Schweitzer Fachinformationen
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Die Glocken der großen Kirche schlugen acht Uhr morgens, und es war bereits jetzt schon wieder entsetzlich heiß. Kein Wunder, im Hochsommer kühlte Barcelona nicht einmal nachts richtig ab. Vielmehr begleitete die Hitze der Sonnenstunden Nachtschwärmer und Frühaufsteher wie eine eifersüchtige Glucke auf ihren Wegen nach Hause oder zur Arbeit und legte sich als feuchter Film auf die Haut der Schlafenden. Und besonders gerne quälte sie, wie in diesem Augenblick, Karl Lindberg, der in Begleitung des alten Rüden Paco auf dem Weg zum Strand war.
Karl versuchte es jeden Tag aufs Neue, doch auch an diesem Samstagmorgen würden sie es nicht schaffen, sosehr er sich auch nach dem bisschen Wind sehnte, der einem am Strand von Barceloneta um die Nase wehte. Denn Paco war mit seinen vierzehn Jahren nicht mehr zur Eile zu bewegen und legte eine Langsamkeit an den Tag, die Karl ein ums andere Mal um den Verstand brachte. Beinahe hatte er den Eindruck, der kleine Kerl mache das nur, um ihn zu ärgern.
Das Straßenpflaster glänzte feucht, ganz so, als hätte es gerade erst geregnet. Doch der Schein trog: Wer länger in der Altstadt wohnte, wusste, dass die allgegenwärtige Straßenreinigung wieder einmal am Werk gewesen war. Tagtäglich putzte und wienerte sie den kompletten historischen Stadtkern, sodass man das Gefühl bekommen konnte, in einem Freilichtmuseum zu wohnen.
Karl nahm seinen altmodischen Strohhut vom Kopf und wischte sich den Schweiß von der Stirn, während er am Seitenportal der Santa Maria del Mar auf Paco wartete. Wenn er gerade nicht mit dem Hund unterwegs war, gönnte Karl sich morgens gerne eine Pause in der großen Kirche; am frühen Morgen und am Abend war der Eintritt in das imposante Bauwerk kostenlos, und obwohl er kein religiöser Mensch war, überkam ihn in dem kühlen Gebäude jedes Mal eine Ruhe, die er in den quirligen Gassen der Stadt eher selten fand. Früher hatte lediglich ein schmaler Vorplatz die Kirche vom Wasser getrennt, doch die Stadt hatte dem Mittelmeer Straßenzug um Straßenzug abgetrotzt, weshalb Karl nun deutlich weiter zum Strand laufen musste als die Menschen, die vor einigen Hundert Jahren in der Stadt lebten. Ein bisschen ärgerlich war das ja schon, dachte Karl. Vor allem, wenn man hundebedingt etwas langsamer unterwegs war.
Endlich schob sich der kleine Malteser seiner Schwiegermutter, dessen struppiges, gelblichweißes Fell eher an einen sehr alten Wischmopp als an einen Rassehund erinnerte, um die Ecke der gewaltigen Kirche, den Kopf konzentriert auf das buckelige Kopfsteinpflaster gesenkt.
»Paco, vamos!«, knurrte Karl, obwohl er genau wusste, dass seine Aufforderung nichts, aber auch gar nichts bewirken würde. Doch wenn er dem Hund Befehle erteilte, fühlte er sich ihm nicht ganz so ausgeliefert.
Er ließ seinen Blick über den Platz und die Gassen des Viertels streifen, das er sein Zuhause nannte, seitdem er ein paar Monate zuvor mit seiner Frau Alba und ihrem gemeinsamen Sohn Oliver in Albas Heimatstadt zurückgekehrt war. Für ihn war El Born der perfekte Stadtteil, zentral, nahe am Meer, mit engen Gassen und wunderschönen Geschäften, aber nur wenigen Sehenswürdigkeiten, weshalb die Bewohner dieses Viertels weniger in Touristenströmen ertranken als ihre Nachbarn in El Gòtic. Eigentlich liebte Karl Lindberg Barcelona, nur die Hitze machte dem rothaarigen Halbiren mächtig zu schaffen. Es half auch nicht, dass seine Frau nicht bereit war, sein Leiden anzuerkennen. Alba fand Karl melodramatisch - Karl fand Barcelona zu heiß.
Er zuckte zusammen, als sein Handy klingelte. Um diese Uhrzeit war es selbst im Hochsommer in den Gassen der Stadt noch so ruhig, dass es leicht war, sich gedanklich in mittelalterliche Zeiten zu versetzen, in denen Smartphones noch lange nicht existiert hatten. Karl kam nicht umhin, sich manchmal in handylose Zeiten zurückzuwünschen; es musste ja nicht unbedingt das Mittelalter sein. Die Achtziger täten es auch.
Das Display zeigte an, dass sein Schwager Alex versuchte, ihn zu erreichen. Augenblicklich begann Karls Herz, wie wild zu klopfen. Alex war ein Nachtschwärmer, der niemals ohne besonderen Grund um diese Uhrzeit auf den Beinen war, außerdem hatten er und Karl kein besonders inniges Verhältnis zueinander und telefonierten nur dann, wenn es unumgänglich war. Sofort wurde Karl von der sonderbaren Angst überfallen, dass etwas Schreckliches vorgefallen war.
»Ja, was gibt's?«, fragte er schroffer, als es seine Absicht gewesen war.
»Buenos, Flieger!«, erwiderte sein Schwager mit offensichtlich aufgesetzter Heiterkeit. »Wo steckst du?«
Karl runzelte die Stirn. Er konnte es nicht leiden, wenn Alex ihn Flieger nannte. Der jüngere Bruder seiner Frau hatte ihm diesen Spitznamen aufgrund seiner Namensähnlichkeit mit der Fliegerlegende Charles Lindbergh verpasst, mit der Folge, dass die gesamte Familie und beinahe das halbe Viertel ihn mittlerweile Flieger nannte und ihn somit täglich an seine immense Flugangst erinnerte.
»Ich bin mit Paco unterwegs zum Strand. Warum? Ist irgendwas passiert?«
»Nein, nein«, versicherte Alex hastig. »Aber ich könnte deine Hilfe gebrauchen. Wie schnell kannst du am Passeig del Born sein? Ich bin im >Especialidades Molina<.«
Karl war erleichtert und verärgert zugleich. Wenn es sich nicht um eine Familienangelegenheit handelte, wieso rief Alex ihn dann so früh am Morgen an? Er antwortete reserviert: »Warum das denn? Brauchst du ein Geschenk für eine von deinen Liebschaften?«
Alex zögerte. Karl konnte durch die Leitung förmlich spüren, dass er mit sich rang, und dachte nicht im Traum daran, es dem Jüngeren leicht zu machen. Sein Schwager fragte äußerst ungern um Hilfe, war er doch der Auffassung, dass er eigentlich alles am besten konnte, was es auf der Welt zu können gab. »Nein, das ist es nicht«, versicherte Alex und senkte die Stimme, sodass sie beinahe nur noch ein Flüstern war. »Ich brauche deinen fachlichen Rat.«
Nun verstand Karl. Natürlich, das hätte er sich denken können. Alex brauchte Karl Lindberg als Polizisten.
»Alex, ich bin beurlaubt.«
Alex' Stimme nahm einen dringlichen Tonfall an. »In Deutschland vielleicht, nicht hier. Außerdem wissen wir alle, wie sehr du dich langweilst - du vermisst deinen Job, wenn du ehrlich bist. Komm schon, Kommissar!«
Albas Bruder war vor ein paar Wochen bei den Mossos d'Esquadra, der katalanischen Polizei, zum Sergent für Kapitalverbrechen aufgestiegen. Eine Tatsache, die der ganzen Familie Rätsel aufgab, war Alex' Schulabschluss doch so miserabel gewesen, dass er gerade einmal für eine Ausbildung in niedrigen Dienstgraden gereicht hatte. Es war nicht so, dass Alex nicht das Zeug zu einem guten Abschluss gehabt hätte - aber er war ein rebellischer Partylöwe und hatte sich damit so einige Chancen verbaut. Barcelonas Nächte hielten für einen jungen Mann von Alex' Temperament und Lebenshunger genug bereit, um ihn vom Lernen abzuhalten. Außerdem wurde Alex von allen Frauen geliebt, was seine Mutter und seine große Schwester mit einschloss, und so hatte es keine der beiden über sich gebracht, Alex zur Disziplin zu mahnen.
Angeblicher Personalmangel und eine berückend kurze Fortbildung hatten dem Schwager nun seinen rasanten Aufstieg ermöglicht, doch Karl konnte nicht so recht glauben, dass das die ganze Erklärung war. Die gesamte Familie hätte niemals auch nur im Traum daran gedacht, dass irgendjemandem die Idee kommen könnte, dem notorischen Draufgänger ein Dezernat zu übertragen. Besagte Fortbildung zeigte jedenfalls augenscheinlich keine nachhaltige Wirkung, schließlich kannte Karl Alex gut genug, um zu wissen, dass dieser sich lieber die Zunge abgebissen hätte, als seinen erfahrenen Schwager um etwas zu bitten.
»Hast du eine Leiche?«, fragte er deshalb.
»Ich glaube schon.«
»Was soll das heißen? Du glaubst schon?«
Alex verlor langsam die Geduld. »Maldito! Kannst du nicht einfach herkommen? Dann kann ich dir alles sehr viel besser erklären als am Telefon.«
Karl zögerte.
»Bitte«, presste Alex hervor, und ein kleines Lächeln huschte über Karls Gesicht. Eigentlich geschah es seinem großkotzigen Schwager ja recht, wenn er bei einem richtigen Kriminalfall ins Schwimmen geriet. Allerdings langweilte Karl sich tatsächlich schon seit Wochen beinahe zu Tode und wünschte sich im Stillen zur Berliner Mordkommission zurück. Seine Neugier siegte rasch über pädagogische Motive - außerdem war er tatsächlich direkt um die Ecke und hatte somit wenige echte Ausreden parat.
Mit einer flinken Handbewegung griff er nach Paco, der sich in der Zwischenzeit keinen Millimeter vorwärtsbewegt hatte, und klemmte sich den Hund unter den Arm. »Ich bin in zwei Minuten bei dir!«, sagte Karl und ließ das Telefon in die Tasche seines Leinensakkos gleiten.
Auf dem kurzen Weg zum stadtbekannten Delikatessenladen musste Karl an sich halten, nicht in den Laufschritt zu verfallen. Sein Schwager sollte auf keinen Fall denken, er hätte sich allzu sehr beeilt. Tatsächlich jedoch hatte ihn die Aussicht auf einen Kriminalfall merklich beflügelt; seine Laune hob sich mit jedem Schritt. Er war nun einmal Polizist und liebte seinen Beruf, auch wenn er sich die größte Mühe gab, genau das zu vergessen. Alba zuliebe.
Schon nach einer knappen Minute kamen die ausladenden, dunklen Schaufensterverkleidungen des Spezialitätengeschäftes in Sicht. Offensichtlich hatte der Laden noch geschlossen, die Metalljalousien vor der Eingangstür waren nur einen Spaltbreit geöffnet. Durch die gehäkelten Vorhänge konnte Karl die Umrisse zweier Personen im Verkaufsraum erkennen, einer davon war Alex' breitschultrige...
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