Schweitzer Fachinformationen
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Samstagmorgen
»Caffè al banco 1 Euro«, stand auf einer kleinen Tafel unter dem großen Wandspiegel. Wie in fast allen Genueser Cafés kostete der Espresso im Stehen an der Theke fünfzig Cent weniger als im Sitzen an einem der Tische. Dass in dieser Gegend viele Millionäre wohnten, schien sich auf die Preise der Bar nicht auszuwirken.
Johann legte eine Münze auf den Tresen und bestellte seinen caffè. Der Barista, ein älterer Herr mit Anzugweste und Fliege, griff nach einer vorgewärmten Tasse. Während die Espressomaschine brummte, drehte sich Johann um und musterte die Menschen im Raum. Besonders reich sah hier niemand aus. Der junge Mann mit dem dicken Bauch, der einen Tisch weiter saß, wirkte eher bedürftig. Er nippte an seinem crodino und schaufelte gewaltige Mengen stuzzichini in sich hinein, kleine belegte Brothappen, Oliven und Kartoffelchips, die zu jeder Art von Drink umsonst serviert wurden. Auch der Handwerker im staubigen Overall, der neben Johann an der Theke stand, hatte nicht den Anschein von Wohlstand. Weißgraue Dreadlocks, ein zerfurchtes Al-Pacino-Antlitz, Hände, denen man die tägliche harte Arbeit ansah. Er tunkte seine Brioche in den Cappuccino, verschlang das Gebäck, leerte die Tasse und ging. Das typische italienische Frühstück.
Johann nahm einen Schluck von seinem Espresso und grübelte darüber nach, warum er an einem Samstagmorgen ausgerechnet in dieses Viertel von Genua aufgebrochen war. Zu einer Adresse, die ihm Commissario Moreno zunächst gar nicht geben wollte, als er ihn am Abend zuvor angerufen hatte.
»Was wollen Sie von ihr? Hören Sie, Dottore. Das sind unsere Ermittlungen. Außerdem ist die Dame, vorsichtig formuliert, nicht besonders kooperationswillig. Ich habe kaum einen ganzen Satz aus ihr herausbekommen. Wollen Sie Detektiv spielen?«
Johann war durchaus bewusst gewesen, dass Moreno recht hatte. Und doch hatte er ihn weiter bedrängt. Irgendwann hatte Moreno nachgegeben und ihm gesagt, wo die beste Freundin der Piranha-Leiche wohnte. Allerdings nicht ohne einen mahnenden Hinweis mit den üblichen Fäkalbegriffen:
»Dottore, ich weiß ja nicht, was für eine Scheißgeschichte dahintersteckt. Ich möchte nur sehr deutlich formulieren: Mischen Sie sich nicht ein!«
»Nein, natürlich nicht«, hatte Johann ruhig geantwortet und es in dem Moment ernst gemeint.
Jetzt war er sich nicht mehr so sicher. Dass Commissario Moreno seinen Hinweis auf das Olivenöl einfach ignorierte, wurmte ihn. Und die Erinnerung an das schöne Gesicht auf dem Foto ließ ihn nicht los.
Er goss den süßlich cremigen Espresso in einem Zug hinunter und verließ die Bar.
***
Enza Marconi schaute auf das Meer. Von ihrem zwei mal drei Meter großen Panoramafenster im sechsten Stock des Palazzo Lupi konnte sie die ganze Bucht vor Genua überblicken. Der Wind peitschte Gischt über die Wellenkämme. Bunte Segel flitzten auf und ab. Die Windsurfer waren wieder unterwegs.
Wenn sie hier stand, fragte sie sich oft, wie es sich wohl anfühlen mochte, nur auf einem Brett mit Segel über das Mittelmeer zu rasen.
Das Geräusch der Türklingel riss sie aus ihren Gedanken. Sie hatte keine Ahnung, wer um diese Zeit etwas von ihr wollen könnte. Zehn Uhr morgens an einem Samstag. War es wieder der ekelhafte Commissario?
Sie ging zur Tür und sah auf den Monitor der Sprechanlage. Ein dunkelhaariger Mann, vielleicht Mitte dreißig, gut aussehend, aber wildfremd. Sie drückte auf die Sprechtaste. »Ja, bitte?«
»Guten Morgen. Mein Name ist Johann Sorbello. Hätten Sie einen Moment Zeit für mich?«
Der Mann lächelte in die Kamera. Er sah wirklich gut aus.
Enza zögerte, drückte wieder auf die Taste. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?«
»Ich möchte mit Ihnen über Francesca Ermia sprechen.«
Enza war sprachlos. Erst am Vortag war die Polizei bei ihr gewesen. Und man hatte ihr mit keinem Wort verraten, was wirklich passiert war. Nur dass Franca nicht mehr lebte. Natürlich hatte sie von der Leiche im Piranha-Becken gelesen. Zeitungen und Fernsehen überboten sich mit Gruselstorys. Aber bisher wusste niemand, wer das Opfer war.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Toni arbeitete doch im Aquarium. Und auch er war verschwunden. Was um Himmels willen war geschehen?
»Hallo! Sind Sie noch da?«
Die Stimme des Mannes vor ihrem Haus holte sie zurück in die Gegenwart. »Ja, Entschuldigung. Ich verstehe nicht, wie ich Ihnen helfen kann.«
»Verzeihen Sie, dass ich Sie so überfalle. Ich bin Gerichtsmediziner. Die Polizei hat mir gesagt, dass Sie Francescas beste Freundin waren. Ich muss einfach mit Ihnen sprechen. Bitte.«
Enza sah an sich herab. Sie trug eine labbrige Jogginghose, darüber ein verwaschenes Schlafshirt. Ihre Haare standen kreuz und quer vom Kopf ab. Sie hatte sich noch nicht einmal die Zähne geputzt. Ein Alptraum. Sie überlegte kurz und fällte eine Entscheidung.
»Kommen Sie hoch und wundern Sie sich nicht. Ich war gerade im Bad und brauche noch fünf Minuten.«
Johann betrat den Palazzo und sah sich erstaunt um. Das prachtvolle Gebäude aus dem 16. Jahrhundert war offensichtlich vor Kurzem luxussaniert worden. Francescas beste Freundin musste sehr wohlhabend sein. Die Adresse hatte ihn jedenfalls überrascht. Am Belvedere Luigi Montaldo tummelten sich auf der Straße die Touristen, von hier aus hatte man einen grandiosen Blick über Stadt und Hafen. Im Gebäude darüber lagen angeblich die teuersten Apartments von Genua.
Im sechsten Stock wartete die nächste Überraschung auf ihn. Nur zwei Eingänge gab es im Etagenflur, der in einer geschmackvollen Kombination von Schiefer und Marmor glänzte. Die beiden Apartments mussten riesig sein, so wie die Wohnungstüren. Sie waren bestimmt drei Meter hoch und bestanden aus massivem, matt geöltem Kastanienholz. Vor etwa fünfhundert Jahren, als Genua noch reichste Stadt der Welt gewesen war, hatte ein ganz normaler Handwerker Olivenzweige und Löwenköpfe in das Türblatt geschnitzt.
Johann fuhr mit den Fingern die Ornamente entlang. Er freute sich jedes Mal, wenn er den Spuren von Genuas großartiger Vergangenheit begegnete.
Rechts war die Tür nur angelehnt. Johann blickte aufs Klingelschild. Zwei Buchstaben: E. M. Er klopfte und wartete.
Keine Reaktion.
Vorsichtig trat er ein. Mit einem sanften Schnappen fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Von hinten hörte er eine gedämpfte Stimme.
»Machen Sie es sich bequem. Ich bin gleich da.«
Johann trat zum riesigen Fenster. In der Bucht sah er die Segel der Windsurfer. Ein Gefühl der Wehmut befiel ihn. Doch sein Surfbrett musste warten, er hatte sich nun mal für diesen Besuch entschieden.
Er sah sich um. Das Zimmer war bestimmt vierzig Quadratmeter groß. Links stand ein gewaltiges schlichtes graues Sofa. Rechts befand sich eine dunkelrote Küchenzeile. An der Wand neben dem Fenster ein Schreibtisch mit Laptop und einem Stapel Papier. In der Mitte auf dem geölten Parkettfußboden lagen ein paar große bunte Kissen, ansonsten war der Raum praktisch leer. Trotzdem strahlte das Zimmer eine angenehme Gemütlichkeit aus. Die Frau, die hier wohnte, hatte Geschmack.
Johann hörte das Geräusch eines Föhns. Er setzte sich auf das Sofa und ließ seine Gedanken schweifen. Wenn er ehrlich war, begriff er nur zum Teil, warum er sich auf den Weg in diese Wohnung gemacht hatte, anstatt auf seinem Surfbrett über die Wellen zu gleiten.
Die Piranha-Leiche hatte ein Gesicht bekommen. Ein Antlitz, das nun schon zum zweiten Mal in seiner Seele brannte. Die Ähnlichkeit war frappierend. Er erinnerte sich an jedes Detail. Montagmorgen, 23. Juni 2009. Ihr Name war Hülya Demirek, und sie sah unglaublicherweise genauso aus wie Francesca Ermia.
Johann hatte manchmal davon gelesen, dass es solche Zufälle gab. Dass einander wildfremde Menschen sich ähnelten wie eineiige Zwillinge. Aber er hatte es noch nie selbst erlebt. Wieder sah er Hülya vor sich. Sie lächelte nicht, sie schaute ihn flehend an. Er sah das Blut aus den Schusswunden strömen. Und er fühlte wieder diesen plötzlichen Anflug der totalen Panik.
»Darf ich Ihnen einen caffè anbieten?«
Johann blickte auf. Er hatte nicht gemerkt, dass Enza Marconi den Raum betreten hatte. Vor ihm stand eine Frau, die vollkommen anders aussah als das Gespenst aus seiner Vergangenheit. Er spürte, dass ihn das erleichterte. Enza Marconi war schlank und für eine Italienerin ungewöhnlich groß, bestimmt einen Meter fünfundsiebzig. Erstaunlicherweise trug sie zu Hause hochhackige Sandaletten, was sie noch einmal um fünf Zentimeter größer machte.
Johann stand auf, um ihr die Hand zu schütteln, und fand sich annähernd auf einer Höhe mit ihr: braune Augen, kurze flachsblonde Haare, schöne volle Lippen. Sie sah frech aus, als sie ihn anlächelte. Ihre sinnliche Ausstrahlung brachte ihn kurz aus der Fassung. Dann erinnerte er sich, dass sie ihm einen Espresso angeboten hatte.
»Ja gern, aber nur wenig Zucker bitte.«
Sie lächelte weiter. »Vielleicht wollen Sie mir in der Zwischenzeit erzählen, wer Sie sind und was Sie eigentlich von mir wollen.« Ihre Stimme war dunkel, fast heiser. Sie klang älter, als sie war. Johann schätzte sie auf Anfang dreißig, vielleicht ein paar Jahre mehr.
Sie ging leichtfüßig durch den Raum zur Küchentheke, wo eine gewaltige Espressomaschine stand. Sie war es sichtlich gewöhnt, auf hohen Absätzen zu gehen.
Johann schaute ihr fasziniert hinterher. Seine Gastgeberin trug schwarze, eng anliegende Designerjeans, die ihre langen Beine betonten. Darüber eine leicht schimmernde dunkelbraune...
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