Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Am vierundzwanzigsten Juni klopft es früh am Morgen an die Tür des möblierten Zimmers im Londoner Stadtteil Paddington, in dem Irka und Erich vor einigen Monaten ihr Domizil aufgeschlagen haben.
«Es ist so weit», flüstert Irka, augenblicklich hellwach, und klammert sich an ihren Mann.
Erich entwindet sich aus ihrer Umarmung, küsst sie auf die Stirn und geht öffnen.
Zwei Polizisten seien gekommen, meldet die Hauswirtin Mrs. Needham, und würden nach ihm verlangen. Sie trägt einen rosa Morgenmantel und hat Lockenwickler im Haar. So hat er sie noch nie gesehen.
«Sie kommen mich holen», sagt Erich mit belegter Stimme.
«Wir haben die Anweisung, Sie zur Internierung mitzunehmen», leiert einer der beiden hochgewachsenen Männer, deren hohe, schwarze Polizeihelme sie noch größer erscheinen lassen, wie auswendig gelernt herunter. «Bitte packen Sie Waschzeug, Kleidung und Unterwäsche zum Wechseln sowie andere unverzichtbare Dinge ein. Wir geben Ihnen eine halbe Stunde.»
Erich fühlt sich wie Kafkas Josef K., dem die beiden Wächter seine Verhaftung mitteilen, ohne ihn davon in Kenntnis zu setzen, was ihm vorgeworfen wird. Anders als Josef K. lehnt sich Erich jedoch nicht auf, denn er ist auf diesen Augenblick seit Wochen vorbereitet.
Für den Abschied bleibt wenig Zeit, die Polizisten warten draußen vor der Tür. Aber sie sind höflich und entschuldigen sich sogar für die frühe Morgenstunde, sie hätten eben ihre Anweisungen. «Es ist nur vorübergehend», versichern sie. «Sie werden bald zurück sein.»
Mit verweinten Augen beugt sich Irka aus dem Fenster und sieht Erich nach. Bevor er in das wartende Auto steigt, dreht er sich noch einmal um und setzt sein jungenhaftes Grinsen auf, das sie so sehr liebt. Er reckt den Daumen nach oben, wie er es sich von den englischen Soldaten abgeschaut hat.
«Rauch nicht zu viel», ruft ihm Irka hinterher und zündet sich eine Zigarette an.
Kurz darauf klopft es ein zweites Mal an diesem Morgen an die Tür. Diesmal ist die Wirtin angezogen, und ihr silbergraues Haar liegt sorgsam onduliert auf ihrem Kopf wie eine Mütze. Irka trägt immer noch ihren Pyjama. Mrs. Needham bringt ein Tablett mit einer Kanne Tee, einem Kännchen Milch und einigen Butterkeksen auf einem geblümten Porzellanteller.
«Das wird Sie aufrichten, Irka.»
«Oh, danke. Das ist genau das, was ich jetzt brauche.»
Schniefend hievt Irka einen Stapel Zeitungen, die Erich am Vorabend noch studiert hat, aufs Bett und lädt die Wirtin ein, sich mit ihr ans runde Teetischchen zu setzen.
«Ich weiß, es ist schwer für Sie, so ganz allein in einem fremden Land. Es tut mir so leid. Lassen Sie es mich wissen, wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann.»
Irka versucht, ein mutiges Lächeln aufzusetzen. «Wenn sie ihn nach Übersee schicken, wird er dafür sorgen, dass ich nachkommen kann. Das ist meine einzige Hoffnung.»
«Er wird es schaffen, ganz gewiss. So ein feiner Gentleman, Ihr Eric. Alle werden ihm glauben, dass er nichts Böses gegen uns im Schilde führt. Vielleicht schicken sie ihn auch bald wieder zurück zu Ihnen.»
«Wir sind Trennungen gewohnt. In Wien waren wir beide im Gefängnis. Leider nicht in derselben Zelle.»
«Im Gefängnis?»
Vielleicht hätte sie das besser nicht sagen sollen. Bisher waren sie immer vorsichtig, haben Mrs. Needham kaum etwas über ihr Vorleben erzählt. Nun muss Irka eine Erklärung anbieten.
«Also das war so: Als in Deutschland die Nazis an die Macht kamen, wurde in Österreich ein faschistischer Ständestaat eingeführt. Vielleicht haben Sie von Engelbert Dollfuß gehört? Ein winziger Mann. Nein? Na ja, von Österreich weiß man jetzt nur noch, dass Hitler aus Braunau stammt. Im Februar vierunddreißig war's dann ganz aus. Alle politischen Parteien und Gewerkschaften wurden verboten. Später haben die Nazis Dollfuß ermordet, geschieht ihm recht.»
Irka spürt, wie das Reden sie entspannt. Sie gießt sich etwas Milch aus dem Kännchen in die Tasse, wie es ihr die Engländer beigebracht haben, und darauf den schwarzen Tee, der eine wunderbare hellbraune Färbung annimmt.
«Ich habe damals in Wien an der Kunstgewerbeschule studiert. Erich schrieb Artikel für eine Gewerkschaftszeitung, ich zeichnete die Deckblätter. Die Zeitung wurde auf Wachsmatrizen getippt und - powielac - wie sagt man nur? Vervielfältigt, ja. Man musste so eine Kurbel drehen. Es war gefährlich, weil es illegal war, aber wir hatten auch viel Spaß.»
Diese Variante erscheint Irka am unverfänglichsten, schließlich haben die Engländer eine lange Gewerkschaftstradition. Die in Österreich unter den Austrofaschisten verbotene Kommunistische Partei, in die sie beide aus Frust über das Versagen der Sozialdemokraten nach dem kurzen Bürgerkrieg im Februar 1934 eingetreten waren, will sie lieber nicht erwähnen.
«Und das war verboten?»
«Oh ja, jede politische Tätigkeit war verboten. Alles. Am Ersten Mai wurden wir in Wien von berittenen Polizisten niedergeknüppelt. Als unsere Arbeit für die Gewerkschaftszeitung aufflog, kamen wir ins Gefängnis. Sechsunddreißig war das. Erich bekam neun Monate, ich sechs. Damals waren wir noch nicht verheiratet. Mich haben sie dann als polnische Staatsbürgerin nach Polen abgeschoben, ich durfte nicht mehr nach Österreich zurück. Als Erich freikam, reiste er zu mir nach Warschau, und dort haben wir geheiratet. Durch die Ehe mit einem Österreicher wurde ich Österreicherin. Schauen Sie, dieses Foto. Das sind wir an unserem Hochzeitstag. Sieht er nicht großartig aus?»
«Ein wunderschönes Paar. Und diese Löwenjungen in Ihrem Schoß!»
«Die haben sie uns im Zoo von Warschau für das Foto zum Halten gegeben.»
«Trinken Sie Ihren Tee, Irka, er wird ja ganz kalt. Ihr Name - Irka - ist also polnisch?»
«Ich heiße Irena. Irene auf Englisch. Irka ist die Koseform. So hat man mich von Geburt an genannt. In der polnischen Sprache hat jeder Name eine Koseform, manchmal mehrere. Meine Schwester heißt Ludwika, wir haben sie immer Ludka genannt. Auch für gewöhnliche Worte wie Flasche oder Tisch verwenden wir Diminutive - buteleczka, stoliczek. Die Sprache ist voll davon. Im Englischen kennt man das nicht. Wer weiß, was das über die Menschen sagt, die diese Sprachen sprechen? Darüber habe ich noch nie nachgedacht.»
Plötzlich spürt sie ein sehnsüchtiges Ziehen in der Brust. Wie lang hat sie schon nicht mehr Polnisch gesprochen, und wie gern würde sie jetzt den Kopf an die Schulter ihrer großen Schwester lehnen und sich polnische Koseworte zuflüstern lassen. Die Wärme der Muttersprache fehlt ihr. Auch mit Erich unterhält sie sich in einer Fremdsprache. Manchmal kann sie ihm nicht wirklich sagen, was sie denkt und fühlt, mit ihrem begrenzten Vokabular wird jeder Gedanke vergröbert. Sie ist nie ganz sie selbst. Werden sie irgendwann einmal auch Englisch miteinander sprechen? In Kanada vielleicht? Kaum vorstellbar, dass jemand in Zukunft noch die deutsche Sprache wird hören wollen.
«Interessant», bemerkt Mrs. Needham höflich, um nach einer Pause auf das Gefängnis zurückzukommen. «War es schlimm dort? Ich habe noch nie jemanden getroffen, der im Gefängnis war.»
«Die Trennung von Erich war schlimm, natürlich. Aber ich habe dort auch Frauen kennengelernt, denen ich im normalen Leben nie begegnet wäre. Prostituierte zum Beispiel. Sie konnten überhaupt nicht begreifen, wie jemand sich für eine politische Idee einsperren lassen kann. Sie hielten mich für szalona - für . für verrückt. Dass sie selbst ab und zu ins Gefängnis kommen, war für sie normal. Ich wiederum konnte nicht verstehen, wie man mit einem Mann schlafen kann, ohne ihn zu lieben. Eine lesbische Frau wollte mich sogar davon überzeugen, dass die Liebe zu Frauen viel besser ist.»
«Oh!» Mrs. Needham errötet.
«Verglichen mit dem, was danach kam - die Nazis -, war die Haft in Wien ein Zuckerschlecken - dieses lustige Wort hat mir Erich beigebracht», beeilt sich Irka, vom Thema Sexualität wegzukommen. «Man musste keine Angst um sein Leben haben. Nachdem Österreich achtunddreißig von Deutschland annektiert wurde, hat sich das mit einem Schlag geändert. Für die Juden begann ein Inferno, jeder, der konnte, hat so schnell wie möglich das Land verlassen. Das war aber nicht leicht, man brauchte ein Visum. Kein einziges Land hat dich ohne Visum aufgenommen. Bei mir hat es mehrere Monate gedauert, bis ich eine Arbeit im Haushalt gefunden habe und nach England einreisen durfte.»
Es ist das erste Mal, dass Irka mit ihrer Wirtin über ihre Flucht spricht. Man kann ja nie wissen, auch viele Engländer sind Antisemiten.
«Sind Sie - äh - Jüdin?», stammelt Mrs. Needham.
«Ja, bin ich. Behauptet zumindest Hitler. Ich bin aber nicht religiös, ich war bloß ein einziges Mal in einer Synagoge. Aber darum geht es den Nazis nicht. Mein Blut ist jüdisch, sagen sie.»
«Unglaublich. Wissen Sie, ich habe noch nie einen Juden gesehen.»
«Ich bin doch ganz normal, oder?»
«So habe ich es nicht gemeint .»
«Ist schon gut, ich bin nicht empfindlich. Ohne die Nazis hätte ich nie darüber nachgedacht. In meiner Familie fühlten wir uns als Polen. Aber durch Hitler bin ich ein refugee from Nazi oppression geworden. Erich auch, obwohl er kein Jude ist. Ich bin den Engländern dankbar, dass sie uns aufgenommen haben. Nur jetzt .»
«Jetzt haben sie Ihnen Ihren Mann weggenommen. Sie haben recht, das ist schändlich.»
«Ja, das ist es. Aber ich habe keine Angst um ihn.»
Das...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.