Schweitzer Fachinformationen
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»Haben Sie gerade gesagt, mein Mann hat meine Stelle gekündigt?« Doro musste beinahe brüllen, um die umhertobenden Kinder zu übertönen. Der Lärm im Kindergarten, in dem sie als Erzieherin arbeitete, hatte im ersten Moment dafür gesorgt, dass sie dachte, sie hätte sich verhört.
Doch dann wiederholte ihre Chefin Frau Bleibtreu das Gesagte: »Ihr Mann hat angerufen. Er möchte Sie lieber zu Hause haben.«
Doro versuchte die Information zu verarbeiten, während die kleine Tanja lauthals den beiden Jungs hinterherjagte, die ihr den Haarreif vom Kopf geklaut hatten. Zugegeben, das war Doros Schuld - oder besser gesagt, ihr Verdienst. Sie hatte Tanja eingetrichtert, dass sie sich solche Gemeinheiten nicht gefallen lassen solle. Denn Doro wusste, dass man als Frau schon früh lernen musste, für sich einzustehen, sonst würde das später zum Problem, so wie es bei ihr oft der Fall war. Zu der herausfordernden Geräuschkulisse kam erschwerend hinzu, dass sie gerade nicht aufstehen konnte. Tanja hatte sie nämlich gebeten, ihr Knetei auszubrüten. Kinder mussten ernst genommen werden, so lautete Doros Credo. Und weil Fantasie zu ihrem Job als Kindergärtnerin dazugehörte wie der Löffel zu einem Teller Suppe, saß Doro also jetzt auf einem blauen Knetei und versuchte, über mehrere Kinderköpfe hinweg mit Frau Bleibtreu zu reden, die in der Tür zum Spielzimmer stand wie in einem zu kleinen Bilderrahmen. Sie schien nicht gewillt, diese Position aufzugeben und sich den Weg durch die tobenden Kinder hindurch zu Doro bahnen zu wollen.
»Ihr Mann hat die Vormundschaft, das wissen Sie ja«, rief sie jetzt ungeduldig. »Damit ist das Arbeitsverhältnis aufgelöst. Die Anita müsste gleich hier sein.«
Doro konnte es nicht fassen. Wie kam Matthias dazu, einfach so, ohne mit ihr darüber zu sprechen, ihren Job zu kündigen? Ja, er war ihr Ehemann, und ja, theoretisch hatte er das Recht, ihr das Arbeiten zu untersagen. Aber warum in aller Welt sollte er das tun? Sie musste sich ein bisschen Zeit verschaffen, daher sagte sie so ruhig und gefasst wie möglich: »Ich rede nachher mal mit meinem Mann, das muss ein Missverständnis sein.«
Frau Bleibtreu verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. »Es tut mir ja auch leid, Frau Walter, aber wenn Ihr Mann das wünscht, dann müssen wir uns danach richten«, sagte sie spitz. »Wir sind hier ein katholischer Kindergarten. Eine Ehe wollen wir doch nicht aufs Spiel setzen, oder?!« Sie sprach jetzt ein bisschen so, als erklärte sie einem der Kinder, dass man andere nicht hauen dürfe. Dadurch war die demütigende Situation für Doro noch schlimmer. Sie zog ihre Brille ab und bearbeitete die Gläser mit dem Ärmel ihrer Bluse, rubbelte und wischte und setzte sie wieder auf. Es machte keinen Unterschied, die Gläser waren immer noch dreckig, aber Wut und Nervosität manifestierten sich bei ihr immer in Brilleputzen - als ob die Welt sich ändern würde, wenn sie die Dinge um sich herum klarer sähe. Sie wusste, dass sie keine andere Wahl hatte, als sich erst mal der Ansage von Frau Bleibtreu zu beugen. Aber sie wusste auch, dass sie sich auf keinen Fall ihre Arbeit würde wegnehmen lassen. Kindergärtnerin klang vielleicht nicht nach einem Traumjob - unter anderem wegen des hohen Geräuschpegels und der Virengefahr -, aber man konnte jederzeit legitim Quatsch machen und jede Albernheit als fantasievolles Spiel verkaufen. Doro hatte sich vom ersten Tag an hier sehr wohlgefühlt, deshalb war sie nach der Ausbildung zur Erzieherin auch gleich dageblieben. Im Kindergarten war es so schön anders als im Feinkostladen ihrer Eltern, wo alles stets korrekt sein und der Umsatz stimmen musste. Dort hätte sie nicht arbeiten wollen. Überhaupt empfand Doro die Erwachsenenwelt oft als viel zu ernst, zu unentspannt, zu kontrolliert. Darum hatte sie es auch nie für nötig gehalten, ein Haushaltsbuch zu führen, obwohl Matthias ihr extra eines gekauft hatte.
Schützend zog sie die Schultern nach oben. Immer noch spürte sie den fordernden Blick von Frau Bleibtreu auf sich. Anscheinend wollte ihre Chefin mit eigenen Augen sehen, dass Doro den Kindergarten verließ. Sie seufzte. Unter ihrem Allerwertesten befand sich doch noch das blaue Knetei - und Spiel war Spiel, da konnte man nicht einfach unvermittelt aussteigen! Zum Glück kam Tanja jetzt stolz grinsend auf sie zu. Der Haarreif befand sich wieder auf ihrem Kopf und hielt die langen blonden Haare davon ab, ihre olivengrünen Augen zu verdecken. Doro musste lächeln.
»Na, geht doch«, freute sie sich über Tanjas Erfolgserlebnis.
»Danke fürs Brüten«, entgegnete das Mädchen mit zartem Stimmchen - und das war Doros Stichwort: Sie tastete mit einer Hand unter ihren Po und machte ein freudiges Gesicht.
»Ich glaube, da ist was geschlüpft«, sagte sie feierlich, formte die Hände zu einer Schale und reichte Tanja ein imaginäres Küken. Das Mädchen strahlte über das ganze Gesicht und formte mit den Händchen ebenfalls eine Schale, damit Doro ihr das Küken übergeben konnte. Dabei bemühte sich Doro, die ungeduldig wartende Frau Bleibtreu am anderen Ende des Raumes auszublenden, deren Blick halb genervt, halb mitleidig auf ihr ruhte. Tanja streichelte jetzt vorsichtig ihr Küken.
»Das lässt du dir nicht von den Jungs wegnehmen, versprochen?« Doro sah sie streng an, und Tanja nickte andächtig. Dann griff sie in ihre Rocktasche und holte einen weiteren blauen Knetklumpen hervor.
»Hier, ich schenke dir noch ein Ei, Frau Walter«, sagte sie großzügig und grinste sich Grübchen ins Gesicht. Doro nahm das blaue Ei entgegen und lächelte, obwohl sie eigentlich hätte heulen wollen. Sie atmete tief durch und erhob sich langsam.
»Ich muss heute früher los«, sagte sie schnell, strich Tanja über die Wange und bahnte sich dann den Weg durch den Raum. Vorbei an den Vorschulmädchen Nicole, Stefanie und Claudia, die am Basteltisch mit ihren Stricklieseln beschäftigt waren. Vorbei an Christian und Martin, die, statt Tanja zu necken, jetzt einen Holzklotzturm auf dem Spielteppich errichteten. Vorbei an der Jüngsten im Bunde, Katharina, die in der Kuschelecke ein Bilderbuch durchblätterte. Die Luft roch nach einer Mischung aus Klebstoff, matschigen Bananenstücken und Kinderpupsen, gemischt mit dem Duft frischen Kaffees aus der Kindergärtnerinnen-Küche. Alles war wie immer. Ein ganz normaler Tag. Nur dass sie, wenn es nach Matthias ging, einfach nicht mehr dazugehörte. Von jetzt auf gleich.
Als Doro sich an Frau Bleibtreu vorbeischob, nickte sie ihr nur kurz zu, und ihre Chefin nickte zurück. Was gab es auch zu sagen? Sie beide wussten, dass das Erlernen und Ausüben eines Berufs die »großzügigste Geste der modernen Zeit an die Frau« war. So stand es zumindest in den Ehebüchern, die ein beliebtes Geschenk an Hochzeitspaare waren. Auch Doro hatte ein solches Exemplar von ihrem Onkel Helmut zur Hochzeit bekommen - falls in ihrer Ehe mal Fragen aufkommen würden wie: Bekommt die Frau genug Taschengeld? oder Ist Frigidität ein Scheidungsgrund? Doro verdrehte innerlich die Augen beim Gedanken daran, nahm ihre blaue Cordjacke von der Garderobe und streifte sie langsam über. Sie hatte das Kleidungsstück an einen der Kinderhaken gehängt, den das Bild eines Löwen zierte. Im katholischen Kindergarten hatte jedes Kind ein Tierbild, damit es sich merken konnte, wo es seine Jacke hinhängen sollte. Der Löwe gehörte eigentlich dem kleinen Thomas, doch der war heute krank, und so hatte Doro sich den Löwen geschnappt. Gerade fühlte sie sich aber eher wie eine Antilope. Zerbrechlich und schutzlos und von ihrer Herde getrennt. Ihr Blick fiel in den Spiegel an der Wand. Sie sah aus wie immer. Ihre vom Mittelscheitel herabfließenden dunkelblonden Haare, die verträumten blauen Augen hinter den Brillengläsern, die geschwungenen Lippen unter der Stupsnase. Sie bemerkte, dass ihre Schultern mal wieder nach vorne fielen, und stellte sich aufrechter hin - ein antrainierter Vorgang, den sie immer dann vollzog, wenn sie sich ihrer Schlaksigkeit bewusst wurde. Dann wandte sie den Blick ab und betrachtete noch einmal die kleinen bunten Jacken und Schuhe in Reih und Glied, rückte einen linken Gummistiefel zurecht und öffnete die Tür. Das blaue Knetei hielt sie immer noch fest in der Hand.
Die Straßen waren ungewöhnlich leer. Auch der Alte Markt mit dem Kuhhirtendenkmal, den Doro immer überquerte, schien wenig besucht. Die bronzene Statue sollte an die Hirten erinnern, die jahrhundertelang das Vieh, das jeder Haushalt in Bochum zur Selbstversorgung besaß, auf die Vöhde gebracht hatten, bevor aus dem Ackerland Zechen, Stahlwerke und Eisenbahnstrecken geworden waren. Es war bereits der zweite bronzene Kuhhirte, weil der erste wie viele Kunstwerke im Zweiten Weltkrieg für die Rüstungsproduktion eingeschmolzen worden war. Jeden Monat, wenn sie mit den Kindergartenkindern hier vorbei in die Bücherei gegangen war, hatte Doro ihnen diese Fakten erzählt, nicht, weil es wichtiges Wissen war, sondern weil die Kinder es immer wieder hören wollten. Jetzt fragte sie sich, ob der fehlende Trubel an der Uhrzeit lag, schließlich war es erst halb elf, oder ob er ihr nur heute zum ersten Mal auffiel, wo sie es nicht eilig hatte, nach Hause zu kommen. Normalerweise verließ sie kurz nach zwölf den Kindergarten und trat zügig den Heimweg an, um das Mittagessen zu kochen. Sie lief die Bongardstraße entlang, am Hansa-Haus mit seiner schönen Jugendstilfassade vorbei, dann am Rathaus, an der Christuskirche, in der Matthias und sie geheiratet hatten, bis sie ihre Wohnung am Westring erreichte. Der Nachhauseweg war nicht weit, die wenigen Blöcke in zehn Minuten zu schaffen. Meist gelang es Doro...
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