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Kapitel eins
Windward, Mawnan Smith, Falmouth, Cornwall 12. September 1945
Das Festzelt, in dem die Hochzeitsfeierlichkeiten stattfanden, war klein, aber eigentlich wurde es auch gar nicht benötigt. Der Himmel war strahlend blau, der Weizen auf dem Feld nebenan wogte in der leichten Brise von Osten, doch die See schwoll an wie der Bauch meiner Schwester. Der Krieg war vorbei. Sie hatte soeben geheiratet, gerade noch rechtzeitig, denn man konnte schon etwas sehen. Ihr Bräutigam, ein gutaussehender Mann in der Uniform eines Captains von der US Army, stand unbeholfen neben ihr, die Hand auf ihren Rücken gelegt. Er blinzelte in die Ferne, als halte er nach etwas Ausschau. Nach etwas, was verloren gegangen war. Unschuld, nahm ich an. Die beiden hatten vor, nach Amerika zu gehen, und wäre das Schicksal gnädig, würde ich meine Schwester nie wiedersehen.
Ich berührte die Perlen an meinem Hals und wandte mich ab. Mein Vater kam mit seiner Kamera zu mir. Seine Hände zitterten. »Mach du das Foto für mich.«
Ich verschränkte die Arme.
»Nimm!«, bellte er, als würde er den Truppen eine Anweisung erteilen. Seine Uniform zeigte, dass er einen höheren Rang bekleidete als ich; er war Major bei der Armee, während ich gerade aus der Marine entlassen worden war. Er hatte eine Funktion inne, wusste, was zu tun war; ich wurde von den Gezeiten getrieben, war bereit zu gehen, wohin auch immer sie mich tragen würden, solange es nur weit fort von hier war.
Ich hielt die Kamera in Richtung des Paars, aber ich wollte nicht durch den Sucher blicken. Ich wollte sie nicht sehen, Braut und Bräutigam, perfekt gerahmt im Septembersonnenschein. Stattdessen spähte ich über die Kamera hinweg zum Haus. Bis vor Kurzem war Windward ein Ort des Glücks und der Zuflucht gewesen - trotz des Kriegs.
Ich drückte auf den Auslöser, die Kamera klickte, ich reichte sie meinem Vater, dann ging ich davon. Meine Pflicht war erledigt. Ich hatte genug getan.
Vor mir glitzerte das Wasser der Falmouth Bay. Die Ebbe legte die Felsen frei, die eine Bedrohung für jedes Boot darstellten, das bei Flut ohne Seekarte an die Küste zu navigieren versuchte.
Meine Schwester war von jeher eine Romantikerin gewesen, die unaufhörlich von der Liebe redete. Liebe. Wie verblendet ich gewesen war. Eines Abends im Savoy in London hatte ich den attraktivsten US-Lieutenant aller Zeiten kennengelernt. Ein einziger Blick aus seinen großen blauen Augen genügte, und ich war verloren. Von da an galt für mich weder Karte noch Kompass. Alles veränderte sich.
1. Mai 2015
Ich faltete das Taschentuch zusammen, mit dem ich mir die feuchten Augen gewischt hatte, und fuhr mit den Fingern über die Stickerei in einer der Ecken. Ein Maiglöckchen. Meine Lieblingsblumen. Mein Blick fiel auf die Maiglöckchen in den Beeten und auf dem Rasen im Garten. Die frisch geöffneten Blüten verströmten ihren Duft in die warme Luft. Ganz gleich, wie oft ich die Wurzeln über die Jahre hinweg entfernt hatte, die Blumen kehrten jedes Jahr zurück wie unerwünschtes Unkraut. Vor mir steckten meine Enkelin Peta, ihr Verlobter Fred Polcrebar und mein Enkel Jack mit Pfosten die Rasenfläche für das Festzelt ab, das in ein paar Monaten, genau gesagt am zwölften September, aufgestellt werden sollte. Sie wussten nicht um die Bedeutung dieses Datums. Die Wärme des heutigen Maitags verhieß einen heißen Sommer, während die Sonne am 12. September 1945, wenngleich warm, doch kühlere Tage hatte erahnen lassen.
Peta strahlte vor Vorfreude auf ihre Hochzeit, wohingegen Jack, ihr überfürsorglicher Bruder, fürchterlich nervös war und jede Entscheidung hinterfragte. Er hoffte, Peta damit zur Vernunft zu bringen, wollte, dass sie ihre Entscheidung rückgängig machte. Seiner Ansicht nach war sie zu jung für die Ehe, und er war der festen Überzeugung, die Liebe habe ihren Verstand vernebelt. Ich wusste nur zu gut, dass die Dinge ohnehin ihren Lauf nehmen würden. Das taten sie immer. Ich hätte diesen Lauf vor Jahrzehnten aufhalten können, aber was hätte mir das gebracht?
»Wie sieht es von dort drüben aus, Mrs Rowse?« Fred richtete sich auf und ließ die breiten Schultern kreisen.
»Gut, aber bitte nenn mich doch Elle.«
»Das kann ich nicht.« Er kam mit einem breiten Grinsen auf mich zu. Kaum zu glauben, dass er schon dreiundzwanzig sein sollte.
»Und warum nicht?«
»Es wäre einfach nicht richtig, das ist alles.«
»Weil ich so alt bin.« Ich lachte über seinen entsetzten Gesichtsausdruck.
»Nein.« Er wandte den Blick von meinem faltigen Gesicht ab.
»Du bist ein schlechter Lügner. Entscheide dich, ob du mich Elle oder Gran nennen möchtest, aber sag bitte nicht Mrs Rowse. Du gehörst jetzt zur Familie.«
Jack kam hüstelnd auf mich zu. Seine wohlgeformten Lippen waren missmutig verzogen, seine Hände zu Fäusten geballt. Er war so leicht zu durchschauen.
»Sprich mit ihr«, wisperte er.
»Gefällt dir etwa der Platz für das Zelt nicht?« Mit hochgezogener Augenbraue musterte ich die Pfosten auf dem Rasen.
»Jetzt sag bloß nicht, du stehst auf ihrer Seite.« Er sprach so leise, dass Fred und Peta ihn nicht hören konnten.
Ich unterdrückte ein Lächeln. »Ich wusste gar nicht, dass es Seiten gibt.«
»Sie sind zu jung.«
»Manche Leute sind noch jünger, wenn sie heiraten.« Knapp zwanzig Meter vor mir lachte Fred über etwas, was Peta gesagt hatte.
Jack vergrub die Hände in den Hosentaschen. »Das heißt aber noch lange nicht, dass es richtig ist.«
Ich runzelte die Stirn. Es war gar nicht gut, dass er sich derart querstellte. Die Sorge um das Glück seiner Schwester war eine Sache, aber darum ging es hier nicht. Es ging um etwas Tieferes. Um seine Vergangenheit, um seine Eltern.
»Du glaubst doch auch nicht an die Liebe.« Er schnaubte, und ich lächelte über seine Verdrossenheit.
»Ich war zwanzig Jahre lang glücklich mit deinem Großvater verheiratet«, entgegnete ich und streckte den Arm nach ihm aus, doch er hatte sich schon abgewandt.
»Ja, aber du warst schon über vierzig.«
»Macht das einen Unterschied?«
»Und ob.« Er kehrte kopfschüttelnd ins Haus zurück.
Peta schlug den letzten Pfosten mit dem Holzhammer in den Rasen. Sie strahlte Zuversicht und Selbstvertrauen aus. Sie wusste, was sie wollte, und ging ihren Weg mit einer Überzeugung, die mich neidisch machte. Fred nahm ihre Hand in seine und küsste sie auf die Stirn. Junge Liebe. Unverfälscht und rein. Könnten sie es aller Widrigkeiten zum Trotz schaffen?
Ich drehte mich um und betrachtete die rückwärtige Fassade von Windward, die auf die Bucht hinausging. Einst war dies ein glückliches Haus gewesen. Ich hatte angenommen, mit Andrew und mir hätten sich die Dinge gewendet, doch Düsternis hatte sich in die abgeschiedenen Winkel von Windward gestohlen und wartete nur darauf, die Nichtsahnenden aus dem Hinterhalt zu überfallen. Jeder der großen Granitsteine schien mit Mörtel aus Schmerz und Verlust an seinem Platz zu verharren. Als ich nun Jacks Silhouette hinter dem Salonfenster erblickte, wusste ich, dass es sich dabei nicht nur um meinen eigenen Schmerz und Verlust handelte, sondern auch um den Schmerz und Verlust dieser Generation.
Peta blieb unter der Baumgruppe stehen, pflückte ein Maiglöckchen und atmete den Duft ein. Ihr Gesicht hellte sich auf. Sie wandte sich um und kam auf mich zu, den zarten Stängel mit den schneeweißen Glöckchen zwischen den Fingern. »Auf die Rückkehr des Glücks«, sagte sie und reichte ihn mir, doch dafür war es viel zu spät. Frieden war alles, worum ich noch bitten durfte.
5. Mai 2015
Peta warf mir einen reumütigen Blick von der gegenüberliegenden Zimmerseite aus zu. Ich funkelte sie an. Sie wusste, dass das hier das Letzte war, woran ich teilnehmen wollte, dennoch saß ich auf dem Sofa vor einer auf mich gerichteten Kamera. Ich hatte die Knöchel übereinandergeschlagen, die Schultern nach hinten genommen, das Kinn leicht emporgereckt, genau wie meine Großmutter es uns gelehrt hatte. Obwohl sie schon seit neunundsechzig Jahren nicht mehr lebte, fühlte sich Windward immer noch mehr wie ihr Haus an als wie meines. In all der Zeit hatte sich hier nur wenig verändert.
Die junge Frau von der BBC räusperte sich und schien leicht beklommen, weil sie mit mir reden sollte. »Mrs Rowse, das hier ist ein Foto von Ihnen, aufgenommen am 8. Mai 1945, dem Tag der Befreiung.« Sie hielt einen glänzenden Abzug in die Höhe, der eine Frau in der Uniform des Women's Royal Naval Service, des Königlichen Marinediensts der Frauen - kurz: WRNS - in den Armen eines Piloten zeigte. Das Lächeln der Frau hätte der Londoner Skyline im Hintergrund Konkurrenz machen können, die zum ersten Mal seit Jahren wieder in voller Pracht erstrahlte.
Ich kannte jenes Gesicht, jene Augen.
»Das ist eine wundervolle Aufnahme«, sagte die junge Frau, »weil sie das Gefühl der Freude so vortrefflich einfängt.«
Ich nickte. Es war ein albernes Bild, und es ärgerte mich, dass mein Hut schief saß.
»War das Ihr Freund? Ihr Verlobter?«
»Nein.« Ich nahm ihr das Foto ab. Meine Hand zitterte.
»Kannten Sie ihn?«
»Nein. Es war der VE-Day. In Europa war der Zweite Weltkrieg vorbei, und wie alle anderen wollte ich tanzen, singen und feiern.« Die Freude in jener Nacht war greifbar gewesen. Nun, zumindest für die meisten Menschen. Die...
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