Wie findet man einen wahren Freund?
Torge ist neun Jahre alt und wohnt mit seiner Mama, seinem Papa und seiner großen Schwester Kirstin in einer ruhigen kleinen Stadt. Die Familie hat ein kleines Haus mit einem schönen Garten in einer netten Wohnstraße. Nicht so schön ist, dass es in der Nachbarschaft keine Freunde für Torge gibt. Alle anderen Kinder hier sind viel älter oder viel jünger als Torge. Er hat aber einen besten Freund. Dieser Freund heißt Boris und ist noch acht Jahre alt, wird aber auch bald neun. Leider wohnt er ganz am anderen Ende der Stadt. Aber die Stadt ist ja klein und beide Freunde fahren sehr gut Fahrrad.
So schaffen sie den Weg zwischen ihren Häusern in 15 Minuten und können sich oft besuchen. Zusammen gehen sie gern schwimmen, fahren Rad, hören Musik oder gehen auf den Abenteuerspielplatz der Stadt. Torge und Boris sind schon seit dem Kindergarten beste Freunde. Dummerweise sind sie nicht in derselben Schulklasse. Boris wurde ein Jahr später eingeschult als Torge. Er ist jetzt erst in der zweiten Klasse, aber Torge ist schon in der dritten Klasse. Das finden die beiden Jungen sehr schade.
Besonders für Torge ist das nicht schön, weil er in seiner Klasse keine Freunde hat. Mit den Mädchen versteht er sich eigentlich ganz gut. Aber in der Freizeit wollen sie sich nicht mit ihm treffen und auch auf dem Schulhof möchten sie das nicht so gern. Denn sie finden es komisch, wenn ein Junge mit zu einer Mädchengruppe gehört. Torge findet das schade, aber er kann sie ja nicht zwingen, mit ihm befreundet zu sein. Die Jungen in Torges Klasse sind alle sehr laut, schreien und rangeln oft und benutzen viele Schimpfwörter. Viele von ihnen spielen auch gewalttätige Computerspiele. Torge mag so etwas nicht.
Er ist ein sehr ruhiger Mensch und liebt den Frieden. Er sagt immer: "Es gibt viel zu viel Krieg und Gewalt auf der Welt. Warum muss man immer streiten und sich wehtun? Es wäre doch viel schöner, wenn alle gut miteinander umgehen würden." Seine Mitschüler verstehen Torges friedfertige Art nicht und manche lachen ihn sogar dafür aus.
Aber Torge findet es mittlerweile gar nicht mehr so schlimm, dass er keine Freunde in seiner Klasse hat. Mit seinen neun Jahren ist er schon ziemlich reif und sagt: "Wenn sie mich nicht verstehen, dann verstehen sie mich eben nicht. Ich möchte nicht so sein wie die anderen, nur um von ihnen gemocht zu werden. Ich weiß, dass meine Einstellung richtig ist, und ich bleibe dabei." Seine Eltern, seine Schwester Kirstin und auch Boris bewundern ihn für diese starke Art. Aber Torge sagt: "Allein wäre ich vielleicht gar nicht so stark. Aber ich habe ja auch noch euch. Wir halten zusammen, das ist wichtig."
Boris hat in seiner Klasse ein paar Freunde, mit denen er sich auch manchmal in der Freizeit trifft. Torge hat damit kein Problem und vertraut darauf, dass die Freundschaft der beiden ewig hält. Es ist für ihn auch nicht schlimm, wenn Boris mal keine Zeit für ihn hat, denn er findet immer etwas zu tun. Er liest und zeichnet sehr gern, aber vor allem kümmert er sich sehr gern um den schönen Naturgarten der Familie. Denn er findet nicht nur, dass alle Menschen gut miteinander umgehen sollten, sondern dass man auch gut für alle Tiere und Pflanzen sorgen und respektvoll mit ihnen umgehen sollte. Er interessiert sich sehr für die Natur und weiß, dass viele Tiere und Pflanzen auf der Welt vom Aussterben bedroht sind, sogar hier bei uns in Deutschland. Alle in seiner Familie teilen Torges Liebe zu Tieren und Pflanzen. Seine Eltern sind beide Tierärzte und haben zusammen eine Praxis. Seine Schwester Kirstin, die schon 14 Jahre alt ist, hilft an zwei Nachmittagen pro Woche im Tierheim. Alle in der Familie achten auf ihren Wegen auch immer darauf, wo Tiere oder Pflanzen Hilfe brauchen.
Torge verbringt viel Zeit im Garten und hat schon mehrere Nistkästen für Vögel, ein Insektenhotel und ein Igelhotel gebaut. Er ist handwerklich sehr begabt. Als er kleiner war, wollte er Tischler werden und schöne einzigartige Möbel bauen. Aber inzwischen möchte er lieber Tierarzt werden oder vielleicht auch Naturforscher. Ganz genau weiß er es noch nicht, aber er hat ja auch noch Zeit, um es sich zu überlegen.
Auf jeden Fall ist ihm klar: "Ich will später mit meinem Beruf etwas tun, um Tieren oder Pflanzen zu helfen. Möbel bauen kann ich ja auch noch in meiner Freizeit." Die meisten Kinder in seiner Klasse verstehen Torges Liebe zu Tieren und Pflanzen genauso wenig wie seine friedliche, freundliche Art gegenüber Menschen. Torge hat öfters versucht, ihnen zu erklären, dass die Menschen eine Verantwortung für die Tiere und Pflanzen und überhaupt für die ganze Natur haben, aber inzwischen hat er es aufgegeben. "Pure Energieverschwendung!" denkt er nur noch genervt.
Leider hat auch Boris nicht so viel für Tiere und Pflanzen übrig. Bei seinem besten Freund kann Torge das nicht so gut verkraften, aber er versucht, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. In letzter Zeit sehen sich Torge und Boris auch immer seltener. Das ist auch Mama, Papa und Kirstin schon aufgefallen.
Beim Abendbrot fragt Kirstin: "Was ist denn eigentlich mit dir und Boris los? Ihr wart doch früher immer zusammen. Habt ihr euch gestritten?" Torge antwortet: "Nein, du weißt, ich mag keinen Streit. Boris hat eben auch noch andere Freunde und andere Interessen." Mama, Papa und Kirstin gucken sich ein wenig besorgt an, aber bohren nicht weiter nach.
Im Stillen ist Torge schon ein bisschen traurig, dass sein bester Freund nur noch so wenig Zeit für ihn hat. Noch schlimmer findet er aber, dass es Boris egal ist, wie es den Tieren und Pflanzen geht. Die beiden Freunde haben sich wirklich schon manchmal fast deswegen gestritten. Boris hat nämlich die dumme Angewohnheit, seinen Müll unterwegs einfach irgendwo in die Landschaft zu werfen. Torge hat ihm erklärt, dass Tiere sich daran verletzen können oder sogar sterben können, wenn sie den Müll fressen. Da hat Boris nur gesagt: "Wenn die so blöd sind, sind die selbst schuld." Torge hat seinen Ohren nicht getraut. Was ist bloß mit seinem besten Freund los? Aber er will trotzdem weiter an die Freundschaft glauben und auch daran, dass Boris irgendwann vernünftig wird und gut mit Tieren, Pflanzen und der ganzen Natur umgeht.
Im Moment hat Boris aber ganz andere Interessen. Er spielt neuerdings auch Computerspiele wie die anderen Jungen. "Warum machst du das? Was ist so toll daran?" hat Torge ihn gefragt. Boris hat geantwortet: "Alle machen das doch. Das muss man einfach machen, um cool zu sein." Torge hat nur den Kopf geschüttelt: "Nein, muss man nicht. Cool ist, wenn man etwas Gutes für die Welt tut und zu sich selbst steht." Da hat Boris ihn nur verständnislos angeguckt.
Auch heute hat Boris mal wieder keine Zeit für Torge. Es ist ein Montag und der erste Tag der Frühjahrsferien. Torge hatte eigentlich gehofft, dass er mit Boris auf den Abenteuerspielplatz gehen kann. Jetzt denkt er: "Na gut, wenn Boris lieber am Computer rumhängt bei dem Wetter, dann ist das seine Sache. Ich gehe jetzt raus und habe trotzdem meinen Spaß." Mama und Papa müssen auch in den Ferien arbeiten, denn ihre tierischen Patienten brauchen immer Hilfe. Kirstin ist heute bei ihrer besten Freundin.
Also will Torge sich allein einen schönen Tag machen. Das Wetter ist wirklich herrlich, fast schon wie Sommer. Zum Abenteuerspielplatz muss Torge ein Stück durch die Stadt gehen. Er nimmt heute nicht das Fahrrad, denn er hat ja viel Zeit. Die Straßen sind fast leer, kaum ein Mensch ist unterwegs. Torge wundert sich ein bisschen, aber denkt dann: "Bei dem tollen Wetter sind bestimmt viele ans Meer gefahren. Es sind ja Ferien." Er freut sich, dass er nicht so vielen Leuten begegnet und dass kaum ein Auto unterwegs ist. Er liebt ja die Ruhe.
Doch plötzlich, als er durch eine kleine Straße geht, ist es gar nicht mehr so ruhig. In der Straße gibt es einige alte Häuser und in einem davon befindet sich eine Arztpraxis. Von Weitem sieht Torge, dass vor der Arztpraxis drei Kinder stehen, die komische Geräusche machen und dazu lachen. Er hört auch das Jaulen und Fiepsen eines Hundes. Was passiert da? Torge ist alarmiert. Er fängt an zu laufen, um schnell zu dem Hund und den Kindern zu kommen. Sonst ist niemand in der Nähe. Im Laufen erkennt er, was da los ist. Die Kinder ärgern den armen kleinen Hund, der vor der Arztpraxis angeleint ist.
Sie äffen sein Jaulen und Fiepsen nach und machen auch Geräusche, als würden sie bellen. Dabei stehen sie in bedrohlicher Haltung vor dem kleinen Hund. Der Hund hat sich an die Mauer gedrückt und weint herzzerreißend. Torge kann es kaum ertragen. Schon von Weitem ruft er: "Ey, ihr da, lasst sofort den Hund in Ruhe!"
Die Kinder drehen sich um, sodass Torge ihre Gesichter sieht. Und Torge traut seinen Augen kaum. Wen sieht er da? Seinen besten Freund Boris und zwei Jungen aus seiner Klasse. Boris guckt etwas erschrocken, aber seine zwei Freunde kehren sich wieder um und ärgern den Hund weiter. Jetzt ist Torge endlich da. "Boris, sag mal, spinnst du?" schreit er seinen Freund an.
Normalerweise schreit Torge nicht, aber selbst der ruhigste Mensch gerät mal an seine Grenzen. Die beiden anderen Jungen ärgern immer noch den Hund. Torge stellt sich zwischen das arme kleine Wesen und die gemeinen Jungen und sagt in festem Ton: "Ihr hört jetzt sofort auf damit! Habt ihr mich verstanden?" Die Jungen lachen: "Was willst du denn tun? Du magst doch keine Gewalt."
Boris steht daneben und grinst blöd. Torge muss sich wirklich beherrschen, um nicht zu vergessen, dass Gewalt keine Lösung ist. Ruhig holt er sein Handy aus der Tasche und sagt: "Ich werde die...