Schweitzer Fachinformationen
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Irgendwo hier, verborgen hinter Wänden, lag mein Vater Fred. Schicksalsergeben. Hingestreckt. Im Tunnellicht des Todes, die Augen zahlloser OP-Leuchten auf ihn gerichtet. So stellte ich ihn mir zumindest vor. Ich saß draußen, alleingelassen mit meiner Phantasie im Wartebereich der Notaufnahme des Hetzelstifts. Mit verknoteten Fingern verharrte ich im Krankenhausflur, einem mintgrünen Halogenschacht, und es war warm. Nicht diese Ich-zupf-ein-bisschen-an-meinem-Hemd-Wärme: Ich fühlte mich, als säße ich in der prallen Sonne.
Die Ellenbogen hatte ich auf meinen Beinen abgestützt, mein Kopf baumelte am Rumpf herab, ich zählte jeden meiner warmen Atemzüge. Dann spürte ich plötzlich Opa Fidus' Arm um meine Schultern. Ich musste nicht aufblicken, um zu wissen, dass er es war, der sich neben mich auf die Bank gesetzt hatte. Seit ich ein kleines Kind war, zog er denselben Geruch mit sich. Ein Duft, als käme er gerade aus dem Wald in den Hausflur geschneit, im Schlepptau eine frische Brise - hatte meine Mutter ihn angerufen? Sie musste ihn angerufen haben.
Ich hob den Blick, sah ihn aber nicht an, weil ich wusste, dann würden mir die Tränen kommen. Ein Patient, das Gesicht so faltig wie ein Speckbrot, patrouillierte unaufhörlich in einem dunkelbraunen Bademantel den Flur auf und ab. Er wirkte grimmig wie ein Grenzbeamter und hatte den Infusionsständer wie ein Gewehr zwischen Oberkörper und Arm geklemmt. Die Gummisohlen seiner Sandalen quietschten auf dem Linoleumboden. Kurz blieb er stehen und schaute mit zusammengekniffenen Augen den Gang hinab, als blinzelte er durch eine Schießscharte. Er beobachtete einen blassen Mann mit pomadigem Haar, der mit einem zerfledderten Blumenstrauß den Gang hinaufstürmte. Er stellte sich einer Schwester in den Weg. Mit einer Stimme wie eine Sprungfeder erkundigte er sich nach der Säuglingsstation. Sie zeigte nach rechts. Er rannte nach links.
Opa brummte. Ich schloss kurz die Augen, war unendlich erleichtert, nicht mehr alleine zu sein, fühlte mich fast geborgen, hier, an diesem unwirtlichen Ort. Es kribbelte in meiner Nase, ich war kurz vorm Heulen. Da war jemand, der mit mir die Last schulterte. Ich holte Luft, schaute ihn gefasst an, und klar, keine Frage, ich erwartete, in einen bekümmerten Gesichtsausdruck zu blicken, eine von Sorgen zerfressene Miene. Mitfühlend, todtraurig, beängstigt, bestürzt, gepeinigt, zermürbt, wenigstens betroffen, all das hätte im Bereich des Fassbaren gelegen. Stattdessen schaute ich in strahlende hellblaue Augen. Opa lächelte.
Alles in allem schien er bester Dinge zu sein. Als würde er gleich seine Lippen spitzen und ein Liedchen pfeifen. Seine weißen, zottigen Augenbrauen klebten wie Topfschwämme an seiner Stirn, sogar aus seinen Ohren standen die Haare heraus, als hätte ihm jemand zwei bauschige Trichterchen in die Gehörgänge gesteckt. Sein kreideweißer Haarkranz war halbordentlich nach hinten gekämmt, die Haut unterhalb seines Kinns hatte sich verselbständigt und hing herab wie ein windgegerbtes Segel - aber seine Augen leuchteten schelmisch, wie eh und je. Zu seinen Füßen hatte er eine Tüte abgestellt. Was passiert war?
Mein Vater war tot.
Opas einziger Sohn.
Zumindest war das der letzte Stand der Dinge.
Herz schlägt nicht.
Herz schlägt.
Noch drei Stunden zuvor war ich mit ihm in den Ritter gegangen, eine alteingesessene Gaststätte nahe unserem Haus. Papa aß Schnitzel, trank Apfelschorle. Wir saßen in einer kleinen Nische, die an den Festsaal angrenzte. Alles wie immer. Er war vielleicht etwas blasser als sonst. Als wir auf das Bananensplit warteten, bemerkte ich den Schweiß in seinem blutleeren Gesicht. Er tupfte sich mit der Serviette ab, schien sich unwohl zu fühlen. Er rutschte auf der Bank hin und her. Öffnete den obersten Knopf seines Hemdes, lockerte seinen Gürtel. Er entschuldigte sich schließlich, wollte wahrscheinlich zu den Toiletten. Stattdessen klappte sein Kopf nach hinten weg, einfach so, nach hinten weg, dann kippte er von der Bank.
Ich sprang auf, stieß an die Tischkante. Gläser fielen scheppernd um. Die Blumenvase drehte eine Pirouette. Doch noch bevor ich mich befreit hatte, war ein anderer Mann bei meinem Vater. Er legte ihm das Ohr an den Mund. Mit aller Kraft warf er sich plötzlich auf seine Brust. Er legte die Hände übereinander, drückte fest nach unten, pumpte und pumpte in kurzen Abständen. Mir schwindelte. Die Menschenmeute drehte sich gaffend um mich. Der Wirt kam mit Schürze aus der Küche gerannt. Er blickte ein paar Sekunden zu seiner Kellnerin, die verdattert versuchte, die Notrufnummer in das Funktelefon einzugeben, aber immer wieder abbrach, weil sie sich vertippte. Der Wirt riss es ihr schließlich aus der Hand, und kurz hasste ich meine Wankelmütigkeit, mein ewiges Zaudern und Hadern - wieso war ich nicht am Telefon?
Wieso hielt ich meinem Vater nicht die Hand?
Wieso blaffte ich nicht die ganze gaffende Menge an, Abstand zu halten?
Als die Sanitäter in die Gaststätte trampelten, sagte jemand »Herzstillstand«.
Das Wort stand kurz wie der Rauch einer ausgeblasenen Kerze im Raum.
Löste sich auf, langsam um sich selbst wirbelnd.
Opa umfasste meine Schulter etwas fester. Er rüttelte kurz an mir, als sei ich ein Pflaumenbäumchen, beugte sich etwas zu mir herüber und flüsterte: »Schön dich mal wieder zu sehen, Junge, ri-ch-tig schön!«
»W-was?«
»Stimmt es, dass du eine neue Flamme hast? Na, na, musst du jetzt gar nicht leugnen. Das hat mir Marie vorhin am Telefon erzählt«, sagte Opa Fidus. Marie. Meine Mutter. Er stupste mich mit dem Ellenbogen an. »Und deine Herzensdame kommt euch nächste Woche sogar besuchen. Aus Amerika. Mensch, Mensch. Du bist ein richtiger Globetrotter geworden, Alo. Lerne ich sie dann auch mal kennen?«
Ich blickte ihn entgeistert an, er wartete anscheinend ernsthaft auf eine Antwort.
»Wie heißt sie denn?«, fragte Opa weiter.
»Bintou.«
»Wie?«
Opa nickte. »Toll. Deine Mutter wird übrigens vor morgen früh nicht da sein, soll ich dir ausrichten, aber sie ist auf dem Weg«, sagte er, nahm seinen Arm von meinen Schultern und machte es sich etwas bequemer.
Da war er also. Der Altersstarrsinn. Die senile Brüchigkeit, die irgendwann jedem Geist den ersten Riss zufügte. Fidus hatte die Situation nicht im Geringsten erfasst. Oder er war übergeschnappt? Dabei war er eigentlich zeitlebens bei Verstand, aber irgendwann musste es ja so weit kommen. Wie alt war er jetzt? Dreiundneunzig? Wann hatten wir uns das letzte Mal gesehen? Vor drei Jahren? Zu seinem Neunzigsten? War das möglich?
Irgendetwas brodelte in mir. Ich wusste nicht, ob es maßlose Wut oder unendliche Trauer war. Ich blickte Opa an, wusste nicht, was ich tun sollte. Und offen und ehrlich: Genau genommen kannte ich diesen Mann nicht einmal richtig. Die ersten Jahre meines Lebens, in denen Opa Fidus mit meiner Oma Klara noch in einem Märchenhaus gelebt hatte, war er immer eigenartig distanziert gewesen, immer lustig und gut aufgelegt, voll unbändiger Lebensfreude, er war ständig spazieren, bei Wind und Wetter, aber an mir schien er kein sonderliches Interesse gehabt zu haben, außer vielleicht, dass er mich oft aufmerksam beobachtete. Den größten Teil meines Lebens hatte er in einer Seniorenresidenz verbracht. Zuletzt war er nicht einmal mehr an Feiertagen bei uns aufgetaucht.
Opa lehnte sich zurück, sah sich kurz um. Er spielte mit dem Ehering meiner Oma, den er seit ihrem Tod an der rechten Hand trug. Dicke blaue Adern zeichneten auf seinem Handrücken die Schrift der Zeit. Ich hatte das Gefühl, dass er gegen einen leichten Tatterich ankämpfte. »Du, die haben hier ja ganz schön Geld in die Hand genommen, seit ich das letzte Mal hier war«, sagte er, »Neubau, moderner Eingangsbereich, schicke Cafeteria in der Lobby, die Schnittchen sehen genießbar aus - sollen wir was essen gehen? Du musst doch hungrig sein.«
»Wieso sollte ich denn hungrig sein?«, knurrte ich.
Opa zierte sich etwas. »Deine Mutter erwähnte in unserem Telefongespräch, dass du dich auf der Fahrt hierher übergeben musstest.«
»Stimmt. Mir war speiübel. Ist es immer noch.«
»Willst du einen Kamillentee? Das haben die bestimmt im Angebot.«
Ich schüttelte den Kopf.
Fidus schwieg einen Moment. »Und wie läuft es beim Psychologiestudium?«
»Ich studiere jetzt Neue Amerikanische Geschichte«, sagte ich und verschwieg, dass ich mich zwischendurch ein zweites Mal für ein Semester Literaturwissenschaft eingeschrieben hatte, was dann der Ausgangspunkt für Psychologie war, aber hey .
»So ein Ärger, und ich habe meiner Heimleiterin schon mit dir gedroht .«, sagte Fidus, »was stimmte denn mit Psychologie nicht?«
»Zu viele Statistiken, zu wenig Menschen.«
»Und was reizt dich an Geschichte?«
Ich schwieg.
»Na ja, Geschichte ist ja auch spannend.« Opa schaute sich um, klopfte auf seine Schenkel. »Ich weiß nicht, ob du es weißt, aber genau hier, an der Stelle, an der jetzt das Krankenhaus steht, war früher mal ein .«
»Opa!« Ich bellte das Wort mehr, als dass ich es aussprach, ich war nervös, zappelig, mit den Nerven völlig am Ende. »Ich bin froh, dass du hier bist, wirklich. Aber willst du dich vor unserem Smalltalk vielleicht ganz kurz erkundigen, wie es deinem Sohn geht?«
Opa wirkte erschrocken. Er legte seine Hände in den Schoß, setzte sich aufrecht hin. Der Saum seines grauen Anoraks...
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