Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Kapitel 2
Diana
3. August 2018, 12.00 Uhr
Die Bucht von St Austell glitzerte in der Ferne, als Diana Trewin nach links in Richtung Porthpean und Boskenna abbog. Einst hatte sie sich nach Boskenna verzehrt, hatte sich aus tiefster Seele gewünscht, sie könne nach Hause zurückkehren. Nacht für Nacht hatte sie ihr Kissen an die Brust gedrückt und sich eingeredet, sie könne die See hören, um dann davon zu träumen. In ihren Träumen schlenderte sie durch sonnenhelle Räume, sah die Pracht des alten Herrenhauses, hörte den Klang von Musik und Gelächter. Sie entdeckte neue Räume, neue Schätze, und dann wachte sie auf, und die Welt um sie herum war alles andere als strahlend und schön. Die Träume suchten sie immer noch heim, meist in stressigen Zeiten. Sie flüchtete sich in Fantasien von blauem Meer und blauem Himmel, von ausgedehnten Rasenflächen und einer Bibliothek, in der jedes Buch stand, das sie lesen wollte. Kein echtes Haus konnte mit dem mithalten, das sie sich in ihrer Vorstellung geschaffen hatte.
Gestern Nacht hatte sie erneut von Boskenna geträumt. Sie war durch die Räumlichkeiten des imposanten Hauses gestreift, hatte die atemberaubende Aussicht in sich aufgenommen, die sich ihr durch die großen Fensterscheiben bot, und Räume betreten, die sie bislang nicht gekannt hatte. Alles war schmerzlich vertraut und doch ganz neu, außerdem spürte sie, dass irgendetwas für sie unerreichbar bleiben würde - für immer. Diana vermutete, dass es sich dabei um ihren Vater handelte. Wenn sie nur noch ein weiteres Zimmer oder das richtige Buch im richtigen Regal fände, ginge eine geheime Tür auf, und ihre verlorene Kindheit würde erscheinen, zusammen mit ihrem Dad. Er würde ihr sagen, dass er bloß Verstecken gespielt habe, dass sie ihn habe suchen müssen - und nun sei er da. Aber sosehr sie sich auch bemühte - kein Buch, kein Drehregal, keine Geheimtür brachte ihr ihren Vater, Allan Trewin, zurück. Der Morgen brachte stets die Realität ans Tageslicht: Boskenna war kein Palast der Freuden, sondern ein in die Jahre gekommenes, zugiges Gebäude, in dem zwei alte Menschen lebten.
Nun war sie nur noch ein paar Minuten entfernt, die Fahrbahn wurde bereits enger; sie näherte sich dem Strand. Diana bog scharf ab und rollte durchs Tor auf das Gelände von Boskenna. Gestern war der Anruf gekommen, den jedes erwachsene Kind erwartete und gleichzeitig fürchtete, wenn die Eltern alt wurden. »Deine Mum liegt im Sterben«, hatte George Russell, der zweite Ehemann ihrer Mutter, am Telefon gesagt. Sie war sich nicht sicher, welche Gefühle ihre Rückkehr nach Cornwall in ihr auslösten, und genauso wenig wusste sie, was sie für ihre Mutter empfand. Aber das spielte im Augenblick keine Rolle. Manche Dinge mussten eben erledigt werden.
Sie parkte neben Georges altem Jaguar und griff nach ihrer Reisetasche. Ein Schauder der Wiedersehensfreude überlief sie, als sie über die gekieste Auffahrt auf das Haus zuging. Seit sie Boskenna im Alter von acht Jahren verlassen hatte, war sie nur ein paarmal hierher zurückgekehrt. Damals war ihr das Herz gebrochen - und seitdem noch einige weitere Male -, doch mittlerweile war es wieder ganz, wenngleich geflickt. Es erinnerte ein wenig an das Dach des Verwalter-Cottages zu ihrer Linken, wo ein Stück blaue Teerpappe über eine der Traufen genagelt war.
Sie blieb vor der Tür des Haupthauses stehen und drehte sich zur Bucht um. Die Sonne brannte auf sie herab, vom Strand her schallten muntere Schreie zu ihr herauf. Die Welt drehte sich weiter, während irgendwo da drinnen ihre Mutter mit dem Tode rang. Diana zögerte, spürte dem starken Kontrast zwischen Leben und Tod nach, zwischen der glücklichen Ferienidylle unten in der Bucht und dem Alltag auf Boskenna.
Boskenna war schon immer etwas Besonderes gewesen. 1962 hatte Diana ihre letzten Sommerferien hier verbracht, hatte sich leichtfüßig inmitten interessanter Menschen bewegt, alle sonnengebräunt und salzverkrustet. An mehr erinnerte sie sich nicht, denn das eigentlich Wichtige hatten ihre Tränen ausgelöscht.
Eine Möwe landete auf dem Rasen und betrachtete sie aufmerksam mit schräg gelegtem Kopf, als wolle sie fragen, warum Diana hier war. Vermutlich aus Pflichtgefühl. Sie trat gegen einen Kieselstein. Diana und ihre Mutter, Joan Trewin Russell, hatten einander nichts mehr zu sagen. Schon seit Jahren nicht mehr. Wenn Diana ehrlich war, hatte sie versucht, ihren Kummer darüber in Arbeit zu ersticken. Die Jahre, in denen sie als Kriegsberichterstatterin um die Welt gereist war, hatten die Leere gefüllt, doch mittlerweile trat sie kürzer, und das hinterließ Lücken. Lücken, in die unerwünschte Gedanken und Fragen einsickerten.
Dianas Blick schweifte über den Rasen, und sie sah sich plötzlich als Kind, wie sie mit ihrer Mutter Fangen spielte. Sie lachte und Joan ebenfalls. Sie mussten sich einst nahegestanden haben, doch seit dem Tod ihres Vaters vor über fünfzig Jahren war diese Nähe verpufft. Ihre Mutter liebte Diana auf ihre Art und Weise. Diana wiederum hatte sich nichts sehnlicher gewünscht als diese Liebe. Doch alles hatte sich verändert, und sie wusste, dass das mit jenem verlängerten Wochenende vor sechsundfünfzig Jahren zu tun hatte.
Die Haustür stand offen, und sie konnte nicht ewig auf der Schwelle stehen bleiben, so bestechend die Aussicht auch war. Bestimmt war George in der Nähe. Diana trat ein und ließ die Vergangenheit Vergangenheit sein, um sich auf das zu konzentrieren, was jetzt auf sie zukam.
Im Flur war es merklich kühler. Sie fröstelte. Die Zeitung auf dem runden Tisch in der Mitte der großzügigen Eingangshalle flatterte. Weil sie schon so früh am Morgen aufgebrochen war, hatte sie die Zeitungen, die sie im Abonnement bezog, nicht wie sonst von vorn bis hinten gelesen, doch sie hatte im Radio die Nachrichten gehört. Sie erinnerten sie auf unheimliche Weise an die aus jenem letzten Sommer, den sie hier in Cornwall verbracht hatte.
Diana strich die Seiten glatt und stellte eine leere Vase darauf. 1962 hatte die Welt am Rande eines Nuklearkriegs mit der Sowjetunion gestanden, und seit Kurzem hatte der große Bär wieder zu brüllen begonnen. Die Welt hatte sich weitergedreht und dachte, die Dinge hätten sich zum Besseren gewendet, doch die Menschen lernten wohl niemals dazu.
Sie warf einen Blick in den Salon, dann in das kleine, gemütliche Nebenzimmer, auch »Familienzimmer« genannt, aber George war nirgendwo zu sehen. Sie überlegte, ob sie nach ihm rufen sollte, doch sie zögerte. Alles war still, abgesehen von dem Brummen eines Rasenmähers und den Geräuschen, die der Wind vom Strand zu ihr heraufwehte. Die kleine Küche war ebenfalls leer. Nun blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als die Treppe zum Schlafzimmer ihrer Mutter hinaufzusteigen. Sie ließ ihre Reisetasche auf einen leeren Küchenstuhl fallen und ging langsam, Stufe für Stufe, nach oben. Auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen und wappnete sich. Sie hatte schon jede Menge tote und sterbende Menschen gesehen, aber sie wusste, dass das hier etwas anderes war. Hier ging es um ihre eigene Mutter.
Ein Husten hallte durch den Flur. Joan war also noch am Leben. Diana war nicht zu spät gekommen. Die Bodendielen knarrten, als sie den Flur entlangging. Sie kam an einem der großen Wandschränke vorbei. Diana wandte den Blick ab. Mit Sicherheit war er vollgestopft mit altem Krempel, und was in aller Welt sollte sie damit anfangen? Doch vielleicht war er auch leer. Das Anwesen war beinahe dreißig Jahre verpachtet gewesen. Erst als George 1990 in den Ruhestand trat, war Boskenna wieder Joans Zuhause geworden. Diana blieb stehen. Sie hatte vor Jahren das Testament ihrer Mutter gesehen. Boskenna würde an sie fallen, doch George hatte das Recht, bis zu seinem Tod hier wohnen zu bleiben. Joan hatte natürlich damit gerechnet, dass sie George überleben würde. Das war die normale Ordnung der Dinge, doch bei ihrer Großmutter hatte es ebenfalls nicht funktioniert. Caroline Penquite war an Leberzirrhose gestorben, lange bevor ihr Mann Edward das Zeitliche gesegnet hatte. Boskenna war nicht an ihn, sondern direkt an Dianas Mutter gegangen.
Sieben Stufen führten zu dem kleinen Absatz vor dem Schlafzimmer ihrer Mutter. Merkwürdig, dass sie sich daran erinnerte, aber sie war diese Stufen früher oft hoch- und wieder heruntergehüpft. Jetzt stand die Tür weit offen, in der Luft hing der Geruch von Krankheit. In unregelmäßigen Abständen hörte sie einen rasselnden Atemzug. Reglos blieb sie im Türrahmen stehen, doch sie blickte nicht zu ihrer Mutter, die in einem Sessel saß, sondern aus den Fenstern. Dieses Zimmer bot einen allumfassenden Ausblick - zumindest hätte es das getan, wären die Bäume regelmäßig gestutzt worden.
Boskenna war über die Jahre gewachsen - im selben Maße wie das Vermögen der Familie. Dieser Raum war bei der Erweiterung in den 1840er-Jahren hinzugekommen. Die Decken waren höher, die gesamte Front war zur See hin ausgerichtet. Zwanzig Jahre später war ein ebensolcher Flügel an der Nordseite des Hauses angebaut worden. Alle Fenster an der Vorderseite boten einen unvergleichlichen Ausblick aufs Meer. Die Augustsonne brannte auf Gribben Head hinab, die Bucht war voller weißer Segelboote - eine perfekte Postkartenidylle, nur dass sie nicht wusste, was sie auf eine solche Postkarte hätte schreiben sollen.
Sie konnte Carrickowel Point erkennen, die kleine Landspitze zur Linken, die direkt dem hinteren Gartenteil von Boskenna zu entspringen schien. Rechts konnte man durch die Bäume Black Head erkennen. Die Schönheit der Landschaft war...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.