Schweitzer Fachinformationen
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Der Briefwechsel zwischen Hubert Fichte und Peter Michel Ladiges setzt in einer Zeit des doppelten Aufbruchs ein. Für Ladiges liegt die feste Stelle als Redakteur in der Hörspielabteilung des Südwestfunks in Baden-Baden hinter ihm, und er arbeitet nun als freier Autor und Regisseur. Er will sich mehr Zeit für eigene Features nehmen, will häufiger reisen oder sich zu Recherchen in eine Bibliothek zurückziehen. Sein kulturgeschichtliches und ethnographisches Interesse richtet sich auf die indigenen Kulturen Mittelamerikas von Mexiko bis Peru und umfasst die alten Hochkulturen der Inka und Maya ebenso wie die heutigen Kulturen, die sich als deren Nachfahren verstehen.
Hubert Fichte und Leonore Mau hingegen brechen nach Brasilien auf. Nicht wie bei ihren bisherigen Reisen für ein paar Wochen oder Monate, sondern für ein ganzes »Studienjahr«, wie sie es nennen. Nach einer ersten dreimonatigen Reise im Jahr 1969 wollen sie nun ihre Kenntnisse der afrobrasilianischen, synkretistischen Kulturen vertiefen, in denen sich religiöse Praktiken aus Westafrika und dem barocken Katholizismus Portugals, aus dem europäischen Spiritismus und den indigenen Stammeskulturen Brasiliens vermischen.
Der doppelte Aufbruch bringt sowohl für Fichte als auch für Ladiges längere Zeiten der Abwesenheit aus Deutschland mit sich, wodurch sich die Art, wie sie ihre Freundschaft pflegen, verändert. In den 1960er Jahren lebte sie von persönlichen Begegnungen und langen Telefongesprächen. Nun treten an ihre Stelle die Briefe, allerdings, wie beide beklagen, nur als matter Ersatz. Zugleich beginnt mit diesem biographischen Einschnitt die Phase ihrer intensiven Zusammenarbeit im Radio. Nicht zuletzt, um die vielen Reisen finanzieren zu können, schreibt Fichte in den kommenden Jahren sehr viele Feature-Manuskripte, die er bei verschiedenen Sendern unterbringt. Obwohl teilweise auch andere Regisseure verpflichtet werden, gelangt die größte Anzahl in die Hände von Peter Michel Ladiges. Hin und wieder entstehen zudem Arbeiten, mit denen Ladiges die Existenz seines Freundes als freier Schriftsteller auf andere Weise unterstützt.
Eine erste dieser Arbeiten stellt ein Radioporträt Fichtes dar, das Ladiges gestaltet und das am 20. März 1971 - ein Tag vor Fichtes 36. Geburtstag - im SWF ausgestrahlt wird. Drei Sprecherstimmen sind zu hören, die jeweils eine unterschiedliche Perspektive auf die Person und den Schriftsteller Hubert Fichte einnehmen: Die erste erzählt seinen Lebensweg, die zweite liefert eine Beschreibung seiner äußeren Erscheinung, und die dritte streut Zitate aus seinem Werk ein. Das Porträt spielt in den Briefen insofern eine Rolle, als Tonbandaufnahmen, die Ladiges mit Fichte noch vor der Abreise in Hamburg aufgezeichnet hat, technisch misslungen sind. Sie waren allerdings nur als Gedächtnisstütze gedacht, denn sonst hätten die Aufnahmen sicherlich in einem Studio stattgefunden, und so bittet Ladiges, ihm die fehlenden Informationen mit der Post zu schicken. Ein Manuskript der Sendung geht dann umgehend zurück nach Brasilien, das Fichte bereits wenige Tage nach der Ausstrahlung erreicht.
Zudem inszeniert Ladiges 1971 drei Radioarbeiten, die alle auf Manuskripten beruhen, die Fichte noch vor seiner Abreise fertiggestellt hat: (1) das Feature Djemma el Fna. Der Platz der Gehenkten, (2) die Hörspieladaption Detlevs Imitationen. Bericht einer Jugend in Deutschland und (3) das experimentelle Hörstück Ich würde ein .
Unter diesen Produktionen nimmt das gleich zu Beginn des Jahres inszenierte Feature Djemma el Fna. Der Platz der Gehenkten eine besondere Stellung ein. Denn Ladiges verwendet hier erstmals Originaltöne, die Hubert Fichte bei seinem sechswöchigen Aufenthalt in Marrakesch ein Jahr zuvor aufgenommen hat. Damit folgt er einer neuen Entwicklung, die das Hörfunkfeature seit Ende der 1960er Jahre eingeschlagen hat. Durch tragbare Aufnahmegeräte und handliche Mikrophone ist es möglich geworden, originale, vor Ort aufgenommene Töne zu integrieren. Auch eine zweite technische Errungenschaft, die zu derselben Zeit ins Radiofeature eingegangen ist, greift Ladiges auf: die Stereophonie. So gestaltet er in Djemma el Fna. Der Platz der Gehenkten einen stereophonen Raum, in dem die fünf männlichen Sprecherstimmen und die Gesänge und Geräusche des Marktplatzes immer wieder ihren Ort wechseln, bald hierhin, bald dorthin springen und damit für das reale Treiben auf dem Marktplatz eine angemessene radiophone Form finden. Das Feature wird schließlich am 31. Juli 1971 im SWF gesendet.
Hervorzuheben ist auch das Radio-Experiment Ich würde ein . für das Hubert Fichte eine komplexe Partitur entworfen hat. Es kann zum Neuen Hörspiel gezählt werden - einer kurzen, nur wenige Jahre dauernden Phase des Experimentierens, in der sich das Hörspiel im Hinblick auf seine grundlegenden Elemente und eingespielten erzählerischen Muster befragt. Die Produktion von Ich würde ein . findet im August 1971 statt, gesendet wird es, mit einer Einführung von Peter Michel Ladiges, am 6. Januar 1972.
Hubert Fichte und Leonore Mau verbringen indes fast das gesamte Jahr in Brasilien in der Stadt Salvador da Bahia. Nur von Mitte Mai bis Ende Juli unterbrechen sie ihren Aufenthalt in der kulturellen Hauptstadt Brasiliens, um auf die Osterinsel und nach Chile zu reisen. Dort war im Jahr zuvor Salvador Allende an die Regierung gekommen und unternahm das Gesellschaftsexperiment, einen Sozialismus mit demokratischem Antlitz aufzubauen. Fichte interviewt Allende und andere Mitglieder seiner Regierung und schreibt über seine Erkundungen ein Feature, das unter dem Titel Chile - Experiment auf die Zukunft. Eine Phänomenologie des politischen Bewusstseins bereits am 9. Oktober 1971 vom NDR ausgestrahlt wird.
Die restliche Zeit des Jahres leben sie in Salvador da Bahia, um den Candomblé zu studieren. Wie auch die anderen afrobrasilianischen Religionen, unter denen Umbanda und Kimbanda nur die bekanntesten darstellen, sowie ihre Schwesterreligionen, der Vaudou auf Haiti und die Santería auf Kuba, geht der Candomblé zurück auf den Sklavenhandel zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert. Zehn bis zwölf Millionen Menschen aus den Ländern des westlichen Afrikas - von der Elfenbeinküste über Benin und Nigeria bis in die südlicheren Länder Kongo und Angola - wurden als Arbeitskräfte in die spanischen und portugiesischen Kolonien in Südamerika verschleppt, 40 % davon nach Brasilien.
Weniger auf den Zuckerrohrplantagen mit ihrem strengen Aufsichtsregime als vielmehr in den aufstrebenden Wirtschaftszentren Salvador, Recife und Rio de Janeiro boten sich den versklavten Menschen kleine Freiräume, in denen sie ihre religiösen Traditionen und Riten - oft nur in Bruchstücken und zudem unter der Kontrolle der katholischen Kirche - wieder aufleben lassen konnten. Da das afrikanische Pantheon mit ihren orixás Ähnlichkeiten zu den katholischen Heiligen aufwies, wurden diese in ihrer barocken portugiesischen Gestalt integriert. Zudem übten auch der Spiritismus, den einige Kolonisatoren als außerkirchliche Gegenreligion einführten, und nicht zuletzt lokale, indigene Elemente ihren Einfluss aus. Charakteristisch für alle afroamerikanischen Religionen ist ihr >Wildwuchs<. Es gibt keine zentrale Instanz, die über Orthodoxie und Heterodoxie wacht. Insofern zeichnen sie sich bis heute durch eine große Offenheit aus und nehmen selbst moderne Konsumprodukte in ihre Kulte auf.
Hubert Fichte und Leonore Mau nähern sich dem Candomblé - das wird in den Briefen immer wieder deutlich - über die sinnliche Erfahrung konkreter Situationen an. Ihre Aufmerksamkeit gilt vor allem dem rituellen Verhalten der Menschen, ihren Bewegungen, Gesten und Tanzfolgen. Eine zentrale Rolle übernimmt dabei die Trance. Sie ermöglicht es, dass sich die Göttinnen und Götter in einzelnen Teilnehmenden manifestieren und damit temporär anwesend sind. Im Mittelpunkt einer Zeremonie steht jeweils der orixá, für den das Fest ausgerichtet ist. Dieser ist aber immer mit anderen Gottheiten durch Heirat oder Rivalität verbunden, so dass im Verlauf der Feier auch diese erscheinen. Die Trance im Candomblé und in den anderen afroamerikanischen Religionen ist also keine individuelle Besessenheit, sondern eine kollektive Inszenierung mythischer Erzählungen und besitzt somit immer auch theaterhafte Züge.
In den Radiofeatures und ethnographischen Texten Hubert Fichtes spielen diese mythischen Erzählungen aber nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr treibt ihn stattdessen die Frage an, wie der Zustand der Trance ausgelöst wird und durch welche Techniken und - mehr noch - durch welche pflanzlichen Wirkstoffe das Gehirn während der Initiation eventuell chemisch verändert wird. Diese ganz eigene >materialistische< Sichtweise Hubert Fichtes bricht sich in den Briefen immer wieder Bahn.
Ein letztes wichtiges Ereignis für Hubert Fichte zieht sich durch manche Briefe dieses Jahres: Im Februar erscheint im Rowohlt Verlag sein dritter Roman Detlevs Imitationen »Grünspan« und wird von der Literaturkritik verhalten aufgenommen oder ganz abgelehnt. Fichte führt darin die zwei Stränge, die er in seinen ersten beiden Romanen Das Waisenhaus und Die Palette entwickelt hat, zusammen. Dabei verweigert er jedoch...
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