1. Dezember - Donnerstag
Noch müde von der Nacht schleppte ich mich aus dem Bett und schlafwandelte nach einem Abstecher ins Bad in Richtung Küche. Warum musste Schule eigentlich mitten in der Nacht beginnen? Als ich die Treppe nach unten ging und die ersten Geräusche im Haus hörte, fiel mir ein, dass heute der erste Tag der Adventskalenderroutine war. Die Vorfreude machte mich jetzt endlich wach. Der Adventskalender meiner Mutter gehörte zu den ersten Dingen, an die ich mich erinnern konnte. Er zählte immer wieder aufs Neue zu den Highlights des Jahres.
»Morgen!«, sagte ich zu Mama, die in der Küche Kaffee aufsetzte. Sie strahlte mich an.
Während das Wasser im Wasserkocher heiß wurde, holte ich drei Schalen, drei Löffel und die Packung mit den Cornflakes aus dem Küchenschrank. Das gehörte zu meinen Aufgaben im Haushalt. Ich stellte alles auf den großen Esszimmertisch, der im Durchgang zwischen Küche und Wohnzimmer stand und beide Räume miteinander verband. Mein Schälchen stellte ich an meinen Stammplatz mit Blick in den Garten.
Mama hatte unsere Adventskalender im Wohnzimmer aufgebaut, vor der großen Fensterfront mit den bodentiefen Fenstern. Jedes Jahr bekamen wir von ihr nach unseren Vorlieben gefüllte Kalender in Form von kleinen Stoffbeuteln.
Für einen Moment betrachtete ich fasziniert die liebevoll hergerichteten Kalender. Jedes Jahr sah es ein kleines bisschen anders aus. Dann wurde mir bewusst, dass ich in der Hierarchie gestiegen war. Ich war jetzt die Älteste im Haus, seitdem Fabian ausgezogen war. Deswegen war mein Adventskalender jetzt ganz oben. Die Stoffsäckchen hingen an einer Juteschnur und waren mit Saugnäpfen an der Scheibe befestigt. Rechts und links hingen kleine Lichterketten nach unten. Sie sahen vor der noch dunklen Fensterfront aus wie ein Sternschnuppenregen.
Dort, wo die letzten Sternschnuppen endeten, stand eine Blumenbank. Auf ihr lagen die Stoffsäckchen für Laura. Unter der Bank lagen die Säckchen für Elias. Jeder von uns hatte Säckchen in einem eigenen Farbspektrum. Sie waren jeweils aus drei, vier verschiedenen Stoffen selbst genäht. Wenn sie nebeneinanderlagen, sahen sie immer aus wie Patchworkdecken. Mama hatte jeden unserer Kalender selbst gemacht.
Ich flog mit meinem Blick über den Kalender und angelte mir die Nummer eins. Es war ein hellgrünes Säckchen mit gelben Tupfen darauf. Ich nahm es mit zurück zum Esszimmertisch und legte es neben meine Schale mit den Cornflakes.
Der Wasserkocher klickte, und ich goss das brühende Wasser in eine Tasse mit Instantcappuccinopulver mit Schokonote.
Ich hörte Laura hinter mir mit ihren dicken plüschigen Hausschuhen über die Küchenfliesen rutschen. Elias würde erst in einer halben Stunde aufstehen. Seit mein fünf Jahre alter Bruder vor ein paar Wochen aus dem Kindergarten gekommen war und verkündet hatte, »Mama, ich bin jetzt groß, ich brauche keinen Mittagsschlaf mehr!«, schlief er wie ein Stein von 8 Uhr abends bis 7 Uhr morgens. Ich beneidete ihn. Jeden Morgen aufs Neue.
»Morgen!«
Mama und ich erwiderten Lauras Gruß. Meine kleine Schwester steuerte den Adventskalender an. Ich musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass sie die Säckchen in Rot und Rosa hatte.
»Kam das Paket eigentlich noch rechtzeitig bei Fabian an?«, fragte ich Mama. Aus irgendeinem Grund war es mir wichtig, dass auch er in diesem Jahr wieder seinen Kalender bekommen hatte.
»Ja, er hat ihn gestern noch von der Post abgeholt.«
Gerade rechtzeitig, dachte ich und war froh.
Während ich meine Cornflakes kaute, griff ich in das kleine grüne Stoffsäckchen und zog ein Snickers heraus. Das war mein absoluter Lieblingsschokoriegel. Ein schöner Start in den Monat.
Laura schielte zu mir herüber. Als sie sah, was in meinem Säckchen war, verzog sie den Mund. Sie konnte Snickers nicht ausstehen. Sie griff in ihr Säckchen und holte einen Lippenbalsam heraus. So langsam hatte ich Respekt davor, was unsere Mama jedes Jahr leistete, wenn sie auf die Wünsche von jedem von uns Rücksicht nahm. Insbesondere für eine Dreizehnjährige wie Laura, die neuerdings ihre Geschmäcker öfter wechselte als ihre Kleidung, war das mit Sicherheit die Hölle.
Von Weitem hörte ich Papas festen Schritt auf der Holztreppe zum Obergeschoss. Er war wie immer schon komplett im Anzug und schnappte sich als Erstes die Frühstückstüte, in die Mama ihm ein belegtes Brot eingepackt hatte, und legte sie in seine Aktentasche.
Mit seinem Kaffee und der Zeitung gesellte er sich zu uns. Während er neugierig die Schlagzeilen des Tages überflog, fiel mir ein, dass ich ja noch einen anderen Adventskalender hatte. Etwas widerwillig zog ich mein Handy aus der Bauchtasche meines Hoodies und öffnete die E-Learn-App. Ich nahm einen weiteren Löffel Cornflakes und klickte die Aufgabe an, die ich heute zu bearbeiten hatte.
Suche nach einem Gemälde der Präraffaeliten. Begründe, warum du dieses gewählt hast, was dir daran gefällt und was es für dich beeindruckend macht.
Bitte was? Was sollte das denn sein? Allein der Name klang schon kopfschmerzerregend. Ob die anderen auch so eine schwere Aufgabe bekommen hatten?
Ich schrieb Mai eine Nachricht und bat sie, mir ihre Aufgabe zu nennen.
Sie antwortete prompt: »Denke über deine Stärken nach. Sind sie angeboren, oder hast du sie durch harte Arbeit erworben?«
Genervt ließ ich mein Handy auf den Tisch gleiten. »Das kann doch wohl nicht wahr sein«, grummelte ich schlecht gelaunt vor mich hin.
»Was denn?« Es war natürlich Laura, die fragte. Wahrscheinlich dachte Papa, es ginge nur um albernen Teenagerwahnsinn, und hörte demonstrativ weg. Aber aus dem Alter war ich raus. Ich hatte jetzt richtige Probleme. Und die hießen Präraffaeliten.
»Hier. Lies mal.« Ich hielt Laura mein Handy hin.
Als sie fertig gelesen hatte, zuckte sie nur mit den Achseln. »Ist halt Schulkram.«
Ach, es war einfach zu kompliziert, meiner kleinen Schwester zu erklären, dass man bei diesem Langzeitprojekt Glück haben oder eben in die Tonne greifen konnte. Und meine Hand steckte offenbar ganz tief drin. Seltsam, dachte ich noch, wer aus unserer Klasse würde einen anderen so reinreiten? Mein Tag war jetzt schon gelaufen. Dabei hatte er noch nicht einmal richtig begonnen.
»Wer in dieser Stunde nicht fertig geworden ist, liest den Text bitte zu Hause zu Ende«, sagte Frau Schreiber, unsere Geschichtslehrerin, und erntete nicht nur die Missgunst der Klasse, sondern auch den einen oder anderen übel gelaunten Kommentar.
»Herrschaften!«, erwiderte sie laut, »der Unterricht ist so geplant, dass Sie die Aufgaben in der vorgegebenen Zeit schaffen. Wenn Sie am Nachmittag eben etwas müde und träge sind, ist das nicht meine Schuld.«
»Aber dass wir uns auch noch um diesen bescheuerten Adventskalender kümmern müssen, daran denkt sie natürlich nicht«, raunte ich Sina neben mir zu.
»Ach, das ist doch machbar, oder?«
Mittlerweile hatte ich das Gefühl, dass jeder meiner Mitschüler erträgliche Aufgaben zu erledigen hatte, bei denen man lediglich eine Kindheitserinnerung aufschreiben musste oder eine kleine Meinungsäußerung, und fertig war man. Was hatten bitte diese Präraffa-irgendwas mit mir zu tun?
Man hörte Gemurmel in der Klasse. Die Leute packten ihre Materialien ein.
»Ich wünsche Ihnen einen schönen Nachmittag. Bis nächsten Dienstag«, sagte Frau Schreiber laut.
Ich begann auch zusammenzupacken. Eigentlich hatte ich gar keine Lust, jetzt auch noch alleine nach Hause zu gehen. Laura war schon weg. Sie hatte früher Schluss gehabt.
»Hola, Chica!« Mai stand plötzlich vor meinem Tisch. Während wir Normalsterblichen uns schon mit dem gewöhnlichen Geschichtsunterricht schwertaten, hatte sie Geschichte in englischer Sprache belegt. Ihr Rucksack hing ihr mit einem Riemen auf dem Rücken, die Jacke trug sie über ihrem Unterarm.
Ich verzog den Mund. Sie wusste, dass ich Spanisch nicht leiden konnte.
»Was haben wir denn heute?« Aber mit dem wir meinte sie eigentlich nur mich.
»Ach«, sagte ich ausweichend und hievte meinen Rucksack auf den Tisch, um mein Geschichtsbuch darin zu versenken. Ich konnte mich selbst nicht leiden, wenn ich schlechte Laune hatte. Und noch weniger mochte ich es, wenn ich anschließend meine Freunde mies behandelte oder anschnauzte, nur weil ich mit der Welt nicht klarkam. Also versuchte ich lieber gar nichts zu sagen.
Ich konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie Mai zu Sina schaute und offenbar auf einen Hinweis hoffte.
Sina setzte in dem Moment ihren Rucksack auf und sagte leise zu ihr: »Die Werte-und-Normen-Aufgabe nervt sie.«
Mai sah mich direkt an, als hätte sie nicht gerade genau vor meinen Augen mit jemand anderem über mich gesprochen. »Ehrlich? Ich finde das Ganze irgendwie witzig. Meine Aufgaben habe ich heute Morgen schon fast fertig bekommen. Und den Rest habe ich vorhin in Spanisch gemacht.«
»Wahrscheinlich haben auch alle anderen auf der Welt leichtere Aufgaben als ich. Oder zumindest witzige.« Ich war jetzt doch ungehaltener, als ich mir...