Schweitzer Fachinformationen
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Prolog
Kühle - die Art, die der Frühling am Morgen noch etwas andauern ließ, die wie ein Versprechen auf einen der ersten heißen Tage auf der Haut lag, sich mit Vorfreude mischte, um nackte Füße in zu leichten Schuhen streifte und die impulsive Wahl verzieh. Der Auftakt für Ballerina-Tage, für Tage in luftigen Kleidern, zarten Röcken und Blusen, endlich, Ende Mai. Es war eine sanfte Kühle ohne winterliche Reißzähne, durchwoben vom matten Licht des anbrechenden Tages, und sie machte Anna glücklich. Die junge Frau stand auf der Piazzale Michelangelo und sah auf die Stadt, deren Häusermeer jenseits des Arnos nur als Schattenriss unter ihr lag. Die Spitzen der Bergkette im Osten von Florenz flammten rot auf. Ein schmaler Streifen, der die wenigen Wolken vor dem weißen Himmel für Augenblicke rosa färbte und die Häuser ins Orange tauchte. Das Licht reiste ohne Zeit, die Fassaden zwischen Sand und Ocker glühten von einem Moment zum anderen. Aus der Ferne betrachtet verschwand ihr schleichender Verfall hinter dem goldenen Leuchten - Sandstein, gekalkte Ziegel und rote Dächer. Und wenn Anna sich auf dem menschenleeren Platz hoch über Florenz nach Osten wandte, dann verflüssigte sich das warme Licht der Sonne im Arno und schickte ihn als goldenen Strom gemächlich weiter Richtung Meer. Keine weite Reise, nur über Montelupo Fiorentino, an Empoli vorbei und weiter Richtung Pisa. Doch der Fluss kostete sie aus, diese Strecke. Er schlängelte und wand sich durch die toskanische Hügellandschaft, passierte Olivenhaine, Zypressenalleen und Mohn durchsetzte Wiesen - rauschendes Rot. Er nahm nie den kürzesten Weg.
Annas Blick versank an diesem Morgen in seinem glitzernden Wasser, bis eine Lichtbrechung in einem Fenster der Domkuppel aufblinkte und ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Häusermeer lenkte, il Duomo nahm ein warmes Bad. Jetzt war sie in der Stadt der Blumen, der Wiege der Renaissance, deren Geist sie seit Wochen nachspürte, wirklich angekommen. Anna beendete bald ihr Studium der Gartenbauarchitektur und war mit Vorbereitungen zu ihrer Diplomarbeit beschäftigt - »Italienische Gärten des 16. Jahrhunderts«. In Florenz fühlte sie sich ähnlich befreit wie die Architekten, deren Pläne sie hier studierte. Jene, die wie Brunelleschi, der kühne Konstrukteur der Kuppel der Santa Maria del Fiore, keine Grenzen mehr akzeptiert hatten, eigene und bauliche. In einer Zeit, in der die Naturwissenschaften, die aufblühende Kunst und wiederentdeckte Philosophie der Antike die Enge und Angst zwischen kirchlichem Dogma und weltlicher Macht endlich aufgebrochen hatten, war der Goldschmied zum Baumeister aufgestiegen. Das Individuum rückte in den Mittelpunkt der Betrachtung, und die Erde verschwand aus dem Zentrum des Universums. Galileo Galilei, der »Ketzer«, ließ sie fortan um die Sonne kreisen. Er lag gleich dort unten in Santa Croce, dem »Pantheon von Florenz«, begraben, und mit ihm Machiavelli, Michelangelo und Rossini. Es hieß, der heilige Franziskus habe den Grundstein der Kirche gelegt - doch der Bau begann erst sechzig Jahre nach seinem Tod. Aber wen kümmerten schon Jahrzehnte angesichts der versammelten Jahrhunderte, der großen Geschichte, der Gelehrten und Künstler der Stadt, die dank der Medici und ihrem weltoffenen Geist zum Inbegriff des Aufbruchs geworden war. Ein Aufbruch, wie er auch Anna bevorstand, nur vertagte sie ihn noch ein wenig.
Anna betrachtete die schlafende Stadt unter sich, den fernen Palazzo Vecchio - das heutige Rathaus -, von dem sie jeden Stein aus ihren Architekturführern kannte, und spürte, dass ihr Leben jetzt an einem Wendepunkt stand. Denn wie Michelangelo oder da Vinci, deren unvollendete Werke dort unten überdauerten, kannte auch sie das Gefühl, sein Herz bereits an ein neues Projekt zu hängen, während das alte noch alle Aufmerksamkeit zu binden versuchte. Die Begeisterung eilte auch ihr immer ein Stück voraus und riss ihr Herz mit. In dieser Stadt schlug es schneller.
Der Ponte Vecchio griff unweit des Rathauses über den Arno. Die kleinen Juwelierläden, die sich zu beiden Seiten an die Brücke klammerten, auf ihr stapelten, eng und dreistöckig, waren noch geschlossen, die Stadt unter Anna stand still. Sie überlegte, ob das der Zustand war, in dem auch sie sich gerade befand. Blieb sie einfach nur für einen Moment stehen, um dann genauso weiterzumachen wie zuvor? War ihr Aufenthalt in Florenz nur eine kurze, unbedeutende Zäsur? Oder würde sie etwas mit nach Hause nehmen, das ihr Leben veränderte, etwas von dem, was Florenz ihr erzählte? Versuche es! Gestalte dein Schicksal! Genieße den Tag.
Zu dieser frühen Stunde fuhren noch keine Autos in den Straßen, keine Busse, hier oben auf dem weitläufigen Platz war Anna allein. Doch schon in wenigen Stunden würden Touristen aus aller Welt im Laufschritt den weltberühmten David bestaunen, ohne zu verweilen, ohne einzutauchen in den Schaffensprozess des Bildhauers, die Statue nur durch die Linse des Fotoapparats betrachtend, als Hintergrund für ein Lächeln im Album »Florenz-Pisa-Rom in drei Tagen«. In der Rückschau überlagerten sich die eiligen Bilder und verschwammen zu Italien, Hitze, Kunst und Pizza. Die Bronzekopie des Jünglings mit den gewöhnungsbedürftigen Proportionen, der ursprünglich für die Ansicht in großer Höhe, außen an der Domfassade, konzipiert worden war, erinnerte Anna heute an einen anderen Körper, wärmer als dieser, anschmiegsam, fordernd, und sie dachte an andere Hände, kräftige, zärtliche Hände, die einen Zeichenstift hielten - Giovanni. Er war Kunststudent oder Lebenskünstler, sie fragte ihn nicht. Es genügte ihr zu wissen, dass ihr Körper unter seinen Berührungen brannte, glühte wie Florenz in der Mittagssonne. Und es gab keinen Schatten in seinem Blick, der sie vor dieser Hitze gerettet hätte. Wenn er sie küsste, verging sie und erstand wieder neu, ein Phönix aus der Asche der eigenen Lust. Anna war ihm gleich zu Beginn ihres Urlaubs am Arnoufer begegnet, ein Skizzenbuch auf seinen Knien, das dunkle Haar halb lang und ungebändigt. Er malte die Boote auf dem Fluss und sah wieder und wieder zu ihr herüber, um sie fachkundig zu vermessen. Ihr schmales Gesicht mit der langen, geraden Nase, die veilchenblauen Augen - sein Kohlestift erlaubte ihm nicht, diese Farbe einzufangen -, ihr breiter, nicht zu voller Mund. Das ganze Ebenmaß ihrer Erscheinung war von ellenlangem, gewelltem dunkelblondem Haar umgeben, nach dem sich jeder Mann umdrehte. »Kann es sein, dass Botticelli Sie schon einmal gemalt hat, Signorina?«, hatte er sie gefragt, denn Anna sah Simonetta Vespucci, Sandro Botticellis Vorlage für seine Geburt der Venus, ungemein ähnlich. Der üppige Busen, die schlanke Taille, die sinnlichen Hüften.
»Für wie alt halten Sie mich?«, hatte sie entrüstet entgegnet.
»So alt wie die Welt, schöne Venus«, hatte er geantwortet und ihr Lakritzpastillen angeboten. Und während Anna noch nach einer schlagfertigen Antwort gesucht hatte, hatte er sie bereits genüsslich skizziert und später darunter »la mia Venere«, »meine Venus«, notiert. Darüber hatte sie Cornelius und ihre Eltern für einen Moment vergessen und das Gefühl, an den Erwartungen zu ersticken, die sie zu Hause bedrängten, ein Gefühl, das sie sonst nur in zu engen Räumen überfiel. In überfüllten Hörsälen litt sie, in ihrer Wohnung öffnete sie zu jeder Jahreszeit und über Stunden die Fenster und vermied es, in Restaurants zu gehen, außer im Sommer, wenn sie draußen sitzen konnte. Ja, sie musste sogar in ihrem alten Cabrio, einem Käfer, Baujahr 1965, die Seitenfenster herunterkurbeln, solange das Dach geschlossen blieb. Die Sitze des cremefarbenen Wagens waren mit rotem Kunstleder bezogen, die Stoßstangen verchromt. Es war eines der ersten Modelle mit Außenspiegel auf der Fahrerseite und schon fast historisch. Anna liebte das Geräusch des luftgekühlten Boxermotors. Das regelmäßige Schnurren und leichte Rasseln klang wie ein Versprechen, es gab ihr das Gefühl, unterwegs zu sein, ungebunden. So wie hier auf ihren ausgedehnten Spaziergängen durch den Giardino di Boboli, den Garten der Villa Bardini oder den des Palazzo Medici Riccardi, wenn sie alleine war und mehr Baum als Mensch, mehr Gras und Stein, Regen und Wind als Lebensgefährtin und zukünftige Ehefrau, Element statt Wesen. Hier fühlte sie sich leicht und unbelastet von Zwängen und zu frühen Versprechen, schließlich war sie erst vierundzwanzig.
Die ersten Händler kamen und öffneten ihre Verkaufsstände auf der Piazzale. Anna stieg in ihren Käfer und fuhr zurück in die Stadt. Sie wollte sich den Tag über treiben lassen und im Viertel Oltrarno zu Mittag essen und ein Glas Weißwein trinken, dort, wo Florenz noch ursprünglich war und die Preise moderat. Vielleicht würde sie die Siesta auf dem Balkon ihres kleinen Hotelzimmers verbringen und ihre Notizen und Skizzen sortieren. Oder sie würde sich durch die Accademia schieben lassen und dort den David im Original bestaunen, in Erwartung ihres Treffens mit Giovanni jeden steinernen Muskel des Giganten mit hungrigen Blicken nachfahren, genau wie sein Schöpfer vor fast fünfhundert Jahren, nachdem er ihn aus dem groben, verhauenen Block befreit hatte. Anna wollte den kräftigen Oberkörper der Statue mit dem gleichen Verlangen streifen wie einst Michelangelo, die starken Arme, die verheißungsvolle Lendenpartie - Stein, Fleisch und Tagtraum, versponnen zu einer kleinen erotischen Fantasie. Sie gönnte sich in diesen Tagen die sinnliche Wahrnehmung der Bilder und Skulpturen, legte ihre Kunstführer zur Seite und trank die Farben und Formen wie Wein. Sie ließ sich...
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