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Wovon also ließe sich berichten? Einzig doch von Gedichten, solange sie nicht daran gehen, ihren Autor in Stücke zu reißen.
(Autobiographische Ansätze, November 1978)[1]
Gegen Ende seines Schreiblebens, in den 1990er Jahren, wurde Jandls literarische Produktion zusehends zum auch therapeutischen Akt. Die Verteilung der Handschrift auf den Blättern folgt nun nicht mehr jener bewussten Dramaturgie wie in Jandls ganz stark von einem Willen zum Werk geprägten Schaffensphasen in den 1960er und 1970er Jahren. Es finden sich immer mehr Blätter, die kaum mehr den Impuls erkennen lassen, ein Gedicht zu machen - wiewohl sie poetische Gebilde sind. Parallel zur tendenziellen Auflösung der Gedichte geriet auch der Alltag des Dichters in Auflösung, der bis dahin, zumindest nach außen, den Anschein erweckte, von Ordnung und Disziplin bestimmt zu sein. Diesem Prozess lag keineswegs ein Nachlassen der Kreativität zugrunde - ganz im Gegenteil, wenn man sich die Radikalität des Spätwerks vor Augen führt. Die Poststücke und sonstigen Papiere begannen ein Eigenleben zu führen, wenn auch lange nicht in jenen legendären Dimensionen, die das Zetteluniversum Friederike Mayröckers ausmachten, der 2021 gestorbenen Dichterin und langjährigen Gefährtin Jandls; aber ebenfalls in besorgniserregendem Ausmaß. Der Kampf mit der Post wuchs sich zum täglichen Kampf mit einem unüberwindbaren Gegner aus. Im Dialog mit der Partnerin meinte Ernst Jandl einmal, die Post sei die »Hölle«; was von Friederike Mayröcker als zu starker Ausdruck empfunden wurde. Dann eben, so Ernst Jandl, sei die Post die »Vorhölle«.[2] Auch die Aussagen im persönlichen Umgang zeichneten sich durch größtmögliche Präzision aus. Die Fülle an Zusendungen, an Anfragen, an Bitten um Stellungnahmen zur eigenen Produktion von nicht oder weniger bekannten Schreibenden, die Einladungen und Aufforderungen zur Meinungsäußerung war beängstigend. Ernst Jandl war nur mehr teilweise Herr seiner Korrespondenz. Manche Briefe wurden als im Moment weniger wichtig zur Seite gelegt, um dann vielleicht überhaupt nicht mehr geöffnet zu werden. Andere Stücke wurden geöffnet und ebenfalls zur Seite gelegt, um vielleicht später beantwortet zu werden. Wieder andere verschwanden, wiewohl geöffnet, sofort in einer der bereits früher thematisch angelegten Ablagen - die eindrucksvollste jene mit der Aufschrift »TOD«, sie enthielt Parten und Beileidskorrespondenz.
Ernst Jandls Schreibleben vollzog sich in einem Paralleluniversum aus Chaos und Ordnung. Auf der einen Seite war der Lehrer, der penibel über seine Tätigkeit Buch führte und exakte Stundenspiegel erstellte. So begann etwa der Englischunterricht in der ersten Gymnasialklasse (sie entspricht der 5. Schulstufe in Deutschland) in der ersten Stunde des Schuljahres mit der Vermittlung einfacher Fragen und Antworten, die Jandl in sein Lehrer-Vorbereitungsheft eingetragen hatte. Sie klingen fast wie Vorstufen zu einem Gedicht: »Good morning, boys [handschriftlich ergänzt durch >children<]. Good morning, Mr. Jandl. My name is Mr. Jandl. What is your name? What is my name? You are a boy. What are you? I am a teacher man. What am I? Am I a boy? Are you a teacher man? Are you a good boy? Where do you live? I live in Vienna.«[3] Ernst Jandl war mit kürzeren Unterbrechungen von Beginn der 1950er Jahre bis 1979 Gymnasiallehrer für Deutsch und Englisch in Wien. Mit geradezu bürokratischer Präzision hielt er in seiner Funktion als Klassenvorstand die Organisation des Schulalltags in seinen Heften fest: die Verteilung der Klassenämter ebenso wie die Verteilung der damals obligatorischen Schulmilch. Auf der anderen Seite stand der manisch-depressive Dichter, dessen Lehrerdasein mit zunehmendem Erfolg als Dichter »in Auflösung geriet«.[4] Dieses Paralleluniversum spiegelte sich in der Ordnung der Manuskripte, Korrespondenzen, Bücher, Schallplatten und Zeichnungen in Jandls Wohnung und es hatte seine Entsprechung im persönlichen Habitus: in der Verbindlichkeit des sozialdemokratischen Literaturfunktionärs (des Generalsekretärs der »Grazer Autorenversammlung«) nach allen Seiten hin und andererseits der Aggressivität und Verletzlichkeit des Dichters.
Die Zahl an autobiografischen Fragmenten im Nachlass zeugt von der Intensität, mit der Ernst Jandl nach alternativen, nicht konventionellen Formen suchte, die das eigene Leben beschreibbar und vielleicht auch besser ertragbar machen. Ein Ausweg aus dem Dilemma, gegen die Konventionen des Biografischen eine Biografie zu verfassen, ist die Verdichtung des Lebensstoffes in thematisch angeordneten Gruppen von Gedichten. Anstatt die Lebensdaten in zeitlicher Reihenfolge an einer imaginären Lebensschnur aufzufädeln, dachte Jandl daran, eine Auswahl aus seinen Gedichten als Quasiautobiografie zu konzipieren. Dieser Band sollte »Zweites Herz« heißen und der Autor sah fünf Kapitel vor, denen er jeweils ungefähr zehn Gedichte zuordnete: »1. meine richtung 2. meine leute 3. meine liebe 4. meine meinung 5. meine orte«.[5] Darin sollten die persönliche Denkart, die Herkunftsgeschichte, die sozialen Beziehungen, die gemachten Erfahrungen, auch die Liebe zu Friederike Mayröcker in einem für alle Leser:innen jeweils neu zu entdeckenden Sinn bereitliegen. Auf diese Weise ließe sich eine Vorstellung vom eigenen Leben geben, für sich und für andere, so die Idealvorstellung. Der Plan blieb Wunsch, zur Ausarbeitung des Programms ist es nicht gekommen, höchstens ansatzweise, in der Zusammenstellung von Gedichten für Lesungen und Auftritte mit Musiker:innen.
Ein anderes der im Nachlass überlieferten Fragmente, und hier kommt die Stimme ins biografische Spiel, synchronisiert frühe Lebensdaten mit den Geburtsstunden legendärer Jazznummern - eine fragmentarische Lebenspartitur vom Geburtsjahr 1925 bis 1947: »alter: 2 jahre, 2 monate und 25 tage. Eine schnur, daran: weiße katze auf rollen, er nachzog. ab-lecken: kinderbilder an der blechwand vom gitterbett. Am kopf - ende; kopf - ende; kopf - ende. / 26. oktober 1927, duke ellington, creole love call. Adelaide [H]all: aaaaaaaaaaaaa ...«.[6] Am 26. Oktober 1927 nahm das Orchester Duke Ellington zusammen mit der Sängerin Adelaide Hall in einem Studio in New Jersey den legendären Titel »Creole Love Call« auf. Legendär wurde die Aufnahme deshalb, weil Ellington die Stimme der Sängerin im Dialog mit den tonangebenden Klarinetten wie ein Instrument einsetzte, ganz ohne Worte.[7] Wie es dazu kam, ist in einer plausiblen Erzählung überliefert: Hall trat im Herbst 1927 gemeinsam mit Ellington und seinem Orchester im Rahmen einer Revue auf, die wahrscheinlich den Titel Jazzmania trug. Während der reinen Instrumentalnummern ging sie hinter die Bühne und hörte hier die noch instrumentale Version von »Creole Love Song«. Sie fing sofort Feuer und begann eine Gegenmelodie zu summen. Ellington, dem geradezu übersinnliche akustische Fähigkeiten zugeschrieben wurden, hörte Hall, rief sie auf die Bühne zurück und es entstand jene Version, die dann kurz darauf aufgenommen wurde. »Creole Love Call« wurde zum Schlager. Wahrscheinlich ist, dass Ellington auch von der fast zeitgleichen Aufnahme von Louis Armstrongs »Skid-Dat-De-Dat« wusste.[8] Der autobiografisch vermittelte Bezug der noch unartikulierten Sprache des Kindes auf den Einsatz der Stimme als Instrument, auf den Jazz als Medium der Befreiung deklassierter schwarzer Musiker:innen, wenn auch nur im Rahmen der Musik, schreibt die eigene Kindheit in einen universelleren Rahmen ein. Dreißig bis vierzig Jahre später setzte auch Jandl bei der Performance seiner Laut- und Sprechgedichte die Stimme wie ein Instrument ein. Sie erweiterte dadurch die von Wortassoziationen oder den Titeln der Lautgedichte erzeugten Bedeutungshorizonte. Die zu den autobiografischen Daten alternativ gesetzten Meilensteine in der Geschichte der Jazzmusik signalisieren Befreiung. Nicht retrospektiv, sondern im Hinblick auf das Jetzt des Schreibenden, der das Großwerden des Jazz und seinen emanzipatorischen Gehalt mit der eigenen Entwicklung probeweise einhergehen lässt. Die Jazzmusik war für Jandl das Mittel schlechthin, dem eigenen Leben einen Freiheitshorizont zu eröffnen.
Ein für die Geschichte der Jazzmusik weiteres wichtiges Datum, der 19. Dezember 1940, wird von Jandl in den Zusammenhang zweier traumatischer biografischer Erfahrungen gestellt, des Todes der Mutter und des Zweiten Weltkriegs: »krieg war, mama war tot; mama war tot, luise! Luise! Krieg war, mama war tot; und benny goodman: spielte. Am 19. dezember 1940 - christmas tree, jetzt oder nie, christmas tree: spielte - gilly«.[9] Ernst Jandls Mutter war am 6. April 1940 nach langer Krankheit gestorben. Ihr Tod war, so interpretierte ihr Sohn die Krankengeschichte, eine Spätfolge der Geburt ihres dritten Kindes Hermann, der 1932 geboren worden war. In dem undatierten und titellosen autobiografischen Entwurf kommt es zu einer Kollision von (traumatischen) Lebensdaten und eines Rhythmus, der von früh an und lebenslang Ernst Jandls Reich der Glückseligkeit war. Der Jazz und die Rockmusik waren die Begleitmusik dieses Lebens, eine Leidenschaft, die auch Jandls Begeisterung für Krimis und das Schachspiel in den Schatten stellte. Jandls Schallplattensammlung ist imponierend und dokumentiert seine anhaltende Begeisterung und Kennerschaft. Die Stimme der Sängerin Adelaide Hall, die von Duke Ellington wie ein Instrument eingesetzt...
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