Schweitzer Fachinformationen
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Seit Wochen hatte der galizische Winter Dorf und Landschaft unter der dicken, die Bewegungen und Geräusche mild dämpfenden Schneedecke begraben. Das blendende Weiß schlitzte die Augen, und das zischende Wispern des eisigen Ostwindes trieb dünne Schneenebel um die tief geduckten Häuser. Nach ukrainischem Brauch hatten auch die Deutschen ihre Häuser im Oktober wieder mit einer mannshohen Bretterverschalung, der „Sachate“, umbaut, die, mit Laub und Stroh gefüllt, einen wärmenden Mantel für die Steinwände bildet, um die eisigen Temperaturen von oft bis minus dreißig Grad zu mildern. Trotz dieses Schutzes überzog die Steinmauern in besonders kalten Zeiten wie diesen sogar innen eine dünne Eisschicht. Nachts hörte man das Heulen der hungrigen Wölfe vom Wasserloch her und tagsüber waren die Krähen krächzend und klagend auf der Suche nach Futter. Es war der letzte Mittwoch im Januar 1932, als Mutter mithilfe ihrer Schwägerin Irene, der Hebamme, mich, ihr fünftes Kind zur Welt brachte. Tante Irene war wegen des vielen Schnees bereits am Montag von Weißenberg herübergekommen, um ihr beizustehen, und meine älteste Schwester Anni ging ihr schon zur Hand, auch weil Vanda, unsere Magd, seit Weihnachten nicht mehr bei uns war. Sie hatte einen Witwer mit zwei Kindern in Dowersteen geheiratet und auch Wassili, unseren alten, treuen Knecht, aufs Altenteil mitgenommen, wo sie den Verwandten als Hilfe auf dem Hof und zur Beaufsichtigung der Kinder gut gebrauchen konnte. Meine Eltern hatten sich entschieden, wegen der Kosten und weil meine älteren Geschwister schon viel mithelfen konnten, keine Bediensteten mehr einzustellen; es waren ja so schon acht Mäuler zu stopfen.
Ich war ein klein gewachsenes, schmales Mädchen, und meine neue Welt war der Hof Nr. 12 in Ottenhausen. Hier war ich zuhause, auch wenn ich als lebhaftes, neugieriges Kind bald viel unterwegs war und mich zu einem richtigen „Streuner“ entwickelte. Während meine drei älteren Schwestern Anni, Hedwig und Hella die Arbeiten in Haus und Hof bewältigen mussten, war ich frei und musste kaum helfen. Ich konnte fast ungehindert auf dem Hof, später in der Nachbarschaft und sogar im Dorf unterwegs sein, Verwandte besuchen, mich mit anderen treffen oder spielen. Ich verlebte eine Kindheit, wie sie in den Dörfern der deutschen Bauern in Galizien nicht gerade üblich war, denn die allermeisten der Kinder waren in die täglichen Arbeiten in der Landwirtschaft, beim Viehhüten, beim Wasserholen und vielen anderen Aufgaben fest eingebunden. Ich aber durfte herumstromern, hatte viele Freiheiten und nutzte und genoss Haus, Hof und Umgebung. Ich war neugierig und hatte Gefallen daran, dies und das zu entdecken, zu fragen, und manchmal wurde mir bewusst, dass ich auch lästig war.
Wie auch mein vier Jahre älterer Bruder Josef, der nach drei Mädchen endlich der ersehnte und erhoffte Hoferbe und Stammhalter war, wurde ich ganz besonders von unserer opferbereiten Mutter, der Strenge und Strafen gänzlich fernlagen, schon verwöhnt. Auch der milde und nachsichtige Vater trug seinen Teil dazu bei, dass in unserem Hause eine friedvolle, von christlicher Demut und Nachsicht geprägte Stimmung herrschte. Überhaupt mein Vater: Er hieß zwar Josef, aber er war mein Fels, mein Rückhalt und der Mittelpunkt der Familie. Er half mir, ich konnte immer zu ihm kommen, immer wusste er Rat, er wurde nie wütend oder unbeherrscht, konnte mir alle Fragen beantworten. Mit ihm, so glaubte ich, konnte mir nichts geschehen.
„Mahle, mahle, dahle, fahre uff de Markt, kaufe ä Kiche un ä Kälbche, hott ä Schwänzche, macht dille, dille, länzche!“ Langsam und beschwörend gesprochen und mit dem Zeigefinger auf der Handinnenseite zärtlich kreisend bestärkt, folgte zum Abschluss ein juchzend begrüßtes Durchkitzeln, und ich genoss das kribbelnde Gefühl von Spaß und Zuwendung. Ich mochte diese Liebkosung, Mutter hatte es gern, wenn ich es mit ihr machte, und bald wurden auch die kleinen Brüder in diesen Spielreim mit einbezogen.
Zu meiner Kindheit gehörten auch Mutters blinder Onkel Peter und Rudolf und Viktor. Die Brüder, zwei und vier Jahre jünger als ich, vervollständigten unsere Familie. Ohne sie konnte ich mir unser Zusammenleben gar nicht vorstellen, obwohl ich mich selten wirklich um sie kümmerte, sie gehörten einfach wie selbstverständlich dazu. Mutter und die großen Schwestern waren wohl Betreuung genug, ich hatte ja keine Zeit, ich war lieber unterwegs. Manchmal, wenn sie krank oder weinerlich waren oder nicht schlafen wollten, bekamen sie einen „Mohnschnuller“. Ich drängte mich danach, die „große“ Schwester zu spielen, das Beruhigungsmittel zu richten und ihnen zu verabreichen. In ein kleines Sacktuch gab ich ein Löffelchen Mohn, drehte es zusammen, eine der älteren Schwestern band es mit einem Zwirn ab, ich lutschte es kurz an und steckte es dem Brüderchen in den Mund. Tatsächlich half es nach einiger Zeit, und ich fühlte mich groß und wichtig, ich konnte schon helfen, die Buben zu beruhigen und zum Schlafen zu bringen.
Etwas Besonderes waren für mich Gerüche, ja, Gerüche und Düfte. Wenn ich als Kind von vier, fünf Jahren im Winter morgens in die Küche kam, standen da die frisch gewichsten Schuhe meiner älteren Geschwister, irgendwann in der Nacht von Mutter eingewachst und poliert. Wie sie so aufgereiht auf die Füße der Geschwister warteten, um mit ihnen zur Schule zu laufen, durchströmte der Geruch von Fett und Öl und vielleicht ein wenig ein Hauch von Weggehen und Freiheit den Raum; auch ein Gefühl von Sauberkeit und Ordnung und Geborgenheit, von Familie und Vertrautheit konnte ich wahrnehmen. Das gehörte für mich zu meinem Daheim, solange das morgens so war, war alles in Ordnung und gut. Ich genoss die morgendliche Ruhe und Einsilbigkeit, und in Erwartung der älteren Geschwister begann langsam das geschäftige Treiben des neuen Tages.
Nur sonntags war es anders. Wenn man sich morgens zum Kirchgang richtete, schlich ich mich unauffällig in die Stube auf den Dielenboden und glitt in Strümpfen über die wie von Koboldhand seit Samstagabend geschrubbten und gewachsten Bretter. Ihr Honiggelb, mit einem leicht rötlichen Schimmer, gefiel mir. Sie waren wunderbar glatt und rochen herrlich und ein wenig betäubend nach Blüten und Terpentin. Dann tanzte und schwebte ich mit weit ausgebreiteten Armen durch den Raum und drehte mich, bis mir schwindelte und ich mich schnell auf den Rücken niederlegte und die kreisende Decke langsam wieder zur Ruhe kam. Ich wendete mich bäuchlings zum Boden und schnupperte die Wohlgerüche, die sich besonders in der Hitze des Sommers ganz betörend um mich ausbreiteten. Das gefiel mir, das war schön, ich hätte ewig tanzen können, liegen und tanzen, immer weiter tanzen!
Doch dann fuhren wir, im Sommer mit dem Wagen, im Winter mit dem Schlitten, hinüber nach Weißenberg zur Kirche. Ich freute mich immer ganz arg darauf, ich mochte es, durch die Landschaft, vorbei am großen Wald, zu fahren, die Weißenberger Dorfstraße entlang, da und dorthin grüßend und winkend, Einzug zu halten. Es hatte etwas Erhabenes und Feierliches, das gefiel mir. Fuhrwerk und Pferde wurden bei den Großeltern gerade gegenüber eingestellt und dann die heilige Messe besucht. Ich ging gern in die Kirche und auch der anschließende Besuch in der Hauskapelle des Elternhauses unserer Mutter gehörte für mich zum sonntäglichen Ablauf, zumal ich ganz stolz darauf war, dass wir als Einzige weit und breit eine eigene kleine „Kirche“ hatten.
Vor Ostern wurden bei uns die Stube und die Kammern im Haus, der Stall und auch die Außenwände geweißelt, denn die alten Farben waren abgewaschen und verschmutzt. Die Kalkfarbe sollte auch desinfizieren und überhaupt alles wieder hell und schmuck machen. Ich war gerne dabei, ich mochte auch den säuerlichen Duft des Kalks, wenn er ins Wasser eingerührt wurde. Wenn er dann, Blasen blubbernd, wie ein kippendes Boot unterschwappte und später aus der wässrig grauen Brühe, nach einigen Stunden an der Wand, strahlend frisches Weiß wurde, war ich immer wieder erstaunt, es erschien mir wie ein Wunder. Auch wie Mutter die „Weißelbürste“ immer wieder selber herstellte, beeindruckte mich. Aus gedroschenen Hirserispen, die sie geschickt bündelte und zusammenschnürte, entstanden ein großer Pinsel, ein Quast und ein kostenloses Werkzeug, dessen nur kurze Lebensdauer leicht zu verschmerzen war.
Und dann das Brotbacken, herrlich. Morgens wachte ich auf, „hmmm“, frisches, gerade gebackenes Brot, ein unwiderstehlicher Duft im ganzen Haus, schnell sprang ich aus dem Bett und aus der kleinen Kammer direkt hinüber zur Mutter und zu Onkel Peter in die Küche, wo der Blinde immer auf der Eckbank schlief. Vater war dann schon lange im Feld oder Wald, Anni, Hedwig und Hella waren meist schon da, Josef wurde immer wieder gerufen und erschien dann irgendwann, wenn die Mädchen schon fast mit dem Frühstück fertig waren. Wenn sie dann alle aus dem Haus waren, saß ich mit...
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