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Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit den vielfältigen Geistererscheinungen in Andreas Gryphius' Trauerspielen auf Grundlage des frühneuzeitlichen Geisterwissens und der literarischen Tradition von Geisterdarstellungen in antiken, jesuitischen und niederländischen Dramen sowie in Barockpoetiken. Gryphius' weitläufiges Interesse an Geistern wird dabei zweifach aufgearbeitet. Erstens anhand der verstreuten Spuren zu Gryphius als Geistergelehrten und Verfasser eines verschollenen Gespenstertraktats über dessen Familienbibliothek sowie die Aussagen über Geister in seinem Brandbericht und Mumientraktat. Zweitens über die poetische Praxis der Geisterdarstellungen in seinen Trauerspielen, die der Geisterpoet im Medium des Traums, Wahns, per Beschwörung und im Chor erscheinen lässt. Dabei sucht Gryphius in seinen, die Trauerspiele begleitenden Paratexten die Geister als poetische Stilmittel zu begründen und zu legitimieren. Mit dem erweiterten Blick auf Gryphius' Herodes-Epos und den Leichabdankungen lässt sich eine Geisterpoetologie nachzeichnen, in der Gryphius die wissensgeschichtlich eingeschriebene Ambiguität von Geistererscheinungen in seine eigene Konzeption des spiritus ex machina als Ambiguitätsmaschine umbesetzt.
Conrad Fischer, Institut für deutsche Philologie, JMU Würzburg, Würzburg.
Christian Stieff muss es geahnt haben. In seiner Biographie über Andreas Gryphius, die 1737 knapp 73 Jahre nach dem Tod des berühmten Barockautors erschienen ist, erwähnt er eine der verschollenen gryphschen Schriften, die anhand des überlieferten Titels einen ungewöhnlichen, esoterischen Inhalt vermuten lässt: Die Dissertationes de Spectris; die Erklärungen über die Geister. Wohl um Gryphius nicht in seinem Ruf zu schaden, ein kenntnisreicher Gelehrter zu sein, antizipiert Stieff sogleich, dass "unser Gryphius kein Fabel-Hannß, kein Leicht- und abergläubischer Mann war, sondern alles, was er schrieb, nach vorhergegangener accuraten Prüfung dergestalt vortrug, daß man wenig oder nichts dagegen einwenden könnte."1
Es sind vom Jahr 1737 ausgehend noch zehn Jahre bis zu Georg Wilhelm Wegners begründetem, vorsichtigem Zweifel an den Geistererscheinungen im Braunschweiger Collegium Carolinum2 und etwa dreißig Jahre bis zu Immanuel Kants kritischer Betrachtung des Geisterglaubens.3 Doch Stieff lässt mit seinen relativierenden Ausführungen bereits erkennen: Gelehrtentum und der (Aber-)Glaube an Gespenster, das mag im Zeitalter der Aufklärung nicht mehr recht zusammenpassen. Er möchte Gryphius als einen kritischen Geist und Prüfer des Geisterglaubens sehen.
Welches Wissen Gryphius über Geister hatte und wie er den Geisterglauben seiner Zeit bewertet hat, kann nicht vollumfänglich nachvollzogen werden, da sein Geistertraktat verschollen ist. Deshalb hat bereits Gero von Wilpert darauf hingewiesen, dass "an die Stelle der Theorie des Autors die Empirie des Gespensts in Gryphius' Dramen treten"4 müsse. Doch nicht nur in den Dramen finden sich Geister und Gespenster. Spuren lassen sich auch in Gryphius' Grabreden, in dessen Brandbericht Fewrige Freystadt und im Mumientraktat Mumiae Wratislavienses nachweisen. In all diesen Texten zeigt sich, dass Gryphius tatsächlich alles geprüft hat und skeptisch war, was in Bezug auf die Geister wiederum dem zeitgenössischen Wissen entsprach. Wie sich dieses Geisterwissen konstituiert, zeigt die Studie anhand der topischen Struktur von Geister- und Magietraktaten des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, die Gryphius bekannt waren. Dass letztendlich Geistern mehr Glauben als Wissen beigemessen werden muss, war auch frühneuzeitlichen Gelehrten weit vor Kant bewusst. Allerdings setzt sich der Glaube an die Möglichkeit göttlich legitimierter Geistererscheinungen letztendlich immer wieder durch.
Andreas Gryphius ist dabei weder Fabelhans noch Voraufklärer. Wie Gelehrte vor ihm, die sich mit dem Geisterglauben der Zeitgenossen beschäftigt haben, sucht er als Geistergelehrter nach vernünftigen Ausschlusskriterien des Geistersehens, würdigt aber zugleich die Möglichkeit Gottes, die vom richtigen Weg abgekommenen Christen durch das "Schauspiel"5 der Geistererscheinungen zu erschrecken oder ihnen durch Geistererscheinungen als Teil einer ars moriendi den Eindruck einer himmlischen Wonne zukommen zu lassen.
Geister sind für Andreas Gryphius als Geisterpoeten poiesis, also Gemachtes - sei es durch den Geist des Menschen oder durch Gott. Das Welttheater des theatrum mundi, dessen Spielleiter Gott ist, erhält durch die Erscheinungen der Geister, die den Wahn des Menschengeists oder die Vision des Gottesgeistes auch in seiner Emanation des Teuflischen darstellen, eine ambige Sollbruchstelle zwischen irdischer und himmlischer Welt. Gryphius nimmt dies zur Grundlage und macht die theologische Ambiguität der Geister zum poetologischen Programm auf dem Theater: Die theatermaschinelle Gemachtheit der Geister spiegelt sich in der Gemachtheit des Welttheaters, dessen quasi-theatrale Fiktionalität, die das gesamte Dasein umgreift, durch die Geister als Ambiguitätsmaschine repräsentiert und bewusst gemacht wird. Was man also von den Toten(-geistern) lernen kann, wie Gryphius die Sprechinstanz in seinen Gedancken / Vber den Kirchhoff fragen lässt, ist die Erkenntnis, dass die Ambiguität der Geistererscheinungen bzw. ihrer Ausdeutung eine Grenze im Himmlischen findet, mithin jede irdische Rede über Gott und Geister ambig und damit als überwindungsfähig gegenüber einer Gotteserkenntnis jenseits aller Worte anzusehen ist.
Diese Verschränkung von theologischer und poetischer Ebene wird bei Andreas Gryphius über den spiritus ex machina ermöglicht. Der "Geist aus dem Grabe" vertritt als peripetisches Moment den deus ex machina, also den "Gott aus dem Gerüste", wie Gryphius in seiner Vorrede zu Cardenio und Celinde erläutert:
Ob jemand seltsam verkommen dörffte / daß wir nicht mit den Alten einen Gott aus dem Gerüste; sondern einen Geist aus dem Grabe herfürbringen; der bedencke was hin und wider von den Gespensten geschriben.6
Mit dem anschließenden Hinweis auf zwei unbekanntere Gespenstergeschichten aus dem Leimonarion des Johannes Moschus (um 550 bis 620 n.?Chr.), die eine Bestrafung und Bekehrung von Grabräubern durch Wiedergänger erzählen, deutet Gryphius an, dass die Geister zwischen Wahn und Wirklichkeit, Wahrheit und Dichtung stehen und eben nicht nur als traurige Einbildung verlacht werden sollten.7 Der Grund dafür liegt in der ihnen eingeschriebenen, diskursiven Ambiguität, die die Geister aus wissensgeschichtlicher Perspektive aufweisen und die in den Geister- und Gespenstererscheinungen nicht nur repräsentiert, sondern durch die Ambiguitätsmaschine des spiritus ex machina auch produziert wird. Bei dieser These handelt es sich, wie im Folgenden anhand des literaturwissenschaftlichen Forschungsstandes deutlich wird, um eine neue Perspektive auf die Geistererscheinungen in Andreas Gryphius' Dramen, die neben der literarischen Tradition und möglichen Vorlagen auch den frühneuzeitlichen Wissensstand über Geister anhand ausgewählter Geister- und Magietraktate lesbar macht.
Die vorliegende Studie sieht sich zwei eminenten Forschungslücken gegenüber: Erstens fehlt bislang in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Germanistik eine umfassende Arbeit zu Geistern in der Frühen Neuzeit,8 d.?h. eine monographische, wissensgeschichtliche Analyse des Geisterglaubens im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert wurde allgemein noch nicht geleistet. Zweitens gibt es speziell zu den Geistererscheinungen in Gryphius' Trauerspielen nur eine ältere, werkimmanent angelegte, monographische Studie: die Dissertation Die Träume und Geisterscheinungen in den Trauerspielen des Andreas Gryphius und ihre Bedeutung für das Problem der Freiheit von Günther Rühle aus dem Jahre 1952. Anders als der Titel vermuten lässt, behandelt Rühle nur Totengeistererscheinungen, wodurch er die Beschwörung des höllischen Geistes in Leo Armenius9 ausblendet. Die untersuchten Totengeister werden bei Rühle in einen rein heilsgeschichtlichen Kontext gestellt und fungieren als "Werkzeug",10 als Realisierung des "Willen Gottes",11 die der Entscheidungsfreiheit der Antagonisten entgegenstehen. Einschlägig für das Gespenstermotiv auf europäischen Theaterbühnen, über den Autor Andreas Gryphius hinaus, ist die Dissertation Egon Treppmanns Besuche aus dem Jenseits von 1954.12 Sie behandelt die theatralen Geistererscheinungen in einem europäischen Kontext innerhalb des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts aus einer dezidiert positivistischen Perspektive. So werden neben den niederländischen Dramen Joost van den Vondels, die bereits Rühle als Vorlage der gryphschen Trauerspiele berücksichtigt, die englischen Dramen William Shakespeares sowie die lateinischen Jesuitendramen untersucht. Mit Gryphius' und Daniel Caspar von Lohensteins Trauerspielen beschäftigt sich Treppmann mehr exemplarisch, umfangreicher fällt dafür die Sammlung von Gespenstern als "Schaubild"13 in der Oper und auf der Wanderbühne aus.
Seitdem fristen die Geister in der Gryphius-Forschung mehr oder weniger ein Schattendasein. Und doch scheint die Literaturwissenschaft von ihrer eigenen Oblivion heimgesucht zu werden, denn immer wieder wird auf die Vielfalt der Geistererscheinungen in Gryphius' Trauerspielen, wenn eben auch zumeist nur in kurzen Abschnitten, rekurriert. So säkularisiert14 Harald Steinhagen die Trauerspiele Gryphius', mithin das Figurenensemble und hierin ebenso die gryphschen Geister: Wo die Figuren psychologisiert werden, dienen die Geister äquivalent "als bloße poetische Mittel zur Darstellung rein immanenter Phänomene"15. Bei Horst Turk hingegen werden sie strikt...
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