Kapitel 1
Als die Kerze neben ihr flackerte, rutschte Anna vorsichtshalber auf der Sprosse der Leiter, auf der sie hockte, zur Seite. Langsam bedauerte sie, dass sie das Telefon so schnell hatte anschließen lassen. Der Handy-Empfang war sehr schlecht, und ohne Festnetz-Anschluss wäre sie fast unerreichbar gewesen. Aber wie die Dinge lagen, wurde ihr Ohr immer heißer und ihre Hand immer kälter, während ihre Schwester fortfuhr, sie zu verhören. Anna machte sich nicht die Mühe, ihr das Wort abzuschneiden - das würde später nur zu einem weiteren Telefongespräch führen. Also schob sie die freie Hand in ihren Ärmel und lauschte höflich. Ihre Latzhose war ziemlich warm, solange sie sich bewegte, doch jetzt begann sie, darin zu frieren.
»Warum bist du denn bloß noch mal dorthin gezogen?«, fragte Laura zum hundertsten Mal, wie es Anna schien. »Du weißt, dass Grundstücke hier oben in Yorkshire viel billiger sind. Wir hätten das Projekt gemeinsam in Angriff nehmen können. Das hätte viel mehr Spaß gemacht.«
Anna begann, von Neuem zu erklären - ziemlich geduldig, wie sie fand. »Ich wollte nicht so weit von London weg sein, und Amberford ist eine viel reizvollere Gegend. Von London aus gerade noch für Pendler erreichbar. Wir haben das alles schon besprochen.«
Laura seufzte. »Mir gefällt es einfach nicht, dass du das ganz allein tust, so weit von uns entfernt. Und ich wünschte wirklich, du hättest das Haus nicht so übereilt gekauft, ohne mir eine Chance zu geben, es mir zuerst anzusehen.«
Anna hatte tatsächlich leichte Gewissensbisse deswegen. »Es tut mir leid, aber ich musste mich sehr schnell entscheiden. Es gab noch jede Menge anderer Interessenten. Es war ein solches Schnäppchen.«
»Du warst eine Bargeldkäuferin«, stellte Laura gereizt fest.
Anna seufzte. »Ich weiß, und das habe ich zum Teil dir zu verdanken. Aber der andere Typ hatte ebenfalls Bargeld. Er hätte den Zuschlag bekommen, wenn ich nicht in der Lage gewesen wäre, sofort den Scheck für eine Anzahlung auszuschreiben.« Sie hielt inne. »Ich bin dir ewig dankbar, Lo. Ohne dieses Darlehen hätte ich es nicht kaufen können.«
»Du weißt, ich habe dir das Geld gern geliehen, und du bezahlst mir mehr Zinsen, als ich sie irgendwo sonst bekommen hätte. Aber ich vertraue einfach deinem Geschäftssinn nicht.«
»Das weiß ich«, sagte Anna, während sie sanft über ihre Frustration nachdachte. »Doch es wird Zeit, dass du damit anfängst. Du bist meine ältere Schwester, aber ich bin jetzt erwachsen, weißt du?«
»Siebenundzwanzig heißt nicht .«
»Doch, das heißt es.«
»Das meinte ich nicht, natürlich bist du erwachsen, doch das ist dein gesamtes Kapital und ein Teil von meinem. Es ist dein Erbe.«
»Ich weiß, dass das Geld nicht von der Zahnfee ist.«
Anna wünschte, sie hätte Bleistift und Papier und einen Platz zum Zeichnen - sie hätte einiges an Arbeit erledigen können, während dieses Gespräch sich in die Länge zog. Nicht dass das bei diesem Licht möglich gewesen wäre. Doch es war ihr einfach grässlich, Zeit zu verschwenden.
»Was ich sagen will, ist Folgendes«, fuhr Laura fort, »Du wirst dieses Geld nicht noch einmal von Granny bekommen. Und du könntest alles verlieren.«
Anna rutschte unbehaglich auf der Sprosse hin und her. »Ich sehe dieselben Fernsehsendungen wie du. Und ich bin mir genau wie du darüber im Klaren, dass es mit dem Grundstücksmarkt genauso bergab wie bergauf geht und all das. Ich habe die letzten fünf Jahre nicht mit einem Sack überm Kopf gelebt.«
Laura seufzte abermals. »Ich bin wahrscheinlich einfach eifersüchtig. Es hat so viel Spaß gemacht, die Wohnung in Spitalfields zusammen herzurichten.«
»Das stimmt«, gab Anna ihr recht, »doch ich bin jetzt ein großes Mädchen. Ich bin eine voll ausgebildete Innenarchitektin. Es wird Zeit für mich, etwas allein in die Hand zu nehmen.«
Schweigen folgte. Laura war offensichtlich immer noch nicht überzeugt. »Also, wie viel Geld hast du noch zum Leben übrig?«, versuchte sie es mit einer neuen Strategie. »Du wirst nicht alles selbst herrichten können, ganz gleich, wie geschickt du mit deiner Black & Decker und deinem Workmate bist - und ich gebe zu, du bist ziemlich geschickt. Und du musst immer noch die Hypothek abzahlen.«
»Ich habe eine etwas größere Hypothek aufgenommen, damit ich einen Teil davon benutzen kann, um sie abzuzahlen .«
»Das klingt nicht besonders vernünftig.«
»Aber ich hatte ohnehin vor, mir einen Teilzeitjob zu suchen«, sagte Anna besänftigend, bevor Laura weitersprechen konnte, »nur um Leute kennen zu lernen.«
»Ah! Du sorgst dich also bereits, dass du einsam sein könntest, und dabei hast du noch nicht einmal eine einzige Nacht in dem Haus verbracht! Verkauf es schnell, und dann versuchst du es mal hier oben, wo ich ein Auge auf dich haben kann. Vielleicht machst du ja sogar ein wenig Gewinn. Du könntest dich mit dem anderen Mann in Verbindung setzen, der Interesse hatte .«
»Nein, Laura! Ich liebe dieses Haus! Ich werde es nicht verkaufen.«
Laura stürzte sich auf sie wie eine Katze auf eine in Tagträumen versunkene Maus. »Ah! Ich wusste es! Du hast dich in ein Investitionsprojekt verliebt. Ein fataler Fehler.«
Wie hatte ihr dieses Wort nur entschlüpfen können! Anna verfluchte sich für dieses Zeichen von Schwäche. »Ich habe nicht >verliebt< gesagt«, erwiderte sie, wohl wissend, dass sie ziemlich jämmerlich klang. »>Verliebt sein< ist etwas ganz anderes, als etwas zu lieben.« Sie biss sich auf die Unterlippe, während sie abwartete, ob ihre Schwester dieses ziemlich fragwürdige Argument schlucken würde.
»In Ordnung.« Laura schien sich endlich damit abzufinden. »Versprich mir nur, dass du es verkaufen wirst, wenn es fertig ist. Sich zu verlieben, ist immer ein Fehler.«
»Ich weiß.«
»Ob in Männer oder in Immobilien«, fügte ihre Schwester ominös hinzu.
»Ich bitte dich, Laura! Du und Will, ihr seid über alle Maßen glücklich. Ihr beide und die Jungen könntet die perfekte Familie sein!«
Laura lachte, verstrickt in ihr eigenes Argument. »Ich weiß, aber .«
»Ihr habt alle gute Zähne und leuchtendes Haar. Ihr ernährt euch vernünftig .«
»Bei diesem Gespräch geht es nicht um Will und die Jungen«, erklärte Laura entschieden.
»Ich weiß«, gab Anna zu, »doch ich hatte gehofft, ich könnte das Gespräch in diese Richtung lenken. Wie geht es denn mit Edwards Rechtschreibung voran?«
»Anna!«
»In Ordnung, aber ich möchte wirklich wissen, ob Jacob dieses abscheuliche Lesebuch endlich losgeworden ist.«
»O ja.« Einen Moment lang war ihre Schwester von ihrem Vorhaben, Annas Leben zu organisieren, abgelenkt. »Endlich. Aber zurück zu dir und der Tatsache, dass du dich verliebt hast .«
Anna akzeptierte das Unvermeidliche. »Du vertraust nicht darauf, dass ich mich so vernünftig verlieben könnte, wie du es getan hast?« Will war der perfekte Ehemann: Er war nicht nur liebevoll, gut aussehend und ein zuverlässiger Versorger der Familie, er besaß obendrein beträchtliche Qualitäten als Heimwerker.
Laura schwieg einen Moment lang, wahrscheinlich, weil ihr klar wurde, dass es ein großes Glück war, wenn man sich in den richtigen Menschen verliebte. Anna genoss die Ruhepause.
»So wie du das ausdrückst, klinge ich furchtbar herrisch.«
Am anderen Ende der Leitung nickte Anna zustimmend.
»Aber ich passe lediglich auf dich auf«, beharrte Laura. »Mum ist in letzter Zeit ein wenig zu beschäftigt mit Peter und achtet nicht darauf, was du so treibst.«
»Mum hat jedes Recht, von ihrem Ehemann besessen zu sein. Ich bin erwachsen.« Obwohl Anna sich langsam fragte, ob das tatsächlich der Wahrheit entsprach, schien ihre Schwester außerstande zu sein, diese Tatsache zu akzeptieren.
»Und natürlich bist du genauso gut wie ich imstande, dich in den richtigen Mann zu verlieben. Solange ich ihn mir vorher gründlich angesehen habe.« Zumindest schwang jetzt ein Lächeln in Lauras Stimme mit.
»Schön. Ich verspreche, ich werde niemanden heiraten, ohne mich mit dir zu beraten. Oh, ich kann die Jungen hören. Du wirst gebraucht, Laura.« Niemals hatte das Kreischen ihrer Neffen so liebenswert geklungen.
»O ja, ich mache besser Schluss. Wir reden bald wieder miteinander!«
»Geht klar.« Anna nahm die gekreuzten Finger auseinander, dann legte sie den Hörer auf und schob den Apparat in die kleine Nische in der Wand. Es war nur eine Notlüge, sagte sie sich, während sie in den Flur trat. Und man musste sich ein klein wenig in ein Projekt verlieben, um wirklich mit ganzem Herzen bei der Sache zu sein. Was das andere betraf - dass sie sich in den richtigen Mann verlieben sollte -, dieses Schiff war ebenfalls in See gestochen. Anna hatte sich vor etlichen Jahren in den Falschen verliebt, und nicht einmal das Wissen, dass er der Falsche war, hatte einen Einfluss auf ihre Gefühle gehabt.
Einer der Gründe, warum sie sich das Haus überhaupt angesehen hatte, war Max gewesen und seine Bemerkung, dass seine Mutter hier in der Nähe lebe. Es war ihr als ein gutes Omen erschienen.
Anna blies die Kerze aus und ging dann vorsichtig rückwärts die Leiter hinunter, die ihr gegenwärtig als Treppe diente. Manchmal gestattete sie sich Tagträume, in denen sie seiner Mutter begegnete oder Max selbst, während er bei ihr zu Besuch war. Wenn sie diesem Traum nachhing, musste sie immer ein wenig kichern, auch wenn sie das eigentlich nicht wollte. Falls er ihr über den Weg lief, würde sie höchstwahrscheinlich Latzhosen und Sicherheitsstiefel tragen. Sie war zwar schon immer der Typ für...