Schweitzer Fachinformationen
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Den Namen »Wyatt Speeks« in meinem Posteingang zu sehen war wie ein Schlag in die Magengrube. Alles stürzte wieder auf mich ein: der entsetzliche Anruf, die Fassungslosigkeit, das Bild meines Bruders, erfroren in der arktischen Eiswüste.
Ich klappte den Laptop zu, setzte ein schwaches Lächeln auf. Ich würde an der Uni nicht in Tränen ausbrechen. Trauer war für den Feierabend reserviert, für die abendliche Flasche Merlot, für meine dunkle Wohnung, für das Erwachen im Morgengrauen auf der Couch, wenn das bläuliche Licht des Fernsehers über meine schmerzenden Muskeln glitt.
Nein, im Moment musste ich mich auf das frische, erwartungsvolle Gesicht meiner Doktorandin konzentrieren, die gerade ein Forschungssemester in Tibet beantragte, um in einem kleinen Dorf im Himalaja, das nur über unwegsame Bergpässe zu Fuß und vielleicht mit Yaks erreichbar war, eine neu entdeckte Sprache zu studieren. Während ich mir ihre leidenschaftliche Begründung anhörte - und versuchte, mein rasendes Herz zu zügeln -, stieg ein altes Schamgefühl in mir auf.
Ich selbst hatte mich in Sachen Feldforschung nie weiter gewagt als auf einen nahen Friedhof, um irgendeine altenglische Inschrift auf einem zerbröckelnden Grabstein zu entziffern. Und auch das nur am helllichten Tag, weil mir tote Menschen - selbst unter der Erde - ebenfalls Angst machten. Noch nie war meine Neugier auf einen Ort oder eine Sprache und die Menschen, die sie sprachen, stärker gewesen als mein Reflex, einfach Nein zu sagen. Ich hatte mit angeblichen Terminüberschneidungen ein traumhaftes Forschungssemester in den peruanischen Anden abgelehnt, um Quipus oder »sprechende Knoten« zu studieren - unterschiedlich lange, mit Knoten versehene Baumwollschnüre, die Läufer von Dorf zu Dorf trugen und die je nach Knotenkombination kommunale Nachrichten übermittelten: gezahlte oder geschuldete Steuern, Geburten und Todesfälle, Mitteilungen über Hungersnöte, Dürren, Missernten, Seuchen und so weiter. Ich hatte sogar auf die einmalige Chance verzichtet, eine Sprache zu ergründen, die in die Wände der zweitausend Jahre alten Longyou-Grotten im chinesischen Quzhou gemeißelt war.
Warum?
Angst: die lähmende Sorte. Ich klammere mich an das Vertraute, das Sichere oder das, was ich für sicher halte. Es gibt nur ganz wenige Orte, an denen ich normal funktioniere: meine Wohnung, fast überall auf dem Campus - außer dem Football-Stadion, zu viel Freifläche -, der Supermarkt, das Pflegeheim meines Vaters. Bei meinem ersten Besuch in der neuen, riesigen und glitzernden Whole-Foods-Filiale - ganz relaxed auf einer doppelten Dosis Beruhigungsmittel - flatterte ein Vogel über mir in den Dachsparren herum. Ich hatte nur einen Gedanken: Wann kommt der runtergeschossen und hackt mir die Augen aus? Ich hab den Biomarkt nie wieder betreten.
Paradoxerweise war ich diejenige, die die Forschungsreisen meiner Studierenden absegnen konnte oder auch nicht, als wäre ausgerechnet ich imstande, über Risiken und Charaktereigenschaften zu urteilen. Ich schaute in die glänzenden Augen der jungen Frau vor mir, einer meiner Lieblingsstudentinnen, und hielt sie noch ein wenig hin - stellte ein paar banale Fragen nach ihrer Zielsetzung -, um vielleicht etwas von ihrer magischen Normalität in mich aufzusaugen. Leider vergeblich. Ich genehmigte ihre Reise nach Tibet und fragte mich dabei: Wie sieht sie mich eigentlich? Ich wusste, dass sie mich mochte, aber - dieses lässige Winken ihrer Hand mit dem Silberarmreif, als sie sich verabschiedete, dieser Ausdruck in ihren Augen! Ich schwöre, es lag eine Spur Mitleid, Verachtung darin. Als ob sie mein Geheimnis kannte. Ihre Dozentin war eine Schwindlerin.
Ich bin Linguistin. Ich kann mich auf Deutsch und in den meisten romanischen Sprachen verständigen, und ich habe eine Schwäche für tote Sprachen: Latein, Sanskrit, Altgriechisch. Aber es sind die ausgestorbenen Sprachen - Altnordisch und Altdänisch -, die mich faszinieren.
Sprachen offenbaren, was es bedeutet, Mensch zu sein. Das Verlangen, uns verständlich zu machen, ist etwas Ursprüngliches. Wir malen Zeichen auf Papier, brabbeln irgendwelche Laute, dann einigen wir uns wie durch ein Wunder darauf, dass diese Kritzeleien oder Silben tatsächlich etwas bedeuten, und das alles nur, damit wir einander auf eine bestimmte Art und Weise erreichen können. Sanskrit hat sechsundneunzig Wörter für Liebe, von der besonderen Liebe einer jungen Mutter zu ihrem Baby bis hin zu einem für unerwiderte romantische Liebe, aber es hat doppelt so viele für Kummer. Mein Lieblingswort ist sokaparayana, was »ganz dem Schmerz ergeben« bedeutet. Ein seltsam tröstliches Wort, das mir sanft über die Lippen kommt.
Obwohl ich gut mit Worten umgehen konnte, neigte ich dazu, das Offensichtliche zu übersehen. Dass mein Exmann sich endgültig von mir trennen wollte, begriff ich erst, als er die Scheidung einreichte. Dass mein Vater nicht mehr lange da sein würde, weil er sehr alt und außerdem schwer an Lungenkrebs erkrankt war, wurde mir erst so richtig bewusst, als ich nach seinem Umzug ins Pflegeheim mein Elternhaus ausräumte und plötzlich schluchzend auf die Knie sank, überwältigt von dolor repentino, einer jähen Schmerzattacke. Die quälende Erkenntnis, dass mein Zwillingsbruder Andy - der Mensch, der mir am nächsten stand - sich über Monate hinweg von mir distanziert hatte, drang mir erst nach seinem Tod und in den denkbar schlechtesten Situationen ins Bewusstsein: während einer Vorlesung vor einem voll besetzten Hörsaal, im Gespräch mit dem Dekan auf dem Flur. Immer wenn ich diese heftigen, plötzlichen, psychischen Dolchstiche empfand, schloss ich kurz die Augen oder wandte mich ab, um zu husten, während ich in Gedanken sokaparayana, sokaparayana wiederholte, bis ich wieder sprechen konnte.
Am sichersten fühlte ich mich in meinem Büro, allein mit meinen Büchern, Tabellen, Runenzeichen und alten Textfragmenten; und wenn ich eine Passage - oder nur ein Wort! - entschlüsselte, lief mir ein freudiger Schauer des Verstehens über den Rücken. In diesem Moment war die Distanz zwischen mir und einem anderen Menschen kurz aufgehoben. Es war, als würde jemand zu mir und nur zu mir sprechen.
Zwei Jahrzehnte lang hatten diese Schimmer der Verbundenheit genügt, um mir Kraft zu geben, aber mit der Zeit verloren sie allmählich ihren Glanz. Die persönlichen Offenbarungen nährten mich nicht mehr, wärmten mich nicht mehr so wie früher. Ich sehnte mich nach mehr Nähe zum menschlichen Herzen. Nicht durch Worte - wie erhellend oder geistreich sie auch sein mochten -, sondern in der lebendigen Welt.
Genau um acht Uhr an jenem Abend - am Ende meiner Sprechstunde - stand ich auf und schloss die Tür ab. Straffte die Schultern, strich meinen Rock glatt und setzte mich wieder hin. Draußen vor dem Fenster warf die unbarmherzige Spätaugustsonne lange Schatten über das dürre Gras im Campushof.
Ich öffnete die E-Mail. Die Betreffzeile war leer, aber Wyatt hatte sich nie an gute Umgangsformen gehalten. Mir pochte der Kopf vor Erschöpfung am Ende des Sommersemesters. Ich war nicht in der Stimmung, von Professor Speeks irgendetwas Neues über meinen Bruder zu erfahren, vielleicht liebevolle Erinnerungen daran, wie er Andy durch die anstrengende Zeit der Promotion geholfen hatte, oder auch nur irgendwas Lustiges, das Andy während ihres gemeinsamen Jahres im Eis gesagt oder getan hatte.
Ich erwog, die Nachricht ungelesen zu löschen, aber ich spürte ein Kribbeln in den Fingern. Irgendetwas gab mir zu verstehen: Tu's nicht. Dennoch sträubte ich mich, bis von tief unten in meiner Wirbelsäule ein dunkleres Wissen heraufdrängte und mich warnte, dass es ein schrecklicher Fehler wäre, die Mail nicht zu öffnen.
Von:Wyatt.Speeks@ArcticGreenlandScience.org
An:VChesterfield@Brookview.edu
Hallo, Val. Hoffe, es geht dir gut, alles in allem. Hier bei uns ist was passiert. Wir haben einen Körper im Eis gefunden, draußen auf Gletscher 35A. Ein kleines Mädchen. Wir konnten sie aus dem Eis schneiden und ins Camp bringen. Val, wir haben sie aufgetaut, und sie lebt. Frag mich nicht, wie das möglich ist. Ich kann's nicht erklären. Sie ist acht, neun Jahre alt, schätze ich. Und sie redet fast pausenlos, aber in einer Sprache, die ich noch nie gehört habe. Nicht mal Pitak, unser Versorgungspilot aus Qaanaaq, versteht ein Wort, und der spricht Inuktun. Auch Jeanne ist ratlos, also können wir das Mädchen bloß mit Essen versorgen und ständig nicken und krampfhaft überlegen, wie es weitergehen soll.
Ich habe eine Tonaufnahme von ihr angehängt. Vielleicht verstehst du ja, was sie sagt? Du bist die Expertin. Hör sie dir an, und melde dich, sobald du kannst. Und erzähl bitte niemandem von der Sache.
Wyatt
Die MP3 ruckelte über meinen Bildschirm wie eine Skyline. Ein aufgetautes Mädchen, das lebte?
Schweiß perlte mir auf der Stirn, obwohl die Klimaanlage auf vollen Touren lief. Ich stand auf, trat ans Fenster, setzte mich wieder hin. Sah auf die Uhr: zu früh für eine Pille. Ich trank den letzten Schluck abgestandenen Kaffee in meiner Tasse, zog ratternd eine Schreibtischschublade auf, nahm eine Flasche Amaretto heraus und füllte die Tasse halb. Der süße, warme Alkohol drang rasch durch meinen leeren Magen ins Blut. Machte alles weicher.
Ich dachte an die zahllosen Male, die ich Andys Stimme in den letzten fünf Monaten im Kopf abgespielt hatte, wie lebendig er auf diese Weise noch immer für mich war. Erinnerungen daran, wie wir als Kinder durch...
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