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Kapitel 1
Das laute Klappern des Müllfahrzeugs dringt tief in meinen Schlaf und reißt mich aus einem Traum, der nicht mehr hinterlässt als ein vages Erinnern an Unruhe und Sehnsucht. Schläfrig taste ich zur Seite, wo Ben nicht mehr liegt, wahrscheinlich schon seit einer Weile nicht mehr. Ich warte, bis es wieder ruhiger wird und der Traum verklingt. Aus der Wohnung dringt kein Laut.
Langsam stehe ich auf und schlüpfe nach einer raschen Dusche in ein schlichtes schwarzes Kleid. Es ist einer dieser Tage, an denen sich der Gedanke, die ganze Zeit allein oben im Atelier zu verbringen, eng und ermüdend anfühlt, weil nichts dorthin kommt, keine Stimmen, kein Gefühl, kein Draußen. Der Tag ruft, er zieht mich hinaus, und obwohl ich arbeiten müsste, folge ich ihm. Ich könnte mich ohnehin nicht konzentrieren.
Auch im Treppenhaus ist es still, der alte Teppich fängt meine Schritte auf. Als ich die Haustür öffne, steht eine junge Frau davor, ihr unschlüssiger Blick huscht von den Klingelschildern zu mir. Kurz lächelt sie, doch es ist ein Lächeln, das keinen Halt findet, ihre Augen wirken viel zu groß.
»Zu wem wollen Sie denn?«, frage ich und halte die Tür auf, bevor sie hinter mir ins Schloss fallen kann.
Noch immer antwortet sie nicht, starrt mich nur an, dann huscht sie an mir vorbei ins Haus. Für einen Moment frage ich mich, wen sie wohl besuchen will. Vielleicht einen der Studenten aus der WG in der ersten Etage. Sonst ist kaum jemand um diese Uhrzeit zu Hause.
Ein paar Straßen weiter betrete ich einen kleinen Blumenladen. Die Verkäuferin kennt mich, sie nickt mir mit einem Lächeln zu und bietet mir einen frisch gebundenen Spätsommerstrauß an, den ich sogleich entgegennehme, ohne ihn einwickeln zu lassen, nur etwas feuchtes Küchenpapier an den Stielenden wird ihn frisch halten. Der Geruch erfüllt den Bus, in den ich kurz darauf steige, Blumenduft trifft Schweiß und Käsebrot, keine besonders gelungene Kombination.
Etwa zwanzig Minuten später hält der Bus vor dem Grazer Zentralfriedhof. Wie immer bleibe ich eine Weile vor dem Eingang stehen, der die Toten von den Lebenden trennt, und frage mich, ob das überhaupt stimmt, ob es diese Trennung wirklich gibt.
In einer halben Stunde beginnt die Beerdigung. Noch habe ich genug Zeit, um an den Grabreihen entlangzuschlendern und jemanden zu suchen, dem länger niemand mehr Blumen gebracht hat. Schon nach ein paar Minuten finde ich ein Grab, das kahl und einsam wirkt, auch die Blumen können nicht viel daran ändern. Stumm nicke ich wie zu einem Abschied, dann fällt mein Blick auf die Grabstelle daneben.
Kleine Autos stehen auf dem blanken Marmor, als warteten sie darauf, dass ein Kind vorbeikommt und mit ihnen spielt. Doch das Kind, dem sie gehören, spielt nicht mehr. Joel ist knapp fünf Jahre alt geworden, und die einzigen Leben, die ihm noch bleiben, sind die, die sich andere für ihn ausdenken.
Vorsichtig hocke ich mich vor das Grab und berühre den Fotorahmen, der auf hellen Kieseln am Grabstein lehnt. »Du wachst viel zu früh auf«, sage ich. »Die Sonne scheint, heute kommt dein Opa zu Besuch. Nein, nicht der griesgrämige, der nur in Ruhe in seiner Zeitung blättern will, sondern der andere, der mit dir Legohäuser baut und dir Bücher vorliest, und manchmal geht er mit dir ins Naturkundemuseum oder an die Mur, wo ihr Steinchen ins Wasser werft und den Passagieren auf vorbeiziehenden Ausflugsschiffen zuwinkt. Deine Mama hat einen Kuchen gebacken, der Duft erfüllt die ganze Wohnung. Wahrscheinlich hat er dich geweckt, denn der Kindergarten fällt heute aus. Wenn Besuch kommt, musst du nicht in den Kindergarten gehen.« Ich atme tief ein, während das Foto lebendig wird. Der Junge wächst, ich sehe ihn bei einem Streit mit seinem Kumpel, beim Apfelpflücken, seine Oma bringt ihm das Stricken bei. Ich sehe ihn auf seinem neuen Fahrrad, im Urlaub in Spanien, mit seiner ersten Freundin, die Beziehung hält nicht lange, auch die zweite nicht. Als er siebzehn ist, stirbt sein Vater. »Es tut mir leid«, sage ich, »auch imaginäre Leben schmerzen.« Er ist ein Abenteurer, er heuert auf einem Kreuzfahrtschiff an, hält den Job jedoch aufgrund der anstrengenden Schichten und der schlechten Bezahlung nicht lange aus. Stattdessen wird er Bergsteiger, jeden Tag sucht er sich eine neue Herausforderung, das muss so sein, er möchte jede gelebte Stunde fühlen. »Du willst weiter kommen als jeder andere«, sage ich. »Denn dort oben, wo der Sauerstoff kaum noch ausreicht, dort oben bist du frei.«
Ein Geräusch von rechts lässt mich aufblicken. Ein älterer Herr kommt heran, er läuft langsam, so als müsste er sich jeden Schritt genau überlegen. Ich stehe auf, unschlüssig verharre ich.
Der Herr lächelt freundlich, während er weiterschlurft, doch dann bleibt er stehen und dreht sich noch einmal um. »Kannten Sie den Jungen?«, fragt er.
»Ich . Nein.«
Er trägt eine karierte Schirmmütze, die er sich nun ein Stück aus dem Gesicht schiebt. »Meine Frau blieb auch immer an den Gräbern der Kinder stehen.«
»Es tut weh, wenn sie noch so jung sind«, murmle ich, und der alte Mann nickt sanft.
In dem dunklen Anzug muss ihm viel zu warm sein.
»Es ist so friedlich hier«, sage ich, mehr als diese abgenutzte Phrase fällt mir nicht ein. »Ich mag die Ruhe und die Einsamkeit.«
Wieder nickt er. »Vergessen Sie nur nicht, dass Sie noch viel Zeit dort draußen haben.« Damit deutet er mit dem Kopf in Richtung des Ausgangs.
Um uns herum knistert der Spätsommertag, er fühlt sich an wie ein Tag Mitte August, mit einer Sonne, die keine Lust darauf hat, dem Herbst das Feld zu überlassen.
»Wenn ich könnte, würde ich noch viel mehr Draußen sammeln«, murmelt er so leise, dass ich die Worte nur schwer verstehe.
»Wieso tun Sie es nicht?«
Wieder lächelt er auf diese sanftmütige Weise. »Das Alter ist nicht immer etwas, das man sehen kann. Es sitzt tief in den Knochen, egal, wie viel man noch gern erleben würde.«
Die Kirchenglocken beginnen zu läuten. Eigentlich bin ich aus einem ganz anderen Grund hier, der nichts mit dem Jungen oder dem Mann zu tun hat, er hat überhaupt weniger mit den Toten als mit den Lebenden zu tun.
»Ich wollte .«, setze ich an.
». zur Beerdigung?«
»Ja«, erwidere ich zögernd.
»Ich auch.« Er setzt sich in Bewegung. »Kommen Sie mit?«
Ich folge ihm, mit jedem Schritt nistet sich stärkere Nervosität in mir ein. Das tut sie immer, bevor ich auf eine Beerdigung gehe, während ich am Rand stehe, während ich unauffällig die Menschen beobachte, die sich ein letztes Mal von jemandem verabschieden. Ich gehöre nicht zu ihnen, ihre Geschichten gehen mich nichts an, doch selten wird so intensiv gefühlt wie in diesen Momenten voller Erinnerungen. Selten zeichnet sich so viel Leben in Gesichter, finden sich so viele Facetten von Trauer, aber auch Freude, Glück, Sehnsucht, nur kann ich das keinem alten Mann erklären, der mich gar nicht kennt. Er würde mich für verrückt halten. Für eine Beerdigungstouristin, die sich an dem Leid anderer labt.
»Die Gesichter sind Spiegel«, sage ich unvermittelt, ich weiß selbst nicht, woher dieser Satz kommt.
»Welche Gesichter? Und ein Spiegel wofür?« Kurz sieht er mich an, bevor er sich wieder auf den Weg konzentriert.
»Die der Beerdigungsgäste. Für . ich weiß nicht. Wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb ich hierherkomme. Um das herauszufinden.« Ohne weitere Erklärungen ziehe ich meinen Skizzenblock aus der Tasche. Ich klappe ihn nicht auf, niemals würde ich jemandem die Gesichter zeigen, die ich in den letzten Monaten gezeichnet habe, seit ich alle drei bis vier Wochen den Friedhof besuche.
Beide bleiben wir gleichzeitig stehen, während er das Heft mustert.
»Ich halte sie fest, weil . Ach, ich weiß nicht. Aus keinem wirklichen Grund, glaube ich.«
»Wir haben alle unsere Themen, nicht wahr?« Er wirkt kein bisschen erschüttert oder wütend, nicht einmal irritiert, vielmehr lächelt er, als wäre dieses Lächeln so tief in die Falten seines Gesichts gegraben, dass es sich nicht mehr daraus lösen lässt. »Meine Frau hielt sich gern in der Nähe von streitenden Pärchen auf. Ich vermute, das liegt daran, dass wir selbst kaum Differenzen miteinander auszutragen hatten, trotz einer Ehe, die vierzig Jahre lang dauerte.«
Ich frage nicht, wo seine Frau ist. Vielleicht stand ich schon einmal vor ihrem Grab und erzählte ihr Dinge, die sie nie erlebt hat. Vielleicht hörte sie mir sogar zu.
Vor der Kirche warten bereits zahlreiche Trauergäste. Dieses Wort, als wäre Trauer etwas, das man besuchen könnte, mit einer Flasche Wein und einer DVD, die man sich gemeinsam ansieht, die Trauer und man selbst, und dann lacht man und trinkt zu viel Alkohol und schläft nebeneinander auf dem Sofa ein, während der Abspann in ein kerzenlichtflackerndes Zimmer fließt.
Ich werde langsamer, je näher wir den Besuchern kommen. Normalerweise halte ich Abstand, ich dringe nicht in ihren Bereich ein, ich bleibe nur nah genug, um ihre Gesichter erkennen zu können, die Landschaften aus Augen und Nase und Kinn, aus Falten und Mundwinkeln und Grübchen und Sommersprossen. Manchmal sticht jemand hervor, und dann halte ich all diese Linien fest, wie eine Fotografie in meinem Gehirn, bis ich auf einer abgelegenen Friedhofsbank oder zu Hause das abzeichne, woran ich mich erinnere.
Trauer sieht immer wieder anders aus.
Mit einem Mal spüre ich die Stille, sie erfasst mich so plötzlich, dass ich für ein paar Sekunden aufhöre zu atmen. Sie ist nicht wie die Stille auf hoher See, die schweigend die Asche auffängt und in spritzender Gischt...
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