Schweitzer Fachinformationen
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Auf dem kleinen Platz vor der Schule herrscht große Aufregung. Kichernde und kreischende Jugendliche tummeln sich neben einem Polizeiauto, alles so dicht gedrängt, dass fast keine Chance besteht, zum Schultor vorzudringen.
»Herr Fessor, ham'S schon gsehn?!«
»Es is so arg!«
»Es is so lustig!«
»Oida, endlich sagt einer, wie's is!«
Aber ich habe noch nichts »gsehen«, außer einem Massenauflauf vor unserer Schule. Als ich bei meinem Versuch, mich durch die Menge zu zwängen, an einem Polizisten vorbeikomme, fragt mich der, ob ich zur Schule gehöre und ob ich irgendetwas Verdächtiges gesehen hätte. Ich versuche, ihm zu erklären, dass die Anwesenheit kreischender Jugendlicher vor einer Schule kaum verdächtig ist und ich noch nicht einmal wirklich das Schultor gesehen habe. Was schlecht ist, weil ich in wenigen Minuten vor meiner diesjährigen Maturaklasse stehen und sie über die Wichtigkeit dieses letzten Schuljahres aufklären sollte.
In dem Moment sehe ich, was ich die ganze Zeit wohl schon hätte sehen sollen.
»Steckts eich eichere Oaschloch Oaschmatura in
Oasch! Fukk HAK, gehts alle scheißen,
ihr Huansöhne! Emilio«
Das prangt in dicken roten Lettern an der ansonsten weißen Hauswand.
Im Weitergehen höre ich das Gespräch des Direktors mit dem zweiten Polizisten.
»Herr Direktor, als ersten Ermittlungsschritt schlage ich vor, Sie sagen uns, ob Sie einen Schüler namens Emilio an der Schule haben oder im letzten Jahr hatten, und dann befragen wir den einmal.«
»Ja, sicher haben wir einen solchen Schüler«, antwortet der Direktor. »Aber so deppert kann man doch nicht sein, dass man sowas tut und dann noch mit seinem eigenen Namen unterschreibt!«
Was soll ich sagen? Er war so deppert ...
Das wusste ich zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht.
»Wir werden dann eh noch einen Handschriftenvergleich machen, um sicher zu gehen«, meinte der Polizist.
»Ach, das können'S vergessen. Niemand schafft es, auch nur annähernd gleich mit einem Kuli und einer Spraydose zu schreiben. Das weiß ich, weil ich vor Jahren einmal ...« Mitten im Satz wird mir bewusst, dass ich den weiteren Teil der Information wohl besser für mich behalten sollte, falls das mit der Verjährung doch nicht so ist, wie ich glaube.
Ja, auch ich war einmal ein depperter Jugendlicher und es war ein wirklich hässlicher Betonpfeiler. Aber das ist lange her. Mittlerweile bin ich ein depperter Erwachsener und eigentlich eine Respektsperson. Zumindest wenn ich vor meinen Schülern stehe. Was jetzt langsam passieren sollte.
»Wie bitte?«, fragt der Polizist.
»Ich muss leider weiter, Respekt einflößen! Viel Erfolg noch bei der Ermittlung!«
Kein Wunder, dass der Spraydosen-Gangster vergangenes Jahr die Matura nicht geschafft hat. In solchen Fällen verspüre ich Mitleid mit den Deutschlehrern. Täglich kämpfen sie einen aussichtslosen Kampf gegen das Gesetz der gesprochenen Sprache, die ständiger Veränderung unterworfen ist, was sich aber in den schriftlichen Aufsätzen möglichst nicht niederschlagen sollte.
Die Kids von heute lesen zwar mehr als noch vor wenigen Jahren, aber eben keine vollständigen Sätze. Das Englisch von Emilio war dafür relativ in Ordnung. »Fuck« stand immerhin an der richtigen Stelle, wenn auch mit Doppel-K geschrieben.
Ich verstehe den verzweifelten Hilferuf an der Schulmauer irgendwie. Ich habe zwar kein Verständnis für die Sachbeschädigung oder die Anhäufung der Kraftausdrücke, aber seit es die Zentralmatura gibt, haben sich einige Lehrer schon ähnlich dazu geäußert.
Halt, Stopp, Verzeihung. Das ist natürlich Blödsinn und stimmt so nicht. »Zentralmatura« ist falsch. Es müsste heißen: standardisierte, kompetenzorientierte Reife- und Diplomprüfung. Wenn Sie Lehrer sind und das nicht gewusst haben: kein Wunder, dass die Zentralmatura nicht funktioniert.
Was bedeutet das für uns? Seit Jahren erwarteten Gesellschaft und Politik von Schulen und Lehrern, individuelle Schwerpunkte zu setzen und auf jeden Schüler einzugehen, seine Talente zu fördern und seine Interessen zu stärken. Mit dem Ergebnis, dass nach all der individuellen Förderung bei der Zentralmatura alle genau dasselbe gefragt werden und wissen sollten.
Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, was passiert, wenn alle tatsächlich genau das Gleiche wissen? Die Millionenshow, Quotenbringer der heimischen Unterhaltung, wäre mit einem Schlag obsolet. Die kann man vergessen, wenn alle das Gleiche wissen!
Ums »Wissen« geht es allerdings gar nicht mehr. Es geht um, wie der Name sagt, »Kompetenzen«. Man muss nur noch können, nicht wissen. Die Schüler von heute brauchen nur noch die Kompetenz zum effizienten Suchen. So neu ist das nicht, schon mein Geschichtsprofessor pflegte vor sehr vielen Jahren zu sagen: »Es macht keinen Sinn, alles wissen zu wollen. Sie müssen nur wissen, wo Sie es finden, wenn Sie es brauchen.«
Das war zu meiner Schulzeit noch eine eigene Kompetenz: wissen, wo man nachschlägt. Heute erledigt das »der Herr Professor Google«, »die Frau Wikipädak«, wie meine Schüler diese Hilfsmittel nennen, oder ChatGPT. Aber könnte es nicht sein, dass man ein wenig Grundwissen haben sollte, damit man feststellen kann, ob das alles stimmt, was man im Netz so findet? Vielleicht steht da ja der größte Schmarren, aber wie sollte ich das herausfinden, wenn ich nur kann, aber nicht weiß?
Ja, auch Google und Alexa haben ihre Grenzen. Probieren Sie es ruhig aus, fragen Sie mal: »Alexa, wer ist mein Vater?« Ein Schüler von mir hat darauf die Antwort bekommen: »Frag deine Mutter.« Sie wusste es auch nicht.
Wie auch immer, die Zentralmatura macht nicht glücklich. Niemanden. Wahrscheinlich nicht mal ihre Erfinder. Und die Schüler, wie man an unserer Schulmauer sieht, auch nicht.
Aber vielleicht ist sie gar nicht für die Schüler gedacht. Vielleicht geht es gar nicht darum, deren Hochschulreife zu überprüfen, wie früher einmal. Vielleicht will man damit nur die Lehrer überprüfen. Ob sie imstande sind, aus kleinen Individualisten in wenigen Jahren brave, gleichgeschaltete Bürger zu machen. Jahr für Jahr liest man jedenfalls in den Gazetten: »Zentralmatura entlarvt miese Lehrer.«
Manchmal frage ich mich: Was habe ich in meinem Leben nur falsch gemacht? Wenn ich früher in der Schule schlecht war, bin ich geschimpft worden. Wenn heute meine Schüler schlecht sind, werde wieder ich geschimpft.
Scheitert heute ein Schüler, dann waren eben die Lehrer schlecht. Irgendwie erinnert mich das an den österreichischen Fußball. Wenn die Nationalmannschaft gegen Kasachstan verliert, dann war es entweder der Trainer, das Wetter oder der Platz oder der Schiedsrichter oder das Publikum oder alles zusammen, aber natürlich nie die Spieler. Und der Ball war auch nicht so richtig rund ...
Ich bleibe dabei, die Zentralmatura hat unser aller Leben nicht verbessert und wird darum natürlich immer noch von vielen infrage gestellt, von Eltern, Lehrern und Schülern. Nicht jedoch von sogenannten Bildungsexperten. Aber das ist ein ganz anderes Thema.
Zugegeben, sowas wie die Zentralmatura gibt es in vielen Ländern schon lange. Aber auch Syphilis und Durchfall gibt es in vielen Ländern schon lange. Deshalb muss es doch noch nicht automatisch etwas Gutes sein.
Denken wir uns das Ganze einfach mal logisch durch. Da bekommen wir extra diese Zentralmatura, damit alle Schüler genau das Gleiche geprüft werden und wahrscheinlich auch die Leistung der Lehrer kontrolliert werden kann. Und dann müssen wir Lehrer die Matura-Arbeiten unserer eigenen Schüler korrigieren, statt sie extern korrigieren zu lassen. Das führt für mich die ganze Idee der Zentralmatura vollkommen ad absurdum!
Das alles ist ungefähr so, als würden wir bei der Bundespräsidentenwahl hochprofessionell mit unzähligen Beisitzern geheim im Wahllokal abstimmen lassen und dann die Briefwahl-Stimmen von schlecht trainierten Schimpansen auszählen lassen. Das würde doch auch niemand ... Oh, vergessen Sie's.
Wie konnte dem Bildungsministerium dieser schwere Fehler zur Objektivierung der Matura-Arbeiten passieren? Die Gewerkschaft hat natürlich nachgefragt.
Die Antwort war tatsächlich: »Für das Geld, das die Lehrer für die Korrektur kriegen, macht das sonst niemand.«
Das ist einer der wenigen Fälle, in denen man sich auch als Österreicher wünschen würde, dass irgendein Ausländer kommt und einem die Arbeit wegnimmt. Oder, um Kosten zu sparen, könnten die Schüler ihre Arbeiten einfach selbst verbessern. Die machen das bestimmt gratis und mit Freude. Die würden sogar noch was zahlen! Von dem Geld könnte man endlich den Commodore 64 an den Schulen durch einen Laptop ersetzen!
Endlich bin ich vor dem Klassenzimmer angekommen. Schnell rein in den Raum und das hohe Lied der Zentralmatura und ihrer Bedeutung für den Rest des Lebens gesungen. So gehört sich das am Schulanfang als Klassenvorstand einer Maturaklasse.
Ich spreche erst drei Minuten von meinen geplanten zehn zur Segnung der Matura, als sich von hinten eine Stimme meldet.
»Herr Professor, jetzt einmal ganz im Ernst. Wozu brauche...
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