Schweitzer Fachinformationen
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Matt Pine
»Harte Nacht gehabt? Du siehst aus, als hättest du hier draußen bei uns geschlafen.«
Matt hielt den Blick auf das Schachbrett gerichtet und achtete nicht weiter auf den wettergegerbten Schwarzen, der ihm an dem zerschrammten Tisch im Washington Square Park gegenübersaß.
»Ist dir gar nicht kalt? Wo ist denn deine Jacke ?«
»Sei still, Reggie«, erwiderte Matt und machte eine Handbewegung, um die Fragen seines Gegenübers zu verscheuchen. »Ich versuche mich zu konzentrieren.« Dann widmete er sich wieder der Planung seines nächsten Zuges. Eine kühle morgendliche Brise wehte durch den Park, und Matt rieb die Handflächen aneinander. Es war viel zu kalt für April.
Reggie ließ ein belustigtes Knurren hören. »Lass dir ruhig Zeit, von mir aus den ganzen Tag. Spielt sowieso keine Rolle.«
In den letzten zwei Jahren hatte Matt keine einzige Partie gegen den obdachlosen Bobby Fischer des East Village gewonnen. Er hätte gerne gewusst, wodurch dieser hochintelligente Mann auf der Straße gelandet war, aber er fragte ihn nicht danach. Er zog seinen Läufer und schlug Reggies Bauern auf g7.
Reggie schüttelte den Kopf, als hätte Matt ihn gerade enttäuscht. Den Blick auf das Brett gerichtet, fragte er ihn: »Kommst du vielleicht gerade von einer Party zurück, oder so?«
»Ja, genau, von drüben in der Goddard.« Matt wies mit einer Kopfbewegung auf die Goddard Hall, einen blassbraunen Backsteinblock gleich neben dem Park.
»In der Goddard? Hast dich wohl bei den Studienanfängerinnen rumgetrieben, was?«, sagte Reggie mit einem rauen Lachen. Er wusste mehr über die New York University als die meisten Uniabsolventen. Vielleicht war es ja das, vielleicht war er früher selbst mal Student hier gewesen.
Es war schon eigenartig, weil Matt immer wieder die Erfahrung machte, dass die Menschen sich ihm gegenüber öffneten und ihm ihre Lebensgeschichten, ihre Geheimnisse, ihre Probleme anvertrauten. Wahrscheinlich hatte er einfach so eine Ausstrahlung. Oder es lag daran, dass er lieber zuhörte und beobachtete als redete. Und Reggie konnte reden, Mannomann. Trotzdem hatte er in seinem unablässigen Wortschwall noch nie einen Hinweis auf sein Leben vor dem Park entdeckt. Dabei hatte Matt nach solchen Anzeichen regelrecht gesucht. Reggie besaß zum Beispiel eine grüne, militärisch aussehende Tasche, also war er vielleicht ein ehemaliger Soldat. Seine Hände und seine Fingernägel waren immer makellos sauber, also hatte er vielleicht im medizinischen Bereich gearbeitet. Sein Straßenslang wirkte manchmal authentisch, manchmal aber auch aufgesetzt. Womöglich verbarg er seine wahre Identität, war ein Krimineller auf der Flucht. Oder er war ein Typ mit einem harten Schicksal, der gerne Schach spielte und keine Notwendigkeit sah, sich gegenüber einem nervtötenden Collegestudenten für sein Leben zu rechtfertigen.
»Respekt. Die ganze Nacht mit irgendwelchen Mädels unterwegs.« Reggie kicherte erneut. »Aber was sagt die hübsche Rothaarige dazu?«
Eine berechtigte Frage. Allerdings hatte die hübsche Rothaarige sich gestern von Matt getrennt. Darum die viel zu vielen Drinks in der Bar 13. Darum die Afterparty in der Goddard und das anschließende ausgelassene Treiben ein paar Stockwerke weiter oben mit Deena (oder Dana?). Darum schon um sieben Uhr morgens mit Brummschädel im Park und nicht in seinem Wohnheimzimmer - seine Schlüsselkarte, sein Zimmerschlüssel und sein Handy steckten in seiner Jacke, und die war spurlos verschwunden.
Reggie zog seinen Turm nach g8 und ließ ein zufriedenes, gelbes Lächeln sehen. »Ich beginne mich langsam zu fragen, wie du es geschafft hast, in diese wunderbare Institution aufgenommen zu werden.« Reggie warf einen Blick auf das Verwaltungsgebäude mit den im Wind flatternden lilafarbenen Flaggen der NYU.
»Allmählich hörst du dich an wie mein Vater«, erwiderte Matt. Er zog seinen Turm nach e1 und sah Reggie an. »Schach.«
Reggie zog seinen König nach d8, aber es war zu spät.
Die Dame nach g3, und das bedeutete unausweichlich: Schachmatt.
»Verd.«, sagte Reggie. Dann rief er einem Spieler an einem der anderen Tische zu: »He, Elijah, was sagst du dazu? Affleck hat mich geschlagen.« Reggie nannte Matt immer nur »Affleck«. Das war seine abfällige Kurzform für »weißes Bürschchen«.
»Nehmt euch in Acht vor dem Schweiger«, deklamierte Reggie im Tonfall eines Predigers. Es klang wie ein Zitat, auch wenn Matt nicht wusste, woher es stammte. »Denn während andere reden, beobachtet er. Und wenn sie endlich schweigen, schlägt er zu.«
Reggie ließ einen zerknüllten Geldschein auf den Tisch fallen.
»Ich will dein Geld nicht haben.« Matt stand auf und dehnte seinen Rücken, bis es knackte.
»Du nimmst das jetzt, verdammt noch mal«, erwiderte Reggie und schnipste den Schein in Matts Richtung. »Du bist Filmstudent, du wirst es noch brauchen.« Noch ein Kichern.
Zögerlich griff Matt nach dem Geld, hob den Blick und nahm die dunkle Wolkenfront wahr, die sich allmählich über die Stadt legte. Er liebte den Duft des unmittelbar bevorstehenden Regens. »Dann komm wenigstens mit in die Mensa, damit ich dir ein Frühstück spendieren kann. Ich hab noch ein paar Gutscheine übrig.«
»Ach, lieber nicht«, erwiderte Reggie. »Beim letzten Mal waren die ja nicht so begeistert .«
Er hatte recht. Der Salonliberalismus hatte seine Grenzen, wie Matt im Zusammensein mit der privilegierten Studentenschaft an der New York University zur Genüge erfahren hatte. Die meisten seiner Kommilitonen betrachteten ihn, unpolitisch und aus dem Mittelwesten stammend, als merkwürdigen Kauz.
»Scheiß auf die«, sagte Matt und bedeutete Reggie, ihm zu folgen. Da hörte er in seinem Rücken eine vertraute Stimme.
»Da bist du ja. Wir haben dich schon überall gesucht.«
Matt drehte sich um und erkannte den Hauswart aus seinem Wohnheim. Was wollte der denn von ihm? Phillip ließ sich normalerweise nur blicken, wenn die Musik zu laut war oder es im Flur nach Gras roch.
»Da sind ein paar Bundesagenten im Wohnheim«, sagte Phillip, und seine Stimme klang besorgt. »Die wollen dich sprechen.«
»Agenten?«
»Ja, genau. Vom FBI. Seit sechs Uhr. Sie haben gesagt, dass du nicht ans Handy gehst.«
»Was wollen die von mir?«, erkundigte sich Matt. Vermutlich ging es um seinen großen Bruder. Seit dieser gottverdammten Dokumentarserie ging es immer nur um Danny.
»Ich weiß nicht. Aber falls du da im Wohnheim irgendwelche illegalen Sachen machst, kann ich dir nicht .«
»Entspann dich, Mann. Mache ich nicht .« Matt hielt inne und holte tief Luft. »Danke, dass du mir Bescheid gesagt hast. Ich kümmere mich drum. Mal sehen, was die von mir wollen.«
Phillip seufzte genervt und trollte sich.
»Hast du Schwierigkeiten?«, wollte Reggie wissen.
»Ich sollte wohl zusehen, dass ich genau das rauskriege. Verschieben wir das mit dem Frühstück?«
Reggie nickte. »Sei bloß vorsichtig, Affleck. Wenn Bundesagenten um sechs Uhr morgens vor deiner Tür stehen . das kann nichts Gutes bedeuten.«
***
Eine halbe Stunde später saß Matt auf dem schmalen Bett in seinem Wohnheimzimmer. Alles drehte sich im Kreis.
Die FBI-Agentin, die das Gespräch leitete - Matt hatte ihren Namen vergessen -, fing wieder an zu reden. Aber bei Matt kam nur Kauderwelsch an. Als er keine Antwort gab, ging sie mit besorgtem Gesichtsausdruck vor ihm in die Knie. Ihr Partner, ein schlanker Mann in einem dunklen Anzug, hielt sich im Hintergrund und trat pausenlos von einem Fuß auf den anderen.
»Ich habe mit dem Dekan gesprochen«, sagte die Agentin. »Die Uni besorgt Ihnen eine Trauerberatung. Und was Ihre Anwesenheitspflicht an der Uni angeht, da brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen.«
Matt wollte aufstehen, aber seine Beine versagten den Dienst. Das Blut schoss ihm in den Kopf. Die Agentin half ihm, sich wieder aufs Bett zu setzen.
»Alle?«, wollte Matt wissen. Sie hatte es ihm schon zweimal gesagt, aber er konnte es nicht glauben.
»Es tut mir sehr, sehr leid.«
Mom.
Dad.
Maggie.
Tommy.
Er stand wieder auf, stieß irgendwelche Worte hervor und stolperte schließlich ins Badezimmer, ließ sich auf die Knie fallen und übergab sich in die Toilette. Er legte die Hände um die schmutzige Schüssel. Wie lange war er schon hier? Er wusste es nicht.
Irgendwann hörte er ein leises Klopfen an der Tür.
»Bin gleich so weit«, brachte er mühsam hervor. Dann hielt er sich am Waschbecken fest und hievte sich auf die Beine, drehte das Wasser auf und spritzte sich etwas davon ins Gesicht. Anschließend starrte er sein Spiegelbild an. Er sah genauso aus, wie er sich fühlte.
Als er ins Zimmer zurückkam, war nur noch die Agentin da. Ihr Partner hatte sich in der Zwischenzeit verzogen.
»Wie kann so was passieren?«, hörte Matt sich fragen. Seine Stimme klang heiser und sehr weit entfernt.
»Man geht davon aus, dass es ein Unfall war, eine undichte Gasleitung. Aber genau das wollen wir herausfinden. Das FBI und das Außenministerium haben bereits erste Schritte in die Wege geleitet. Wir haben mit den mexikanischen Behörden Kontakt aufgenommen. Mir ist klar, dass es kaum einen schlechteren Zeitpunkt dafür gibt, aber ich muss Ihnen leider ein paar Fragen stellen.«
Matt setzte sich wieder und nickte zum Zeichen, dass er bereit...
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