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Vorwort
von Rosemarie Tietze
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Paris bald zum kulturellen Traumziel. Ernest Hemingway feierte dort fünf Jahre lang »ein Fest fürs Leben«, plauderte mit Ezra Pound und stritt mit Gertrude Stein; seinen Lesestoff holte er sich bei Shakespeare & Company, der Buchhandlung, in der auch James Joyce anzutreffen war. Die Begeisterung für Paris erfasste nicht nur Literaten. George Gershwin ging so weit, dass er seiner Rhapsodie Ein Amerikaner in Paris sogar das Hupen der Pariser Taxis einkomponierte - und das mit originalen »Instrumenten«.
Am Steuer der Pariser Taxis saßen während der Zwanziger- und Dreißigerjahre oft ehemalige Fürsten oder höhere Offiziere aus Russland. Die Oktoberrevolution von 1917 hatte fast 2 Millionen Menschen aus dem Land getrieben, von denen sich, Schätzungen zufolge, 40-50000 in Paris niederließen. Viele der Emigranten waren mittellos, und schwerer Schufterei bei Renault oder sonstwo in der Industrie zogen sie das angenehmere Taxifahren vor; die Pariser Gewerkschaft der russischen Taxichauffeure soll 1200 Mitglieder gezählt haben. Es konnte auch vorkommen, dass der Fahrer im Nachttaxi Schriftsteller war, jedenfalls verdiente Gaito Gasdanow jahrzehntelang so sein täglich Brot.
Menschen aus dem Geistes- und Kulturleben Russlands zog es zunächst oft nach Berlin, gegen 1925 jedoch lief Paris anderen Metropolen den Rang ab, die französische Hauptstadt wurde zum Zentrum der russischen Kultur im Ausland. Dort landete auch der junge Mann, der sich als Prosaiker das Pseudonym Juri Felsen zulegen sollte.
Nikolai Bernhardowitsch Freudenstein kam 1894 in St. Petersburg zur Welt. Seine jüdische Familie hatte aus Riga nach Petersburg ziehen können, da der Vater als erfolgreicher Arzt die im russischen Reich für Juden geltenden Siedlungsgrenzen überwand. 1916 schloss Nikolai ein Jurastudium an der Petersburger Universität ab, allerdings, wie er zuletzt in seiner Autobiografie schrieb, »ohne dazu die mindeste Berufung« verspürt zu haben. Als nach der Revolution letzte Beschränkungen für Juden fielen, trat er noch in eine Artillerieschule ein, um sich zum Offizier ausbilden zu lassen. Im Herbst 1918 emigrierte die Familie aber ins - jetzt unabhängige - Lettland.
Offenbar war Schreiben inzwischen zu Nikolais Lebensziel geworden, denn schon im Dezember erschienen Glossen von ihm in Rigaer Zeitungen. Ansonsten ist über seine Jahre in Riga wenig bekannt. Die Emigration in Richtung Westen ging weiter, nach einer Zwischenstation in Berlin lebte Nikolai Freudenstein ab Dezember 1923 in Paris. Hier wurde »Juri Felsen« geboren, unter diesem Namen veröffentlichte er ab 1926 Erzählungen, Artikel und Rezensionen in Zeitschriften. Und er stürzte sich ins literarische Leben der damaligen Welthauptstadt der Kultur.
Geprägt wurde das russische Literaturleben in Paris vorwiegend von zwei Gruppen: den »Älteren«, die als schon bekannte Schriftsteller die Heimat verlassen hatten, so Iwan Bunin, der spätere Nobelpreisträger, Dmitri Mereschkowski, Essayist und Autor historischer Romane, oder seine Ehefrau, die Lyrikerin Sinaida Hippius; daneben gab es die Gruppe der »Jüngeren«, die ihre Autorenlaufbahn erst im Exil begannen. Eine Zwischengruppe bildeten Literaten wie Wladislaw Chodassewitsch und Georgi Adamowitsch, beide Dichter und Kritiker, außerdem langjährig verfeindet; sie hatten schon in Russland publiziert, doch ihr Ruf festigte sich erst in Paris.
Der Salon von Mereschkowski und Hippius war ein zentraler Schauplatz dieser Szenerie. Wen das Ehepaar an den berühmten »Sonntagen« zum Tee einlud, wen die spitzzüngige Hippius beim intellektuellen Geplauder neben sich auf dem Sofa platzierte, der »gehörte dazu«; Juri Felsen wurde diese Ehre ebenfalls zuteil. Einer seiner Zeitungsberichte schildert diese Treffen geradezu liebevoll, obwohl unverkennbar ist, dass er aus Distanz auf die andere Altersgruppe blickt. Tonangebend waren die Mereschkowskis auch bei einer anderen Initiative, der »Grünen Lampe«. Dort wurden ab 1927 Vorträge und Lesungen organisiert, zu denen in den besten Zeiten mehrere Hundert Zuhörer strömten.
In der Diaspora sind Minderheiten oft geneigt, sich abzusondern, und gerade die russische Emigration hat dazu stets einen Hang gehabt. Nicht so allerdings in den Zwanzigern in Paris. Zwischen 1929 und 1931 existierte sogar - ein Wunder in Exilverhältnissen - das »Studio Franco-Russe«: Zu Themen wie Tolstoi oder Proust oder »Symbolismus in Frankreich und Russland« referierten jeweils ein Franzose und ein Russe, danach wurde im gemeinsamen Plenum diskutiert - und das kontrovers. Felsen erwähnt in einem Artikel zum Beispiel den provokativen »Stuben-Bolschewisten« Wladimir Posner, der gesagt habe, es gebe »in der Emigration keine Schriftsteller, die >Greise< beschließen noch ihr Leben und haben fern der Heimat ihr Talent verloren. Eine Jugend existiert einfach nicht. Auch kann man im Exil gar nicht Schriftsteller sein.«
Der Austausch hatte jedenfalls Folgen. Er bestätigte den »Jüngeren«, die ohnehin schon Proust und Gide und Joyce studierten, dass es sinnvoll war, sich außer an russischen Traditionen an der europäischen Moderne zu orientieren. Womit sie sich noch weiter von den »Älteren« entfernten, denn diese sahen es als »Mission« der russischen Exilliteratur an, das Erbe des 19. Jahrhunderts zu bewahren und respektvoll weiterzutragen.
Im russischen Paris herrschte damals eine berückende publizistische Vielfalt. Es gab zwei Tageszeitungen und eine Unmenge an Zeitschriften, denen aber schon nach kurzer Zeit oft die Luft ausging, weil sich kein weiterer Mäzen finden ließ. Weniger günstig sah es bei den Buchverlagen aus; deren Zahl war eher beschränkt. Der schon seit 1910 existierende Verlag von J. Powolozki gab ab Mitte der Zwanziger eine »Bibliothek zeitgenössischer Schriftsteller« heraus, dort erschienen, und zwar in demselben Jahr 1930, zwei »erste Romane« von Nachwuchsautoren: Ein Abend bei Claire von Gaito Gasdanow und Getäuscht von Juri Felsen.
Die Reaktion auf Felsens Werk war zwiegespalten. Wie zu erwarten, konnte die ältere Generation mit dem Roman wenig anfangen, sie störte sich an der »Nachahmung« Prousts. Dem widersprach Georgi Adamowitsch: Felsen habe bei Proust »gelernt«, sei aber »selbständig geblieben«. Den beeindruckten »Jüngeren« fiel an dieser Prosa vor allem der »psychologische Scharfblick« auf. Tatsächlich war Felsens Hauptziel, wie sich auch aus seinen Erzählungen schließen lässt, die Seelenanalyse, die differenzierte Beobachtung innerer Vorgänge.
Natürlich provoziert der Stil in Getäuscht durchaus bewusst. Felsens Attribut-Reihen mögen hie und da sperrig wirken, komplexere Satzgebilde vom Leser besondere Konzentration verlangen. Wer sich jedoch einliest, gerät in den Sog dieser eigenwilligen Prosa. Wie viel Absicht dahintersteckt, wie sehr der Verfasser selbst es auf Widerstand anlegt, zeigt sich, wenn man Felsens Zeitschriftenartikel dagegenhält. Denn die lesen sich locker und sachlich - der Autor »kann auch anders«.
Das Schreiben war für Felsen zur Sucht geworden. Wie Adamowitsch berichtet, schrieb er ununterbrochen, »im Café, auf der Straße, in der Metro«, überall notierte er, strich durch, korrigierte, ergänzte. Das war es, wozu er sich »berufen« fühlte.
Mochte Felsens Roman manchem Zeitgenossen auch irritierend vorkommen, so galt das keineswegs für seine Person. Das Literaturmilieu nahm ihn, wie in Memoiren oft betont, als perfekten Gentleman wahr: stets korrekt gekleidet, nie aus der Ruhe zu bringen, zurückhaltend und bescheiden; auf niemanden aus Felsens Generation habe das Attribut »ehrlich« oder »rechtschaffen« mehr zugetroffen. Dabei hielt er mit seiner Meinung keinesfalls hinterm Berg, doch er verletzte nicht. Streitereien wusste er mit Takt und Diplomatie zu schlichten, es soll ihm sogar gelungen sein, die ewigen Kontrahenten Chodassewitsch und Adamowitsch beim Kartenspiel miteinander auszusöhnen. Wovon er seinen Lebensunterhalt bestritt, wird nie so recht klar. Andeutungen zufolge dürfte er sich in ähnlichen Geschäften versucht haben wie sein Erzähler. Jedenfalls veröffentlichte er einmal eine Glosse mit dem Titel Die Könige der Pariser Börse und ihre Opfer - da kannte sich Felsen offenbar aus.
Ganze Nächte verbrachten die jungen Poeten und Prosaiker in den Cafés von Montparnasse, wo sie ewig vor einer Tasse schwarzen Kaffees hocken und unbehelligt diskutieren konnten. Mit Tschisla gab es ab 1930 auch eine Zeitschrift, die hauptsächlich Werke dieser Generation vorstellte, dazu wurden Bilder von Künstlern wie Gontscharowa, Larionow oder Chagall abgedruckt. Nach vier Jahren und zehn sorgfältig redigierten Nummern hatte es mit dem Glück dieses Forums auch wieder ein Ende. Neben »Russischem Montparnasse« bürgerte sich der in Tschisla erstmals aufgetauchte Begriff »Pariser Note« als Bezeichnung für die jungen Literaten ein.
Erfunden hatte den Begriff Boris Poplawski, ein chaotischer Poet, der mit Leidenschaft sämtliche Trends der Zeit durchprobierte, von der Exzentrik Rimbauds über den Surrealismus bis hin zur Mystik; er galt als das Genie der jungen Exilliteratur. 1935 starb Poplawski, erst 32-jährig, an einer überhöhten Drogendosis. Zu Lebzeiten war von ihm nur eine knappe...
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