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Briefe, Aufsätze und Interviews aus über fünfundzwanzig Jahren verflechten sich zu dem lebhaften Selbstporträt einer außergewöhnlichen Autorin. Elena Ferrante beantwortet in den Frantumaglia die wichtigsten der Fragen ihrer Leserinnen und Leser, sie zeigt sich so offen wie nie zuvor - und bleibt uns doch faszinierend fremd.
»Frantumaglia«. Es ist Elena Ferrantes Mutter, eine Schneiderin, die ihrer Tochter dieses Wort hinterlässt - es stammt aus dem neapolitanischen Dialekt, aus der Welt der verknoteten Fäden und der aufgetrennten Nähte, ein Sinnbild für Unaussprechliches, Verwirrendes. Und ein Sinnbild eben auch für die Empfindungen und Ideen, die Elena Ferrantes Leben prägen - und über die sie sich hier Klarheit verschafft. Die Weltautorin erzählt von ihrer neapolitanischen Herkunft, von ihrer Kindheit als ein unerschöpfliches Archiv aus Erinnerungen, Eindrücken, Fantasien, sie erläutert ihr Verhältnis zur Psychologie und zu Frauenfragen, sie diskutiert ihre Haltung zur Öffentlichkeit und spricht über heutige Bedenken und Begeisterungen.
Liebe Sandra,
die Sache mit dem Preis wühlt mich sehr auf. Mich verwirrt nicht so sehr die Tatsache, dass mein Buch einen Preis bekommt, sondern vielmehr, dass er den Namen Elsa Morantes trägt. Um ein paar Dankeszeilen zu schreiben, die vor allem eine Hommage an diese von mir zutiefst verehrte Autorin sein sollen, habe ich in ihren Büchern nach passenden Zitaten gesucht. Dabei habe ich festgestellt, dass eine solche Drucksituation einem mitunter übel mitspielen kann. Ich habe geblättert und geblättert, aber nicht ein einziges passendes Wort gefunden, dabei hatte ich doch eine ganze Reihe deutlich in Erinnerung. Man müsste einmal darüber nachdenken, wie und wann Wörter aus Büchern verschwinden und diese dann am Ende wie leere Gräber wirken.
Was hat mich in diesem Zusammenhang so blind gemacht? Eigentlich war ich auf der Suche nach einer unverkennbar weiblichen Passage über die Figur der Mutter, doch die von der Morante geschaffenen männlichen Erzählstimmen irritierten mich. Ich wusste genau, dass es diese Passagen gibt, aber um sie wiederzufinden, hätte ich den ersten Leseeindruck wiederherstellen müssen, als es mir mühelos gelang, die männlichen Stimmen als Verkleidung weiblicher Stimmen und Gefühle wahrzunehmen. Das Schlimmste jedoch, was man unter solchen Umständen tun kann, ist, unter Hochdruck nach einer zitierbaren Stelle zu suchen. Bücher sind komplexe Gebilde, die Zeilen, die uns tief erschüttert haben, markieren den Höhepunkt eines inneren Erdbebens, das ein Text von den ersten Seiten an in uns Lesern ausgelöst hat: also entweder macht man die Verwerfung ausfindig, und wird zu dieser Verwerfung, oder die Worte, von denen wir meinten, sie wären eigens für uns geschrieben, sind nicht mehr auffindbar und klingen, falls man sie doch wiederfindet, banal und geradezu abgedroschen.
Am Ende habe ich auf das Euch bekannte Zitat zurückgegriffen, das ich eigentlich Lästige Liebe als Motto voranstellen wollte. Doch selbst das ist schwieriger als gedacht, denn wenn man es heute liest, klingt es so selbstverständlich, lediglich wie eine ironische Passage über die Entmaterialisierung des mütterlichen Körpers durch den süditalienischen Mann. Falls Ihr es zum besseren Verständnis für notwendig haltet, diese Stelle zu zitieren, schicke ich Euch hier den ganzen Textauszug. In der Passage schildert Morante, was die Protagonistin Giuditta zu ihrem Sohn sagt, als der sich wie ein typischer Sizilianer benimmt, nachdem seine Mutter ihre Schauspielkarriere nach einer schlimmen Demütigung endgültig aufgibt und sich endlich wieder normal kleidet.
Giuditta ergriff seine Hand und bedeckte sie mit Küssen. In diesem Augenblick sah er, wie sie ihm später sagte, genau wie ein echter Sizilianer aus, wie einer von diesen strengen sizilianischen Ehrenmännern, die immer auf ihre Schwestern aufpassen, dass sie am Abend nicht allein ausgehen, den Verehrern keine Hoffnungen machen und dass sie keinen Lippenstift benutzen und für die das Wort »Mutter« zwei Dinge bedeutet: »alt« und »heilig«. Die Farbe, die sich für die Kleider der Mutter geziemt, ist Schwarz oder höchstens Grau oder Braun. Ihre Kleider sind unförmig, denn niemand, nicht einmal die Schneiderinnen der Mütter, kommt auf den Gedanken, dass eine Mutter den Körper einer Frau besitzt. Die Zahl ihrer Lebensjahre ist ein Geheimnis ohne Bedeutung, denn ohnehin gibt es für sie nur eines: das Altsein. Dieses Alter ohne Form und Gestalt hat heilige Augen, die um die Kinder weinen, nicht wegen eigenen Kummers; es hat heilige Lippen, die für die Kinder beten, nicht für sich selbst. Und wehe dem, der vor diesen Kindern den heiligen Namen der Mutter leichtfertig ausspricht! Wehe! Es ist eine tödliche Beleidigung.
Dieser Passus soll bitte ohne Emphase vorgetragen werden, mit normaler Stimme, ohne die deklamatorischen Töne schlechter Komödianten. Wer von Euch das liest, sollte nur die folgenden Worte leicht betonen: unförmig, Schneiderinnen der Mütter, Körper einer Frau, Geheimnis ohne Bedeutung.
Und hier nun schließlich mein Brief an die Preis-Jury, hoffentlich wird klar, dass die Worte der Morante alles andere als abgenutzt sind.
Ich entschuldige mich nochmals für die Umstände, die ich Euch bereite.
Elena
Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Jury, als glühende Verehrerin Elsa Morantes habe ich etliche ihrer Worte im Gedächtnis. Also habe ich mich, bevor ich diesen Brief begann, auf die Suche nach diesen mir bekannten Worten gemacht, um mich daran festzuhalten und dadurch an Substanz zu gewinnen. Allerdings habe ich dort, wo ich sie vermutete, kaum etwas gefunden. Viele hatten sich versteckt. Andere, nach denen ich gar nicht gesucht habe, stachen mir plötzlich beim Durchblättern ins Auge, manche haben mich mehr verzaubert als die eigentlich Gesuchten. Worte schlagen im Kopf des Lesers oft unvorhergesehene Wege ein. In erster Linie ging es mir um die Figur der Mutter, ein zentrales Motiv im Werk der Morante, und zu diesem Zweck durchstöberte ich Lüge und Zauberei, Arturos Insel, La Storia und Aracoeli. In der Erzählung Der andalusische Schal fand ich schließlich, wonach ich vermutlich mehr oder weniger gesucht hatte.
Sicher kennen Sie den Text besser als ich, und ich brauche ihn hier nicht noch einmal wiederzugeben. Es geht um das Bild, das Söhne von ihren Müttern haben: Mütter sind alt, mit heiligen Augen, heiligen Lippen, in schwarzen, grauen oder ganz selten mal braunen Kleidern. Die Autorin spricht anfänglich von »diesen strengen sizilianischen Ehrenmännern, die immer auf ihre Schwestern aufpassen«. Doch schon bald, nach wenigen Sätzen, verlässt sie Sizilien und geht, wie mir scheint, zu einem weniger lokal gefärbten Bild der Mutter über. Das geschieht mit der Einführung des Adjektivs unförmig. Die Kleider der Mütter sind unförmig, auch ihr Alter ist unbestimmt, sie sind einfach nur alt, »denn niemand«, schreibt Elsa Morante, »nicht einmal die Schneiderinnen der Mütter, kommt auf den Gedanken, dass eine Mutter den Körper einer Frau besitzt.«
Wichtig scheint mir die Wendung »niemand kommt auf den Gedanken«. Das Unförmige ist derart dominant für das Bild der »Mutter«, dass es weder Söhnen noch Töchtern jemals in den Sinn käme, den Körper der Mutter mit weiblichen Formen in Verbindung zu bringen, es sei denn mit Abscheu. Das gelingt nicht einmal den Schneiderinnen, obwohl sie doch selbst Frauen, Töchter, Mütter sind. Aus Gewohnheit schneidern sie den Müttern Kleider auf den Leib, die alles Weibliche negieren, als sei alles Weibliche eine Art Lepra, die das Bild der Mutter entstellt. Sie tun es ganz automatisch und machen so auch das Alter zu einem Geheimnis ohne Bedeutung, für Mütter gibt es nur ein Alter: das Altsein.
Erst jetzt, wo ich darüber schreibe, fange ich an, bewusst über die »Schneiderinnen der Mütter« nachzudenken. Sie faszinieren mich, vor allem im Zusammenhang mit einem Ausdruck, der mich schon als Kind fesselte: »Kleider wie auf den Leib geschnitten«. Als Kind dachte ich, dahinter stecke etwas Anstößiges: eine aggressive Handlung, eine gewaltsame Zerstörung der Kleider und schamlose Entblößung des Körpers; oder schlimmer noch, eine magische Kunst, die die Umrisse des Körpers bis zur Obszönität sichtbar macht. Heute erscheint mir dieser Ausdruck weder böse noch anstößig. Vielmehr fasziniert mich der innere Zusammenhang von zuschneiden, einkleiden, aussprechen. Ich finde es spannend, dass sich daraus auch die Redensart »über jemanden herziehen« entwickelt hat. Würden die Schneiderinnen lernen, den Müttern die Kleider so auf den Leib zu schneidern, dass er sichtbar wird, oder sie so hauteng zu machen, dass der weibliche Körper wieder zum Vorschein käme - dieser weibliche Körper, den Mütter nun mal haben und immer schon hatten -, dann käme das Einkleiden einem Entblößen gleich und der Körper der Mütter, ihr Alter, wäre nicht länger ein Geheimnis ohne Bedeutung.
Vielleicht hatte auch Elsa Morante, als sie von den Müttern und ihren Schneiderinnen ...
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