Schweitzer Fachinformationen
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La vita è una torta di compleanno. Una torta di compleanno«, sagte Francesca immer wieder - das Leben ist ein Geburtstagskuchen - und schlug mit schnellen routinierten Bewegungen aus dem Handgelenk den Eischnee schaumig. »Du nimmst dir ein Stück, Stück um Stück, Stück um Stück.« Die Küche des dreihundert Jahre alten Landsitzes in den Hügeln des Piemont am Stadtrand von Alba glich einem Schlachtfeld: teigbeschmierte Rührschüsseln, Konditorenmesser und schokoladenbenetzte Abkühlgitter stapelten sich auf den Arbeitsflächen, abgestoßene Kuchenformen, schwer und emailliert, Spritzbeutel, Pinsel und Backpapier. Die Knethaken der Küchenmaschine arbeiteten auf höchster Stufe, feiner Mehlstaub tanzte in der Luft, und Radio Cuneo Nord spielte in voller Lautstärke La Isla Bonita. Auf dem Herd kochte gerade mit lautem Zischen die Milch über. Francesca zog den Topf von der Kochplatte und wischte sich mit ihrer Küchenschürze den Schweiß von der Stirn. Der Spätsommer brachte keine Abkühlung, und der mächtige Ofen war schon seit Stunden angeheizt . oder waren es Tage? Die Zeit war eine relative Größe, nicht wie Milch in einem Messbecher oder Mehl auf einer wackligen Waagschale. Die Zeit dehnte sich aus und ergoss sich über jeden Topfrand, sie verdampfte, zerstob.
Francescas Gedanken sprangen umher wie die Reste der Milch auf dem glühenden Herd. Runde Kügelchen, die munter auf und ab hüpften, bis sie sich unschön einbrannten. Ein eiliger Blick in die selbst verfassten Rezepte, und die Zeitschaltuhr am Backofen rasselte schleppend. Die junge Frau zog das Blech mit dem Biskuitteig heraus und öffnete die Tür zum Garten, dem Stückchen verdorrter Wiese, an das die Plantage anschloss, die den ganzen Hügel bedeckte. Es war schwül, die Luft schien aufgeladen. Sie war wie sie und nahm den Ausbruch vorweg. Francesca sah die Schatten der Haselnussbäume, Reihe um Reihe auf elf Hektar Grund, und dachte an den Tag zurück, an dem sie mit zwei Koffern und dem Geruch des Meeres im Haar hier gestrandet war - schaumgeboren und an Land gespült. Jetzt hing das herbe Aroma der Nüsse in ihren Kleidern.
Senzafarina - ohne Mehl -, die torta di nocciole wurde nur mit Eiern und den Tonda Gentile del Piemonte gebacken, den besten Haselnüssen der Welt. Francesca gab Muscovado-Zucker dazu, der aus Mauritius kam und diese feine Karamellnote hatte. Fühlte sich an wie feuchter Sand. Sie überlegte, den Küchenboden damit zu bestreuen, einen Strand aus Südseezucker anzuhäufen und Ellas Geburtstag am Meer zu feiern. Aber sie hatte nur noch zwei kleine Säcke in der Vorratskammer. Es reichte gerade, um den langen Esstisch zu dekorieren. Sie verrührte Eigelbe und Zucker und gab die frisch gemahlenen, gerösteten Nüsse dazu. Perfekt!
Dein Leben ist ein Geburtstagskuchen, mein Kind, schrieb sie kurz darauf in ihr ledergebundenes Rezeptbuch, doch kaum einer würde es lesen können. Weil sie zu langsam waren, alle! Viel zu langsam in ihrem Denken und Fühlen und Tun, viel zu träge! Nicht wie sie, die sie auf Sternschnuppen reiten konnte, die Sonne im Bauch und ihr Glühen in den Gliedern.
Im Radio liefen jetzt Nachrichten, und Francesca sang ein altes Schlaflied: »Ninna nanna, coccolo della mamma« . War es schon Zeit, die Kinder ins Bett zu bringen? Sie mussten doch ausgeschlafen sein, sie wollten schließlich feiern: das Licht und das Leben!
Als Francesca Ellas großen Bruder Danilo vor sieben Jahren geboren hatte - ihr erstes Kind, das sie für immer an dieses Leben band -, da war die Dunkelheit über sie hereingebrochen. Monatelang. Angelina, die strenge Hebamme mit den festen Händen, hatte ihr damals mit dem Baby geholfen und Chiara, die mit den Erntehelfern aus Kalabrien gekommen war, so wie sie. Denn an der Stiefelspitze gab es keine Arbeit, und die 'Ndrangheta regierte das Land. Aber man sprach nicht über die Mafia, und das Verschwinden verschwieg man auch.
Francesca schob die Erinnerung beiseite, hob den Eischnee unter, füllte die luftige Kuchenmasse in eine Springform und stellte sie in den Ofen. Die ganze Küche war erfüllt vom Duft der Schokoladen und gerösteten Nüsse, dem Marzipan und Nugat und dem Aroma der feinen Marmeladen, die sie zwischen die Schichten der Biskuitteige strich. »Stück um Stück«, wiederholte sie ihr Mantra, um es nicht zu vergessen. Sie sollte es aufschreiben, in ihrem Buch, zu den Rezepten, es war wichtig.
Die Küchenuhr schlug zur vollen Stunde, ihr Pendel schubste die Zeit in steter Bewegung vor sich her. Tick-tack, ticktack, es war erst drei und doch schon dunkel. Francesca sah hinaus und wunderte sich. War es nicht eben noch Mittag gewesen? Als sie den Garten für Ellas Feier dekoriert und ihre Geschenke überall verteilt hatte? Die Tische unter die Haselnussbäume gestellt und Stühle hinausgetragen? Jetzt war es plötzlich Nacht geworden, und es donnerte weit entfernt, aber das Wetter würde vorbeiziehen. Oder nicht? Sie stellte sich vor, wie die Sonnenschirme davonflogen, kleine bunte Inseln im Wind, und musste lachen. Sie würden sich in die Luft schrauben wie Dorothys Farmhaus in Der Zauberer von Oz. Das Farmhaus in Kansas, das ein Tornado mitriss und bei seiner Landung im Land der Munchkins die böse Hexe des Ostens unter sich begrub. Das Märchen war zum Kriegsende mit den Amerikanern nach Italien gekommen. Francescas Mutter hatte ihr das Buch geschenkt und Francesca die Abenteuer der kleinen Dorothy auf ihrem Weg in die funkelnde Smaragdstadt wieder und wieder gelesen. Dem Mädchen mit den silbernen Schuhen, das Zeit und Raum überwand und am Ende seiner fantastischen Reise nach Hause zurückfand. Das Gefühl, in einer fremden Welt aufzuschlagen, kannte sie selbst, einer Welt, die jeder Realität entbehrte und sich doch echter anfühlte als die Wirklichkeit der anderen.
»Du nimmst dir ein Stück, Stück um Stück.« Francesca schrieb es auf die Tischplatte, malte kryptische Zeichen in den Mehlstaub, der das dunkle Holz überzog. Das war gut, so konnten ihre Gedanken nicht so schnell durch die feinen Ritzen der Dielen und Türspalte schlüpfen. Sie waren einfach zu beweglich, unstet und immer auf Reisen. Drehten sich, schraubten sich in himmelhohe Höhen und stürzten dann ab wie Dorothys Farmhaus.
Die Zeitschaltuhr rasselte schon wieder, die torta di nocciole musste aus dem Ofen. Ein Rezept aus der Familie ihres Mannes.
Als Philippe Donati im Morgengrauen nach Hause kam - er hatte die ganze Nacht über einen Streit mit seiner jungen Frau hinuntergespült -, war die Küche bereits aufgeräumt und bis ins kleinste Eck geputzt. Francesca saß am langen Esstisch, der jetzt mit einer dicken Schicht Zucker bestreut war, und es standen Pralinenschalen und Tortenplatten darauf: Drei verschiedene Schokoladenkuchen gab es, Biskuitrollen mit Heidelbeer-Mandel- und Preiselbeersahne, eine Mascarpone-Feigentorte, einen Panettone, die torta di nocciole und Berge von Waffeln. Ein Blick ins Schlaraffenland - la cuccagna. Sie hatte die Kuchen mit Schaumküssen und Gummibärchen garniert, bunten Schokolinsen und eingelegten Kirschen. Cocktailschirmchen schmückten die Anmutung eines Strandes. Philippe ging zum Radio und stellte es ab. Francesca konnte unmöglich die Kinder hören, wenn sie nach ihr riefen.
Sie sah ihn an und strahlte, betrachtete ihr Werk und sagte: »Stück um Stück, Philippe. Du verschlingst dein Leben Stück um Stück, verstehst du, weil es so gut schmeckt und du es auskosten willst, aber es verschlingt dich auch.« Sie wartete auf seine Zustimmung, aber sie kam nicht, denn er verstand sie kaum. Sie sprach viel zu schnell, und ihre Worte machten keinen Sinn. Etwas brachte ihr Blut zum Kochen, als würde Brandbeschleuniger durch ihre Adern fließen, und jeder zündende Einfall glich einer Explosion.
Draußen begann es zu regnen. Philippe sah im ersten Morgenlicht neue Kleider in den Haselnussbäumen - aufgesteckt wie bunte Fahnen -, Schuhe und Strümpfe. Francesca hatte sie zusammengebunden und über die Äste gehängt. »Hast du noch mehr Geschenke für Ella gekauft?«, fragte er mit unterdrückter Wut, die ihm die Luft abschnürte.
»Ja, ciccino, Bücher und ein Fahrrad und ein Puppenhaus mit einer richtigen Küche. Dort können wir zusammen backen, in Ellas eigenem kleinen Haus. Aber du musst es gut festmachen, es darf nicht davonfliegen, hörst du!«
»Was?«
»Das Haus, es darf nicht davonfliegen. Siehst du denn nicht, dass ein Sturm aufzieht?« Francesca strich sich eine dunkle Haarsträhne aus dem erhitzten Gesicht. Sie sah aufgelöst aus, ihre zarte Statur wirkte zerbrechlich. Philippe machte sich Sorgen, sie aß viel zu wenig und schlief kaum noch. Verzweifelt schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch. Der Zucker rieselte auf den frisch gewischten Boden, die Cocktailschirmchen zitterten, und Francesca erschrak. Jetzt griff er nach ihren Armen, zog sie daran hoch und schüttelte sie. »Du bist verrückt, Francesca, hörst du? Verrückt!«, schrie er sie an. »Womit hast du das denn alles bezahlt? Kannst du mir das sagen?« Sie holte seine Kreditkarte aus ihrer Schürzentasche und zeigte sie ihm. »Wir haben Schulden, Francesca!«, rief er aufgewühlt.
»Aber wir ernten doch gerade«, erwiderte sie verständnislos und erzählte dann aufgeregt, wen sie alles zu Ellas Geburtstagsfeier eingeladen hatte. »Wir müssen feiern, Philippe«, sagte sie beschwörend, »bevor wieder ein Stück vom Kuchen fehlt. Mit den Kindern aus der Stadt, unseren Nachbarn, den Freunden .«
»Freunden?!« In...
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