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Mit seinen fünfundsiebzig Jahren hatte sich Hartmut Siems ein draufgängerisches Flair bewahrt, das ihn jünger erscheinen ließ. Eine freibeuterische Miene, ein kühner Blick, von Ferne eine Erinnerung an amerikanische Spielfilmstars der 1940er-Jahre, seine schlanke Statur in traditionell-elegante Kleidung gehüllt, fügte er sich nahtlos in seine Umgebung ein, derzeit die Blue Shadow, ein luxuriöses Kreuzfahrtschiff, unterwegs in der Javasee. Er wirkte nicht einnehmend in der geschmeidigen Art der Heiratsschwindler, Vorabendserienhelden und längst vergessenen, ehemaligen Prominenten, die wahrscheinlich auch an Bord waren, sondern eher wie ein liebenswürdiger Nachbar, ein wirklich freundlicher älterer Herr mit mal ernster, mal heiterer Ausstrahlung und etwas schwerfällig in seinen Bewegungen. Sein Gesicht gebräunt, Haut und Hemd faltig, aber nicht zu faltig, die Sonnenbrille echt altmodisch. Hartmut Siems gehörte zu der wohlhabenden und rüstigen älteren Klientel, die es sich leisten kann, die Welt mit Stil und ohne Hast zu bereisen. Er schien froh und dankbar, wohl wissend um die befristete Zeit, die blieb, auf sich bedacht, die Sorgen und Probleme der Welt lassend.
Es würde ihm nie langweilig werden, von seiner Loggia aus das Glitzern des Sonnenlichts auf den Wellen des Meeres zu betrachten. Eine Verheißung des guten Lebens, des ewigen Lebens. Die Bewegung des Schiffes beruhigte ihn. Sicher geborgen ging es voran, unabhängig und kraftvoll, das Unterwegssein, nicht das Ankommen war das Ziel. Vorsichtig hob er sich ein wenig aus dem Liegestuhl und griff nach seinem Gin Tonic. Er ließ die Eiswürfel klirren, schaute ihnen beim Vergehen zu und stellte das Glas ohne zu trinken zurück aufs Tablett. Tagträumend betrachtete er wieder die ruhige und doch unendlich bewegte See. Weit entfernt von den Menschen und Landschaften seines früheren Lebens fühlte er sich frei. Auf seinem Schoß lag eine Einführung in den Mahayana-Buddhismus, und während der Lektüre hatte er sich den Formen der Meditation und des Loslassens geöffnet. Er schloss die Augen, atmete tief die Seeluft ein, hörte tatsächlich auf zu denken. Und lächelte.
Ein kräftiges Klopfen an die Eingangstür seiner Suite weckte ihn. Er blinzelte ins Licht, rappelte sich mühsam hoch, stand dann langsam auf.
»Ja, ja, ich komme ja schon«, rief er, als es wieder klopfte. Sein Rücken schmerzte ein wenig, während er durchs Zimmer auf die Tür zustapfte und wie immer routiniert durch den Spion schaute. Davor standen die Behrs, die Kleidung bis ins Detail aufeinander abgestimmt. Karins und Michaels farbliche Harmonie sah er selbst durch das alle Formen verzerrende Fischaugenglas in der Tür. Als er sie öffnete, wehte ihm noch vor Michaels Frage »Alles in Ordnung bei dir?« ihr gemeinsamer Duft entgegen. Diese Wolke aus Karins floralem und Michaels holzigem Eau de Toilette umfing Hartmut Siems zärtlich, die Bestandteile für seine Nase nicht mehr zu trennen, Träger und Trägerin nicht mehr eindeutig zuzuweisen. Er wusste, es war richtig, an diesem besonderen Abend genau diese beiden um sich zu haben.
»Klar, kommt rein«, antwortete er und öffnete die Tür weit, begrüßte Michael per Handschlag, als wären sie sich an diesem Tag nicht schon mehrmals begegnet, und gab Karin mit übertriebener Geste einen Handkuss. Sie kannte das Spiel und spielte mit.
»Ich muss draußen auf dem Liegestuhl kurz eingeschlafen sein«, Hartmut strich sich mit beiden Händen durch die wenigen grauen Haare. »Gebt mir eine Minute, dann bin ich bei euch.« Er wiederholte arglos die freundliche Aufforderung: »Kommt doch herein.« Dann ging er ins Badezimmer.
Michael und Karin Behr durchquerten den Wohnraum, traten auf die Loggia hinaus und blickten von der Reling aus auf das fast überirdisch schöne späte Sonnenlicht, das den Himmel in Rosatönen einfärbte, sich in Millionen Wellen millionenfach brach, das Meer in Rotgold zu verwandeln suchte und beider Gesichter unruhig leuchten ließ. Er, siebenundsechzig, schlank, die graublonden Haare mit etwas Gel zurückgekämmt, im hellen Anzug mit offenem Hemdkragen, sie, fünfzig, tief sitzender blonder Haarknoten, grau-weißes Sommerkleid, beide wie Hartmut Deutsche, die seit langen Jahren in Ostasien lebten; die Behrs in Singapur, Hartmut in Hongkong. Man kannte sich schon seit geraumer Zeit und traf sich mehrfach im Jahr. Erst waren nur die Männer geschäftlich verbunden. Vielleicht verstärkt durch ihr gemeinsames Deutschsein in der Fremde hatte sich später eine Männerfreundschaft plus Dame entwickelt. Ein Dreiklang in familiärer Tonlage, ohne die kleinen Unhöflichkeiten und großen Nachlässigkeiten echter Verwandtschaft.
* * *
Karin Behr hatte die gemeinsame Schiffsreise liebevoll vorbereitet, Landgänge und geführte Besichtigungen schon vor dem Ablegen fest vereinbart: Von Singapur aus ging es über Semarang und Surabaya auf Java weiter nach Bali, alles in allem zwei Wochen lang. Die Bewegung auf dem Meer, die Ausflüge zu exotischen Orten, die Gemeinsamkeit an Bord, das war eine Kombination ganz nach ihrem Geschmack. Sie war eine geborene Reisende, offen für die Welt und ohne Heimweh.
Vor Jahren hatte sie ihre Entdeckerlust mit ihrem Beruf verbunden und in verschiedenen Ländern in Ferienhotels gearbeitet. Aufgewachsen in der DDR, verließ sie gleich im Jahr 1990 ihre Heimat, froh, aus der ummauerten Jugend in die weite Welt hineinwachsen zu können. Vier Jahre später dann hatte sie in einem Hotel in Thailand ihren heutigen Ehemann Michael Behr kennengelernt. Es war tatsächlich Liebe auf den ersten Blick gewesen, und seit einem Vierteljahrhundert hatte die Erinnerung an diese Gewissheit beide auch durch die wenigen weniger schönen Phasen einer ansonsten guten Ehe getragen.
»Eine Minute?«, sagte Michael und zog die Augenbrauen hoch.
»Nun, lass ihn. Er wird halt auch nicht jünger«, Karin schob eine Haarsträhne, die sich im Fahrtwind gelöst hatte, wieder hinter ihr Ohr.
Michael betrachtete sie und lächelte. Wie schön sie in dem abendlichen Seelicht aussah. Er war glücklich, sie bei sich zu haben und Momente wie diesen zu erleben. Sie waren wie kleine Inseln in der Unruhe, die ihn quälte. Diese Kreuzfahrt belastete ihn, sie bedeutete nichts Gutes, ganz im Gegenteil. Seine Sorgen zeigte er nicht, erwähnte er nicht, schon um Karin nicht um ihr Vergnügen zu bringen. Diese kindliche und unbeschwerte Art, Freude zu empfinden, hatte er von Anfang an bei ihr geliebt. Sie war sein Lichtblick.
»Was für ein schöner Anblick, ihr beiden«, sagte Hartmut auf die Loggia tretend und breitete die Arme aus. »Ein Scherenschnitt des Glücks vor tropischem Abendhimmel.« Er lachte, alle drei lachten. »Gehen wir zum Abendessen?«
Unverwüstlich und unbeirrbar wie die Blue Shadow selbst war auch ihr schönstes Bordrestaurant, das französische »Chez Capitaine«. Es war so sehr im Stil der Ozeanriesen der 1920er-Jahre gehalten, dass die empfindsameren Gäste des Jahres 2019 sich wie aus der Zeit gefallen fühlen mussten. Rotes Mahagoni schimmerte an den Wänden und der hohen kassettierten Decke, geschliffene Glaspaneele unterteilten den Raum und schufen mit ihren Meerjungfrauenmotiven eine fast schon erotische Privatheit. Opalglasleuchter, Beschläge und Türgriffe in Messing, dazu das draußen dunkelnde Meer unter hohem Abendhimmel: So ähnlich muss es damals wohl gewesen sein. Alles wirkte schwer, erprobt und selbstsicher, von den sorgfältig gebügelten, doppelt und dreifach aufgelegten Tischtüchern bis zu den auf Hochglanz polierten Stühlen. Rücken- und Sitzpolster waren mit hellblauer Seide bespannt. Für ein Schiffsrestaurant eine mutige Entscheidung. Das Ganze in voller Fahrt und mit Blick auf die See, war dieses Restaurant eine altmodische, störrische Form von reinem Luxus, selbstverständlich genossen auch in extremen Lagen.
Der Oberkellner, der noch nicht lange genug in der Weltgeschichte herumgereist war, um den schweren polnischen Akzent aus seinem Englisch zu vertreiben, geleitete die drei Reisenden freundlich zu ihrem reservierten Tisch am Fenster. An diesem Juniabend hatten offenbar nur wenige andere Gäste Appetit auf die feine Küche des alten Europa: Zwei Paare, diskret außer Hörweite voneinander platziert, und ganz am anderen Ende des Raumes eine indische Familie am großen runden Achtertisch nahe der doppelflügeligen Tür, die zur benachbarten Bar führte. Die Hintergrundklaviermusik war für südostasiatische Verhältnisse erstaunlich dezent, ein Medley aus der Titelmelodie der »Magnum«-Fernsehserie und »Pour Élise« sowie Instrumentalversionen von »I did it my way« und »Xanadu« in Endlosschleife.
»Mir gefällt dieses Restaurant am besten. Das könnte ein Anzeichen dafür sein, dass ich alt werde«, scherzte Hartmut und blinzelte Michael zu: »Inzwischen dürfen uns hier wirklich alle >Uncle< nennen, ohne dass wir uns beschweren, nicht wahr?« Michael wusste genau, welche Anekdote aus der gemeinsamen Vorzeit in Hongkong sein Freund zum Auflockern vor der Vorspeise zum Besten geben wollte. Er fragte sich, ob, wie und wann er Hartmut wohl bremsen könnte, der fortfuhr:
»Ach ja, wir beide in Saft und Kraft. Himmel, was waren wir unbedarft .«
Unbedarft? Unpassender konnte Hartmut die gemeinsamen Hongkonger Anfänge kaum beschreiben. Eingreifen daher nicht erforderlich. Noch nicht.
Hartmut redete weiter: »Na ja, eigentlich waren wir ja wirklich harmlos. All die Fremdheit um uns eher verschreckend als verlockend. Karin, meine Liebe, das war natürlich alles, bevor dein...
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