Schweitzer Fachinformationen
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2.
»Mit leerem Magen ist nicht gut arbeiten«, wiederholte Maria einen Spruch der Señora, als spräche deren Geist aus ihr. Sie wollte nichts davon wissen, dass Rivenport ohne Frühstück ins Krankenhaus ging. Rivenport war keine eins fünfundsiebzig groß, aber im Vergleich zur Indiofrau wirkte er wie ein Riese. Und dennoch hatte er des Öfteren Schwierigkeiten, sich gegen sie durchzusetzen. Aber außer Kaffee konnte er jetzt einfach nichts runterkriegen, er wollte nur schnell ins Krankenhaus, das Problem lösen und seine Ruhe haben.
Die Stadt S., die benachbarten Orte sowie das Land, durch das sich die Quebrada de Humahuaca zog, ja die ganze nordwestargentinische Provinz von Jujuy hatte nur einen geringen weißen Bevölkerungsanteil. Im Gegensatz zu Zentralargentinien, in das in den letzten hundert Jahren Scharen von Europäern eingewandert waren - aus Italien und Spanien, aus Portugal und Deutschland, Polen, Griechenland und sonst woher - und wo Bewohner mediterraner Küstenstädte wie Genua oder Neapel sogar ganze Stadtviertel in Buenos Aires besiedelten, hatte der Norden noch seine ursprüngliche Demografie erhalten. Der Großteil der Bevölkerung bestand aus mal mehr, mal weniger direkten Nachfolgern des einst glorreichen Inkareichs, das sich zu seinem Höhepunkt vom Süden Kolumbiens, über große Stücke von Ecuador, Peru, den Westen Boliviens, den Norden und das Zentrum Chiles, bis hierher in den Nordwesten Argentiniens erstreckt hatte.
Rivenport war Maria zugetan wie niemandem sonst auf der Welt. Sie hatte bereits unter seinen Eltern gedient, als er noch ein Kind war. Zu jedem Beginn der Sommerferien stand sie oben auf der Veranda und wartete auf seine Rückkehr aus dem Internat. Bevor er seine Eltern zu sehen bekam, war sie es, die ihn umarmte und sein Gesicht gegen ihren Busen presste. Während der Pubertät schien sie bei jedem Wachstumsschub um eine Stufe, die er auf der Verandatreppe erklomm, zu schrumpfen, und bald war es bei der gewohnten Umarmung ihr Gesicht, das gegen seine Brust drückte. Maria war dabei, als er nach Abschluss seines Medizinstudiums die Position im Krankenhaus von S. annahm und als er sich mit Rosa vermählte. Zusammen mit ihr erlebte er den Tod seines Vaters, kurz darauf den seiner Mutter und zu allem Überfluss näherte sich schleichend Rosas Unglück. Maria pflegte sie während der schweren Zeiten der Krankheit und wich bis zum Ende nicht von ihrer Seite. Tagelang saß sie an ihrem Sterbebett und nahm sich nach Rosas Tod aller Unannehmlichkeiten an, bis hin zur Planung der Beerdigung. Sie stand Rivenport stets bei und sie war weitaus mehr als nur eine Haushälterin, sie war die Seele des Hauses.
Bedauerlicherweise hatte sie einen Hang zum Tratsch: »Anscheinend wurde der Mann bei der Straße zum Pass gefunden.«
»Dem Paso de Jama?«
»Ja, ein Feldarbeiter soll ihn gefunden haben. Ist das nicht komisch?«
Auf der Fahrt ins Krankenhaus kam Rivenport ins Grübeln. Er saß er auf der Rückbank seines Wagens und blickte geistesverloren auf die vorbeifahrende Szenerie. Was machte ein Feldarbeiter so weit im Hochland? Im Zuge der wilden Suche nach Gold und Silber hatte S. glorreiche Momente erlebt. Nachdem allerdings die Silberminen erschöpft gewesen waren, verkam die Stadt zu einem entlegenen Provinzörtchen. Nur weiter im Osten bei Valle Grande und Ledesma oder im Süden bei El Carmen und Monterrico wurde noch Reichtum angehäuft (und wo Vermögen war, herrschte auch Hektik). Dort betrieben alteingesessene Familien Landwirtschaft in großem Stil. Überwiegend wurde Zuckerrohr angepflanzt, aber auch Tabak. Um S. selbst war der Riesenkaktus, Sinnbild der Dürre und Einsamkeit des Landes, das dominierende Gewächs.
Dass seine Stadt nicht mehr im alten Reichtum schwelgte, gefiel Rivenport übrigens sehr. Für ihn, der Ruhe und Gleichmaß als höchste Güter schätzte, wäre es unvorstellbar gewesen, in einer Metropole zu leben. Sogar San Salvador de Jujuy oder das nahegelegene Salta, wohin er beruflich ab und an reisen musste, überforderten ihn. Bei seinem letzten Besuch zu einer Veranstaltung des Gesundheitsministeriums stieg ihm schon auf der Straße das Gewirr der vielen Menschen, der herumflitzenden Fahrräder und Autos, der schieren Menge an Geräuschen, Gerüchen und Gesichtern so sehr zu Kopf, dass er einen leichten Schwächeanfall erlitt, den Termin absagen musste und noch Tage nach seiner Rückkehr in S. eine Migräne zu beklagen hatte.
Im Zuge der großangelegten Ansiedlungskampagne Juan Peróns wurde seit Ende der vierziger Jahre in den spärlich bevölkerten Provinzen vom südlichsten Patagonien bis in das nördlichste Andenland freigiebig in Infrastruktur investiert. Dazu gehörte auch der neue Flügel des Krankenhauses von S. Eine modulare Standardarchitektur, viel zu groß geraten für die Bedürfnisse der Region. Das Hospital sollte Bürgern in einem Umkreis von bis zu hundert Kilometern dienen. Bei den schwer zu befahrenden Straßen war das eine Wunschvorstellung. Wer weit weg lebte, war auch bei schwierigen Eingriffen weiterhin auf lokale Heilkünstler angewiesen.
Die weiße, fast fensterlose Anlage stützte sich an einen älteren Kolonialbau. Rivenport fand sie scheußlich. Allerdings war er als Doktor und Mann der Wissenschaft von ihrer Funktionalität beeindruckt. Die Schnörkellosigkeit erlaubte nicht nur eine effizientere Behandlung der Patienten, sondern auch (für einen Direktor ein springender Punkt) eine äußerst preiswerte Wartung. Wie sie so steril aus dem allumfassenden Sand und Staub hinausragte, vermittelte sie leicht den Eindruck einer Kathedrale in der Wüste.
Von weitem schon erblickte Rivenport die Priorin der Ordensschwestern. Sie kam so schnell sie konnte auf ihn zugelaufen, dabei verzog sie ihr Gesicht zu einer angestrengten Grimasse, als nähme das Laufen allein ihre gesamte Konzentration in Anspruch. Ihre massige Figur quälte sich den langen Korridor entlang. Sogar die Keuschheit der weißen Nonnentracht vermochte es nicht, ihre voluminösen Formen zu kaschieren. Bei jedem Schritt wogten ihre mächtigen Brüste von einer Seite zur anderen. Nur dank des dicken Stoffes ihrer Kleidung schienen sie nicht längsseits wegzufliegen. Die Priorin wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
»Sie sind über die Situation informiert?«
»Meine Hausdame hat mir kurz berichtet.«
Sie durchquerten den Korridor, dann brummte die Priorin unerwartet männlich aus der Tiefe ihres Bauches: »Sie haben sich ganz schön Zeit gelassen.«
Rivenport zog es vor, diesen frechen Kommentar zu übergehen. Manchmal war es weiser, auf bestimmte Sachverhalte nicht einzugehen. Warum sich das Leben unnötig schwer machen? Zum Glück kam in diesem Moment der zuständige Arzt.
»Ah, Oriani. Guten Morgen. Wie ist die Lage?«
Doktor Oriani war ein junger Mann mit pomadisierten Haaren und Schnurrbart. Er entstammte einer wohlhabenden Familie aus San Salvador und war vor drei Jahren nach S. gekommen, um seine Ausbildung abzuschließen. Eigentlich hätte er S. schon lange wieder verlassen müssen, verschob aber ständig seine Abreise und erfand dafür jedes Mal neue, immer abstrusere Ausreden. Anfangs war es unklar, warum der junge Arzt unbedingt in S. bleiben und nicht eine vielversprechende Karriere in der Provinzhauptstadt ansteuern wollte. Das Rätsel löste sich schließlich auf, als Rivenport über die üblichen Umwege erfahren hatte, dass Oriani sich Hals über Kopf in ein hiesiges Mädchen verliebt hatte. Nicht dass ihn dieser Tratsch weiter interessiert hätte, ganz im Gegenteil, am liebsten wäre er von Geschichten dieser Art verschont geblieben, aber, wie es nun mal so ist, werden dem Direktor des Krankenhauses solcherlei Dinge zugetragen. Um seine Ruhe zu haben, bot er dem jungen Mann einen festen Posten an, den dieser glücklich akzeptierte. Rivenport wurde als Retter der Liebe gefeiert, als Romantiker, als Mann mit harter Schale und weichem Kern. »Oh Professor, Sie haben ein großes Herz«, lobten ihn die Krankenschwestern. Unsinn! Er hatte nur das für sich Notwendige getan. Seine Handlungsmotive waren egoistisch. Er hatte dem Klatsch ein Ende bereitet, um sich wieder ungestört seiner Schmetterlingssammlung zuwenden zu können.
»Der Patient wurde in einem akuten Gefahrenzustand eingeliefert. Er war dehydriert und unterernährt. Im Hals- und Gesichtsbereich hatte er Verbrennungen zweiten und dritten Grades, ebenso an Armen und Händen. Diese hatten teilweise auch oberflächliche Blasenbildungen zur Folge, einige von ihnen mit Bluterguss. Am ganzen Körper weist er Prellungen und Schürfwunden auf. Hinzu kommt eine größere Platzwunde am Wangenknochen und einige kleinere Verletzungen. Am gefährlichsten allerdings ist ein tiefer Einschnitt im linken Oberschenkel. Die Wunde ist zum Glück nicht entzündet, allerdings hat der Patient viel Blut verloren.«
Die Ordensmutter wurde bei jedem Wort hibbeliger. Man konnte ihr ansehen, dass sie am liebsten hätte mitreden wollen. Rivenport ignorierte sie und fragte Oriani: »Wie sind Sie bei der Behandlung vorgegangen?«
»Wir haben den Patienten sofort stabilisiert und eine parenterale Verabreichung von Flüssigkeitsinfusionen durchgeführt. Es schien mir wahrscheinlich, dass die Dehydration einen erheblichen Salzverlust zur Folge hatte, also habe ich auch Nährstoffe verabreicht. Wir haben die Wunden gesäubert und, wo nötig, genäht. Der Einschnitt im Oberschenkel war komplizierter, weil wir erst die Metallsplitter entfernen mussten -«
»Metallsplitter?«
»Ja, ein größeres Metallstück steckte in seinem Oberschenkel. Wir haben es natürlich sofort entfernt, aber innerhalb der Wunde hat es...
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