Schweitzer Fachinformationen
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Freitagabend und Feierabend! Dank der angespannten Personalsituation hier im Pflegeheim war es das erste freie Wochenende seit längerer Zeit. Und ich war fest entschlossen, diese Freiheit zu genießen. Zufrieden zog ich das Haargummi aus meinem Zopf, so dass mir die Locken über meine Schultern fielen.
»Joanne? Könntest du noch kurz nach Frau Flanagan schauen? Ein kleines Missgeschick .«, vernahm ich die hektische Stimme meiner sonst recht ausgeglichenen Kollegin Fiona. Ich seufzte nach einem Blick auf die Uhr, die am Ende des Flurs hing. Pünktlich würde mein Feierabend also nicht starten. Aber wenn es ein »kleines Missgeschick« gab, konnte ich mein Team nicht im Stich lassen und unsere Bewohnerin schon gar nicht.
Besonders Frau Flanagan war mir im Laufe der letzten Monate während meiner Aushilfstätigkeit ans Herz gewachsen. Sie trotzte ihrem vierundneunzigjährigen Körper, der von Monat zu Monat weniger leistungsfähig wurde, und freute sich über kleine Erfolge: Wenn sie an guten Tagen noch ein paar Schritte mit ihrem Rollator hinbekam, oder wenn sie sich fit genug fühlte, um eine Weile in der Sonne zu sitzen, dann funkelte in ihren treuen Augen eine echte Lebensfreude.
»Na klar, ich geh nochmal nach ihr schauen«, rief ich Fiona zu und band meine derzeit lilagefärbten Haare unterwegs schnell wieder zusammen.
Das kleine Missgeschick im Zimmer der Seniorin war entgegen meiner Befürchtung überschaubar. Es handelte sich nicht um einen Notfall im Badezimmer, sondern nur um ein heruntergefallenes Essenstablett. Trotzdem war Frau Flanagan ziemlich außer sich und wippte nervös in ihrem Stuhl hin und her. Begleitet von einem sich wiederholenden »Ach Kindchen, es tut mir so leid«.
Dabei musste ihr nichts davon leidtun und sie sollte sich schon gar nicht schlecht dabei fühlen. Behutsam streichelte ich ihre unruhige Hand.
»Ist schon in Ordnung, Frau Flanagan. Ich hebe das auf, und dann besorge ich Ihnen etwas Frisches aus der Küche - und bestimmt finde ich dabei auch noch einen Erdbeer-Nachtisch«, zwinkerte ich ihr zu.
Dabei war es auch für mich ein Moment, in dem ich mir ein paar Tränen verkneifen musste. Es tat weh, die lebensfrohe alte Dame so traurig in ihrem Stuhl sitzen zu sehen und zu wissen, dass ein neues belegtes Brot, ein paar kleine Beilagen und einige Erdbeeren alles waren, was ich heute für sie tun konnte. Schnell bückte ich mich und sammelte das ein, was von dem Tablett unserer Bewohnerin auf den Boden gefallen war.
»Ich bin in wenigen Minuten wieder da, okay?«, murmelte ich noch und trug die Essensreste aus dem Zimmer, bevor Frau Flanagan darauf bestehen würde, dass sie die nun angestaubten Tomaten und Gurkenscheiben trotzdem essen würde.
Bescheiden, wie sie war, hätte sie das sonst vorgeschlagen. Doch sie hatte ein Abendessen in Würde verdient, weshalb ich ihr in der Küche einen neuen Teller zusammenstellte.
»Du bist einfach die Beste!«, kommentierte Fiona, als ich schnellen Schrittes zurück über den Flur huschte.
»Danke, aber ich versuche einfach nur, das hier gut zu machen und .«, wich ich aus.
Hoffentlich wirkte das Abendessen, das ich für Frau Flanagan neu zubereitet hatte, nicht völlig deplatziert. Einen Mund aus Erdbeeren, ein Augenpaar aus Gurken und eine riesige Nase mit einem belegten Salamibrot waren schließlich eher für eine jüngere Zielgruppe geeignet. Deshalb beeilte ich mich umso mehr, um zurück zu meiner Bewohnerin zu kommen, und dort wurden meine kurzen Selbstzweifel schnell von einem breiten Lächeln zerstreut.
»Joanne«, kam von Frau Flanagan, die sich in dem Moment wieder an meinen Namen erinnerte, »das ist wunderbar. Und die Erdbeeren erst. Weißt du, dass ich Erdbeeren so gerne mag?«
Schmunzelnd setzte ich mich neben sie und schaute zu, wie die alte Frau genussvoll die Erdbeeren aß, bevor es an den restlichen Teil ihres Abendessens ging. Als sie mir zum Abschluss die einzig noch übrig gebliebene Erdbeere überlassen wollte, schüttelte ich meinen Kopf und flunkerte etwas von wegen Kreuz-Allergie. Es hätte mir das Herz gebrochen, ihr diese letzte Erdbeere wegzuessen, und ich war froh, dass Frau Flanagan mir die Allergie abkaufte und mit einem zaghaften Lächeln auf ihrem Gesicht das letzte Obststück aß. Ich vergewisserte mich, dass sie satt war, und schaltete den von ihr bevorzugten TV-Sender ein, um das Abendprogramm sicherzustellen, ehe ich mich für diesen Abend von Frau Flanagan verabschiedete.
»Viel Spaß mit der Flimmerkiste und schlafen Sie später gut«, murmelte ich. Wobei sie mich vermutlich gar nicht mehr hörte, weil sie schon längst auf den Fernseher und ihre Telenovela konzentriert war, während ich nun das Tablett mit dem leergegessenen Teller Richtung Küche trug.
»Danke, dass du nochmal eingesprungen bist - ähm, ist alles okay bei dir?«
Mist. Jetzt hatte Fiona mich doch noch erwischt. Ich mochte sie, doch als Leiterin unseres Teams und als Mensch mit einem ausgeprägten Feingefühl entging ihr nur selten etwas - und ich war gerade nicht sonderlich gut darin, mich auf eine solche Unterhaltung einzulassen. Irgendwie fehlte mir dafür der Elan, obwohl ich vorhin noch voller Tatendrang gewesen war und mich so auf mein freies Wochenende gefreut hatte. Das war untypisch für mich. Normalerweise konnte ich viel besser abschalten.
»Na klar, Frau Flanagan ist gut versorgt. Ihr ist nur der Teller runtergefallen, schon gut«, versuchte ich positiv zu bleiben und spürte den kurzen Händedruck auf meiner Schulter.
»Ich weiß, dass ich mich absolut auf dich verlassen kann, wenn es um die Pflege unserer Bewohnenden geht. Mir geht es um dich. Du wirkst seit Tagen so, als bedrücke dich etwas. Ist es wegen der Absage von neulich oder wegen deines Freunds?«
Wenig überzeugend schüttelte ich meinen Kopf. Denn so genau wusste ich ja selbst nicht, was mich davon gerade mehr enttäuschte. Zumal das nicht alles war, was mir Kopfzerbrechen bereitete. Die Absage auf eine lieblos von mir geschriebene Jobbewerbung hatte mich wider Erwarten getroffen. Eine Organisation, die schwer erziehbaren Jugendlichen durch verschiedene Projekte neue Perspektiven aufzeigte, hätte sicherlich von mir profitiert. Und mir hätte diese Arbeit Spaß gemacht. Für solche Themen hatte ich schließlich Soziale Arbeit studiert und meinen Master vor wenigen Monaten abgeschlossen. Trotzdem fühlte es sich momentan falsch an, mich schon auf einen Vollzeitjob festzulegen. Lange genug hatte ich auf meinen Uniabschluss hingearbeitet und nun kam es mir vor, als sei meine Studentenzeit viel zu schnell vergangen, weshalb ich mir mit der Bewerbung bisher kaum Mühe gegeben hatte. Bereute ich meine Schludrigkeit nun? So sicher war ich mir nicht.
»Schon okay mit der Bewerbung. Ich muss eigentlich vorher noch ein paar familiäre Dinge klären und so«, wich ich aus und bemühte mich, mein Gute-Laune-Gesicht anzuknipsen. »Weißt du was, Fiona? Ich habe gerade überhaupt keine Lust auf diese Schlechte-Laune-Themen«, seufzte ich und zuckte mit den Schultern. »Schließlich hilft das kein Stück weiter, und da kommt mir das Wochenende recht. Feiern ist viel besser als Trübsal blasen! Willst du nicht einfach mitkommen? Du könntest nach dieser Arbeitswoche sicherlich auch mal ein bisschen Ablenkung gebrauchen.«
»Höre ich da etwas von Feiern und Ablenkung?«
»Cillian! Bist du auch dabei?«
Diesmal war mein Lächeln aufrichtig. Wenn mein Kollege Cillian, der sich lautlos angeschlichen hatte, mit am Start war, dann konnte aus diesem Abend definitiv etwas werden. Cillian war seit kurzem Praktikant im Pflegeheim, konnte echt gut mit den alten Menschen umgehen und wusste definitiv, wie man einen entspannten Abend verbrachte. Also genau das Richtige in meiner Situation. Sein »Klar bin ich dabei« war daher Musik in meinen Ohren und schnell war der Plan geschmiedet. Wir würden in meinem Lieblings-Pub jenseits der touristischen Viertel starten und uns später ins Getümmel von Templebar stürzen.
»Wir treffen uns also in einer Stunde im Cobblestone, okay? Ich muss nochmal nach Hause und mir Klamotten holen.«
»Klar, das passt!«
»Hört sich gut an, bis später«, bestätigte auch Fiona. »Ach und bringst du deinen ominösen Freund heute endlich mal mit?«
Ich seufzte.
»Zu gern würde ich ihn euch vorstellen, aber er ist dieses Wochenende unterwegs auf einem Kongress.«
Auf welchem Kongress Neil genau war, hatte er mir gar nicht erzählt. Mein Freund war oft unterwegs. Umso schöner war es, wenn ich Zeit mit ihm verbringen konnte. Es war unbeschwert mit Professor Dr. Neil Cronin. Die Ungezwungenheit war genau mein Ding. Bloß dass er das wohl noch mehr schätzte als ich. Seit einem knappen Jahr waren wir zusammen und seit Monaten erinnerte ich ihn regelmäßig daran, dass wir unsere Beziehung nicht mehr verheimlichen wollten. Schließlich war ich jetzt nicht mehr seine Studentin und außerdem hatte ich sowieso nur ein Modul bei ihm belegt. Seit ebenso vielen Monaten wich Neil mir aus, wenn ich auf das Thema zu sprechen kam. Ein Grund mehr, diesen Freitag nicht Trübsal zu blasen, sondern den Abend mit Cillian und Fiona zu verbringen. Auch wenn die beiden nur Teammitglieder waren und ich meine Freunde vermisste, die sich seit dem Uniabschluss in alle möglichen Richtungen verstreut hatten, freute ich mich nun auf diese Ablenkung. Die Aussicht auf das Cobblestone, in dem gute Musik gespielt wurde, und eine anschließende Tour würde nach dem unterschwelligen Frust der letzten Tage bestimmt herrlich sein.
»Also, bis später!«
***
Endlich konnte ich die eintönige Arbeitskleidung auf den Boden meines WG-Zimmers fallen lassen und in ein farbenfroheres Outfit schlüpfen. Mein geliebter roter...
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