Schweitzer Fachinformationen
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Inspektor Osama Ibrahim beugte sich in den Kofferraum seines Wagens und kramte nach seinen Sportschuhen, während er unauffällig dem alten Angler nachschaute. Er war unsicher, ob es ratsam war, den Mann allein nach Hause fahren zu lassen. Er hatte so erschüttert gewirkt – und wer wäre das nicht nach einem derartigen Leichenfund? Aber irgendetwas an dem Alten hatte sein Mitleid geweckt und ihn daran erinnert, wie sein Vater gewesen wäre, wenn er länger gelebt hätte.
Ein grüner Lichtschein, der goldene Schimmer im Inneren der Moschee überall um sie herum. Medina, das Grab des Propheten, Friede sei mit ihm. Plötzlich meinte er, wieder die leise Stimme seines Vaters zu hören: Du darfst es nicht berühren, es ist verboten, das Grab anzubeten, denn so wollte es Mohammed, sallallahu alaihi wa sallam.
Eine Erinnerung an seinen Vater mit einem grauenhaften Mord in Zusammenhang zu bringen, kam ihm frevelhaft vor, und er hätte es gern als die Fehlleistung eines unter Hochdruck arbeitenden Verstandes abgetan, aber dafür kam es zu oft vor. Er war nun seit fünf Jahren für Mordfälle zuständig, und natürlich hatte er Leichen gesehen, aber sein Vater war der einzige Mensch, bei dem er tatsächlich Zeuge des Übergangs vom Leben zum Tod geworden war. Genau genommen kam als Erstes barzakh, der Zustand kalten Schlafes nach dem physischen Tod, noch ehe der Geist vom Körper aufsteigt, die Zeit, in der die Engel Munkar und Nakir die Toten befragen. Natürlich war das Unsinn, aber die Vorstellung gefiel ihm.
Er ging über den Sand und fühlte sich fast nackt ohne Rafiq. Sein Partner war noch immer in Urlaub. Er hätte furchtbar gern Faiza hier gehabt, aber es gab keine Veranlassung, eine Frau mitzunehmen, und es hätte bei den Kollegen nur für hochgezogene Augenbrauen gesorgt.
Der Strand war weiträumig mit Flatterband abgesperrt, und außerdem hatte das Forensikteam eine improvisierte Dienststelle an der Rückseite eines Vans eingerichtet. Männer liefen laut redend zwischen den Streifenwagen und Zivilfahrzeugen umher, die wahllos kreuz und quer auf der Straße parkten. So früh am Nachmittag herrschte hier kaum Verkehr, aber sie hatten die Straße trotzdem blockiert, um Neugierige fernzuhalten.
Der alte Mann, der die Tote gefunden hatte, hatte sie Eva genannt, und jetzt bekam Osama den Namen nicht mehr aus dem Kopf. Die Stelle, wo Eva lag, wirkte seltsam friedlich, obgleich sie von Polizeikräften umringt war. Osama ging behutsam näher. Bitte nicht schon wieder ein Hausmädchen, dachte er. Nur das Gesicht des Spurensicherers verriet, was er empfand: gewaltiges, überströmendes Mitleid, als läge dort seine eigene Schwester. Osama war früher mal stolz auf die Mordrate des Landes gewesen, denn sie zählte zu den weltweit niedrigsten. Er hatte stets geglaubt, die Härte der Strafen hätte die gewünschte abschreckende Wirkung. Aber dann war er zur Mordkommission gekommen.
Die Anzahl der Morde stieg, viele von ihnen waren grässlich, und er hatte mehr und mehr das Gefühl, dass das Land vor die Hunde ging. Letztes Jahr hatte ein Mann seinem einjährigen Neffen im Supermarkt vor den Augen der Mutter und einiger Kunden den Kopf abgehackt. Ihn komplett vom Rumpf getrennt. In der Obst- und Gemüseabteilung. Er hatte Streit mit den Eltern des Jungen gehabt. Sie hatten seinen Zorn erregt, und das war seine Rache.
Osama zwang sich, die Leiche anzusehen. Er hatte kein Rauschen in den Ohren, aber der Anblick war so grausam, dass ihm die Haut prickelte. Hände und Gesicht der Toten waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, vermutlich in heißes Öl getaucht. Die Haut war eitrig, blasig und rot. Im Jahr zuvor hatte die Polizei im Aziziya-Distrikt genau vor dem Amt für Frauenförderung die verbrannte Leiche einer Frau gefunden. Sie steckte in einem ausrangierten Kühlschrank. Er hatte die Leiche nicht gesehen, weil das nicht sein Zuständigkeitsbereich war, aber angeblich qualmte sie noch, als sie gefunden wurde.
Das hier war eine andere Art Grauen. Osama ging vorsichtig neben ihr in die Hocke, sorgsam darauf bedacht, nichts anzufassen. Die Wellen erreichten bereits ihre Füße und hatten die Jeans durchtränkt, die noch immer um ihre Knöchel geschlungen war. Die Sandwälle, die man aufgehäuft hatte, um das Wasser abzuhalten, solange gearbeitet wurde, bewirkten längst nichts mehr. Falls es an ihren Füßen Spuren gegeben hatte, waren sie vermutlich weggespült worden.
Eva lag auf dem Rücken, ein Arm entblößt, die Hand geöffnet wie zu einem flehenden Gebet. Ihr Gesicht war nur noch verstümmelte Haut, aber das Auge war offen, klar und streng. Es schien zu sagen: Ich sehe dich, der du diese Schandtat begangen hast. Selbst im Tode sehe ich dich. Ihr schwarzer Umhang war bis zur Taille hochgeschoben. Ein Ärmel aufgerissen. Und das Tuch, das ihr Haar bedeckt hatte, war um ihren Hals gewickelt. Er stutzte, fragte sich, ob das Tuch nicht vor ihrem Gesicht gewesen war, als es verbrannt wurde. Der Stoff sah unversehrt aus.
»Ablageort«, sagte Ibrahim knapp. Der Rechtsmediziner hatte zwar denselben Namen wie Osamas Vater, doch Osama fiel oft auf, dass es ansonsten kaum Ähnlichkeiten zwischen den beiden Männern gab. Diesem Ibrahim fehlte ein Ohr, er war fleischig, mit rundlichem Gesicht, und er hatte in den Achtzigerjahren als einer von Osama bin Ladens Mudschaheddin in Afghanistan gekämpft. Die Kollegen zollten ihm dafür Respekt, aber er konnte schroff und unhöflich und manchmal regelrecht bedrohlich sein.
»Schon abzuschätzen, wann sie gestorben ist?«, fragte Osama.
Ibrahim warf ihm einen finsteren Blick zu. »Erst, wenn ich sie aufgeschnitten hab.«
»Sind diese Verbrennungen vor Eintritt des Todes …?«
Ibrahim schnaubte. »Ja.« Dann fügte er fast beiläufig hinzu. »Ich hab schon Schlimmeres gesehen.«
Osama wusste, dass alles, was er jetzt erfragte, ohnehin später wahrscheinlich revidiert werden würde. Ibrahim war an Tat- und Fundorten immer angespannt, vor allem, wenn eine Frau das Opfer war.
»Und ich vermute mal, ihre Hände wurden in irgendwas eingetaucht«, sagte Osama. »Heißes Speiseöl vielleicht?«
Ibrahim wandte sich wortlos ab.
Drei Schritte entfernt war eine Fläche mit Fähnchen abgesteckt worden, ein verkohlter, rechteckiger Bereich, umringt von halb verbrannten Holzkohlestückchen. Vielleicht hatte dort jemand ein Picknick gemacht, mit Lagerfeuer. Osama stand auf und ging zu Majdi.
»Was hat die Spurensicherung für mich?«, fragte Osama.
»Bei den Verbrennungen an Gesicht und Händen dachte ich – na ja, da hat schließlich jemand ein Feuer gemacht.« Majdi lag auf den Knien und durchkämmte einen Sandabschnitt mit behandschuhten Händen. Seine Brille war ihm auf der verschwitzten Nase nach unten gerutscht. Er blickte kurz auf, wandte sich dann aber wieder dem Sand zu und suchte weiter, wie ein Kind, das nicht aufhören will zu spielen. »Wir haben den üblichen Strandabfall – Zigaretten, Flaschen, Schaumstoffstücke –, aber ansonsten bislang nichts, ehrlich gesagt.«
»Denken Sie, die Täter haben ein Picknick gemacht?«
Majdi zuckte die Achseln. »Ich kann Ihnen später mehr sagen. Wir wissen ja auch noch nicht, wer die Tote ist. Sie hatte kein Handy dabei, keinen Ausweis, nichts. Vielleicht, aber nur vielleicht, finden wir verwertbare Fingerabdrücke.« Er räusperte sich rau und schüttelte den Kopf.
Osama graute davor, wieder mal die Vermisstenakten durchforsten zu müssen. Fast immer handelte es sich um Frauen – hauptsächlich Hausmädchen –, die ihre Arbeitgeber wegen schlechter Bezahlung verlassen hatten, wegen unwürdiger Arbeitsbedingungen. Die Sklaverei war 1967 im Königreich verboten worden, was aber nichts an der Tatsache änderte, dass sie mancherorts unter dem beschönigenden Namen Haushaltshilfe nach wie vor existierte. Es gab landesweit ungefähr 20 000 weggelaufene Hausmädchen, viele in Dschidda, und nicht mal die Hälfte von ihnen war gemeldet. Aber selbst wenn es nur zwei wären, so wären das noch immer zu viele alleinstehende Frauen, die sich ohne Geld, Nahrung, Unterkunft oder gültige Aufenthaltserlaubnis durchschlugen. Und überhaupt, falls Eva von ihren Arbeitgebern ermordet worden war, würden die sie wohl kaum als vermisst melden. Bitte nicht schon wieder ein Hausmädchen. Rational war ihm klar, dass es nicht schlimmer wäre als jeder andere Mord, aber bei einem Hausmädchen kam noch manch andere Abscheulichkeit hinzu: Das Opfer war weit von seiner Familie und seiner Heimat entfernt, es war in den meisten Fällen körperlich, sexuell oder emotional missbraucht worden und hatte immer unter dem Joch von Fremden gelebt, die sich für überlegen hielten.
»Könnte sie hier an Land gespült worden sein?«, fragte er die beiden Männer.
Majdi schaute rasch zu Ibrahim hinüber, der seinen eigenen düsteren Gedanken nachhing, und schüttelte dann stumm den Kopf in Osamas Richtung. Es war ein offenes Geheimnis unter den Kollegen, dass Majdi ohne Weiteres Ibrahims Arbeit erledigen...
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