Heck konnte die Sache mit der Verhaftung von Adam Fairbrass nicht so schnell hinter sich bringen, wie er gehofft hatte.
Fast unmittelbar zu Beginn der Vernehmung veranstaltete der Anwalt des Verdächtigen einen Riesenwirbel wegen der eingeschlagenen Nase seines Mandanten und bestand darauf, dass er zunächst in einem Krankenhaus medizinisch versorgt werden müsse, bevor mit der Vernehmung begonnen werden könne. Das dauerte vier Stunden, und als Fairbrass schließlich mit einer lächerlichen Masse an Pflastern, Watte und Verbandsmaterial, das die Mitte seines Gesichts bedeckte, auf die Wache zurückgebracht wurde, war er mittlerweile seit nahezu sieben Stunden in Haft, womit ihm längst nicht nur sein Mittagessen zugestanden hätte, sondern inzwischen auch bereits sein Tee-Snack. Da die Kantine um diese Zeit am Freitagabend bereits geschlossen war, hatte jemand losziehen und ihm eine Pizza besorgen müssen. Und als all das erledigt war, hatte er trotz der Tatsache, dass er bei seiner Verhaftung in Besitz eines Druckverschlussbeutels gewesen war, der mehrere Gläser konzentrierte Schwefelsäure enthielt - ganz zu schweigen von dem Schlachtermesser -, darauf bestanden, unschuldig zu sein und nichts von den sieben Säureattacken zu wissen. Stattdessen behauptete er, die tödliche Substanz benötigt zu haben, um die Wände seiner Garage von Graffiti zu säubern. Doch der Verdächtige - ein blasser, dünner, unterernährter Typ - war nicht imstande, diese Version lange aufrechtzuerhalten, und brach unter der Hartnäckigkeit, mit der ihn erst Loomin und Shannon und dann Loomin und Heck in die Zange nahmen, schließlich zusammen und begann zu reden. Es war neun Uhr abends, bis sie schließlich so weit waren, Fairbrass siebenfache schwere Körperverletzung, siebenfache Verwendung einer Säure mit der Absicht, jemanden zu verätzen, sowie den Besitz einer Offensivwaffe zur Last legen konnten.
Anschließend ging Heck erschöpft zurück zum Kriminalbüro, doch wie angekündigt, hatte Gemma sich in ihren Papierkram vertieft. Sie sah nicht einmal auf, als er zwischen den beiden verglasten Flügeln der Doppeltür stand und sie betrachtete. Aber angesichts der Tatsache, dass Fairbrass aufgrund der Schwere der ihm zur Last gelegten Taten in Untersuchungshaft genommen worden war und am Highbury Corner Magistrate's Court für Samstagmorgen eine außerordentliche Verhandlung angesetzt worden war, war es vielleicht ohnehin keine gute Idee mehr, noch auszugehen. Nicht, dass dies Loomin und Shannon abhielt, die gerade mit einigen der anderen Detectives vorbeigepoltert kamen und ihm zuriefen, dass sie sich zur Feier des Tages noch einen Drink genehmigen wollten. Heck lehnte die Einladung mitzukommen ab, doch anstatt alleine nach Hause zu fahren, verließ er die Wache und steuerte seinen braunen Peugeot 307 nach Nordosten die Old Ford Road entlang in Richtung Victoria Park und bog dann nach links in die etwas zurückgelegene Siedlung ab, in deren Herz sich die Chagford Terrace befand. Er parkte an der Rückseite einer Reihe Garagen und schlenderte lässig durch das Viertel.
Das Haus, in dem Dorothy Bainbridge wohnte, war ein imposantes, freistehendes, für Bethnal Green ungewöhnlich großes Haus mit vier Schlafzimmern - eines dieser Häuser, in denen normalerweise möblierte Zimmer untervermietet werden. Außerdem fiel ihm auf, dass es ziemlich exponiert lag. Es war das letzte Haus an der Chagford Terrace und befand sich genau an der Stelle, an der die Straße sich in zwei kleinere Straßen splittete, die Stainton Avenue, die nach Westen verlief, und die Harlequin Crescent, die in östlicher Richtung abzweigte. Das Haus war also nicht nur von vorne zugänglich, sondern auch von der rechten und linken Seite. Zudem befand sich der Hauptgarten zwar hinter dem Haus, und dahinter lagen weitere Häuser, was bedeutete, dass das Grundstück von hinten gesichert war, doch vorne und an den Seiten war es von einem schmalen, kreisförmigen Garten umgeben, der von dichtem Blattwerk und Büschen überwuchert war, von denen einige bis ans Haus reichten. Wenn ein potenzieller Eindringling es darauf anlegte, nah an das Haus heranzukommen, konnte er dies problemlos tun, ohne allzu großes Risiko zu laufen, entdeckt zu werden.
Im Haus brannte Licht, alle Vorhänge waren zugezogen. Heck erkundete die Lage nicht länger als unbedingt nötig. Das Letzte, was Miss Bainbridge jetzt noch gebrauchen konnte, war ein weiterer Kerl, der nach Einbruch der Dunkelheit hier herumspähte. Er schlenderte unauffällig vorbei und registrierte eine knapp sechzig Meter lange asphaltierte Zufahrt, die an der östlich gelegenen rechten Seite des Hauses zu einer kleinen Garage führte, vor der ein weißer BMW Sport parkte. Er rief sich in Erinnerung, was Prentiss über die Frau gesagt hatte: dass sie ein Karrieretyp sei und ganz gut situiert.
Dieser Wagen wies eindeutig darauf hin, dass sie etwas besser bei Kasse war als ihre Nachbarn.
Auch wenn die Mieten und Kaufpreise in dieser Gegend in die Höhe kletterten, hatte Heck jetzt, da er das Viertel durchstreifte, den Eindruck, dass alles ein wenig heruntergekommen war. Der Ruf dieser Gegend als »grünes Viertel« galt eindeutig nur den alten Backstein-Reihenhäusern aus den Tagen der Kray-Zwillinge und Chunky Morgans. Die meisten Häuser waren Doppelhaushälften mit einem kleinen Vorgarten und eigener Zufahrt. Aber es gab jede Menge quietschender alter Tore, schäbige Wege und Rasenflächen, die dringend gemäht werden mussten. Und es gab unzählige schmale Passagen, »Fußgängergässchen«, wie Heck sie aus Lancashire kannte, wo er geboren und groß geworden war: unbeleuchtete Gehwege zwischen den Häuserreihen, die die Straßen miteinander verbanden. Das bedeutete, dass das ganze Viertel ein ziemliches Labyrinth war, doch für jemanden, der sich auskannte und irgendetwas Unheilvolles im Schilde führte, war es einfach, sein Ansinnen in die Tat umzusetzen und sich wieder aus dem Staub zu machen, ohne geschnappt zu werden.
Zufrieden mit seiner Erkundung, ging er zurück zu seinem Peugeot. Doch kaum hatte er den Schlüssel ins Zündschloss gesteckt, wurde er in aufzuckendes Blaulicht getaucht. Er drehte sich um, und ein Streifenwagen, ein weißer Ford Focus mit orangem Streifen an der Seite, kam in der Parkbucht hinter ihm zum Stehen.
»Haben Sie sich verirrt, Sir?«, fragte der Police Constable, der hinter dem Lenkrad hervorkam und ausstieg. »Oder interessieren Sie sich einfach nur ganz allgemein für diese Gegend? Ich habe Sie hier herumstreifen sehen, und zwar seit mindestens .«
»Derek,ich bin's«, unterbrach Heck den Polizisten und schlenderte auf ihn zu.
»Ich glaub's nicht!« Police Constable Derek Hatfield, ein Schrank von einem Kerl mit einem dichten schwarzen Vollbart und einer schwarz umrandeten Brille mit dicken Gläsern, sah zweimal hin. »Die Kripo arbeitet um diese Zeit noch - an einem Freitagabend? Dann muss etwas wirklich Übles im Gange sein.«
»Hoffentlich nicht«, entgegnete Heck.
»Tut mir leid, wenn ich dir die Tour vermasselt habe, Heck, aber uns wurde gemeldet, dass sich hier irgendein Herumtreiber für eins der Häuser interessiert.«
»Chagford Terrace Nummer achtzehn?«
Hatfield wirkte überrascht. »Ja . genau.«
»Aus dem gleichen Grund bin ich auch hier, Derek. Freut mich, dass ihr ein Auge darauf habt.«
Und das meinte Heck ernst. »Ein Auge darauf haben«, hieß zwar streng genommen, dass uniformierte Streifenbeamte während ihrer Schicht regelmäßig nach einer bestimmten Person oder einem bestimmten Anwesen sehen sollten, die oder das für gefährdet gehalten wurde, doch es kam allzu häufig vor, dass dies nur eine beschönigende Umschreibung für die Feststellung war: »Wir denken daran, dass es hier ein Problem geben könnte, aber mehr können wir nicht tun, weil wir, offen gesagt, zu viel um die Ohren haben und uns um wichtigere Dinge kümmern müssen.«
Sie sahen beide die Zufahrtsstraße an der Rückseite der Garagen entlang. Von ihrem Standpunkt aus war die westliche Ecke des Hauses gerade so zu sehen.
»Was hältst du von der Lady, die dort wohnt?«, fragte Heck.
»Dot Bainbridge?«
»Dot?«
Hatfield grinste. »Dorothy, aber sie hat mir angeboten, sie Dot zu nennen.«
»Du hast also schon mit ihr gesprochen?«
»Natürlich. Mein Revier, meine Verantwortung.«
»Und von jetzt an jede Menge Heißgetränke, was?«
Hatfield zuckte mit den Schultern. »Es gehört nun mal zur Kernkompetenz eines guten Bobbys zu wissen, wo es in seinem Revier einen ordentlichen Tee oder Kaffee gibt. Wie auch immer, sie scheint jedenfalls in Ordnung zu sein. Ein bisschen etepetete, aber ganz nett. Und nervös, natürlich. Aber ich habe keinen Herumtreiber gesehen, und ich bin seit...