmal wie Wohnblocks aussahen und dann wieder wie die Spitzen von Obelisken, und studierte die wahrhaftige Abkonterfeiung der mächtigen und besten Stadt Alkair, die wirklich paradiesisch anmutete. Kairo oder Neubabylon werde überragt von einem Schloss von der Größe der Stadt Ulm, stand da zu lesen,...
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