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1925
Im Leben jedes Menschen gibt es jenen Moment, der den endgültigen Übergang ins Erwachsenendasein kennzeichnet. Für Pamela Mitford war dieser Moment noch nicht gekommen. Mürrisch stand sie auf den Stufen vor einem schmalen Haus in Mayfair, doch es war nicht nur die kalte Abendluft, die sie zittern ließ, sondern vor allem ihre flatternden Nerven. Louisa Cannon war sehr wohl bewusst, dass Pamela sich vorkam, als stünde sie vor der Höhle der Löwen, die nur darauf warteten, sich auf das blonde Mitford-Mädchen zu stürzen.
»Sag Koko, sie soll rauskommen und mich holen«, sagte Pam, den Rücken zur Tür gekehrt. »Wenn du mich hineinbegleitest, glauben alle, ich wäre ein Baby.«
»Das muss ich aber tun, weil ich es Ihrer Mutter versprochen habe. Außerdem weiß sowieso keiner hier, dass ich Euer Kindermädchen bin«, erinnerte Louisa sie nicht zum ersten Mal an diesem Tag. Die Fahrt vom Familienwohnsitz in Oxfordshire, der eigentlich Asthall Manor hieß, aber von allen Mitford Manor genannt wurde, nach London war lang gewesen, obwohl sie den üblichen Zug nach Paddington Station genommen und praktisch sofort ein Taxi gefunden hatten, sobald sie aus dem Bahnhofsgebäude getreten waren.
»Bitte. Geh rein und hol Koko.«
Koko war der Spitzname von Nancy, des ältesten der sieben Mitford-Kinder - sechs Schwestern und ein Bruder. Seit fünf Jahren arbeitete Louisa mittlerweile für die Familie und konnte die Spitznamen wie einen französischen Vokabeltest im Schlaf herunterbeten. Sie läutete widerstrebend, und erschreckend schnell wurde die Tür von einer jungen Frau geöffnet, die wie ihr Abziehbild aussah: Sie war ähnlich groß, ihr Haar hatte einen ähnlichen Braunton wie Louisas, wenngleich sie es unter einem Häubchen zusammengesteckt hatte, und sie trug ein solide gearbeitetes Kleid, das jedoch aufgetragen aussah, so wie sie selbst häufig Nancys aussortierte Kleider anhatte. Das Mädchen wirkte müde, aber die Sommersprossen auf ihrer kleinen Nase verliehen ihrem Gesicht etwas Lebhaftes. Ihr Blick fiel auf Pamela, die immer noch mit dem Rücken zur Tür stand. Louisa und das Dienstmädchen tauschten einen Blick, der ihr Wissen bestätigte, dass sie im selben Boot saßen.
»Guten Abend«, sagte Louisa. »Könnten Sie mir bitte sagen, ob sich Miss Nancy Mitford hier aufhält?«
Das Dienstmädchen sah aus, als würde sie gleich in Gelächter ausbrechen. »Zuerst sollte ich wohl fragen, wer das wissen möchte.« Ihr Tonfall verriet Louisa, dass sie wohl aus einem der Viertel südlich der Themse stammte.
»Ihre Schwester, Miss Pamela«, antwortete Louisa. »Sie will nicht, dass ich sie begleite, und ich möchte sie nicht alleine hineingehen lassen. Darf ich vielleicht reinkommen und kurz mit Miss Nancy sprechen?«
Das Mädchen nickte und hielt die Tür auf. »Folgen Sie mir, bitte.«
Das Mädchen führte sie einen Korridor entlang, deutete auf eine Tür und verschwand durch eine andere. Louisa wunderte sich ein wenig, dass sie sie nicht formell hineingeführt hatte, verstand jedoch sehr schnell, warum. Im spärlich beleuchteten Salon standen zwei große, abgenutzte Sessel vor einem knisternden Kamin, mit den Rückenlehnen zu Louisa. Über die eine Armlehne ragte ein Frauenarm, der in einem schwarzen, bis über den Ellbogen reichenden Seidenhandschuh steckte, über die andere ein Männerarm in einer steifen weißen Manschette und dem Ärmel eines Dinnerjackets. An einem Finger des Mannes steckte ein schwerer goldener Siegelring. Ihre Hände schienen in einer Art Spiel miteinander vertieft zu sein; immer wieder schnellte die Männerhand nach vorn, wich aus, während die Frauenhand sich vorsichtig herantastete, wieder zurückzog, nur um sich gleich danach bereitwillig wieder umfangen zu lassen.
Louisa hatte dem Treiben eine Sekunde zu lange zugesehen, als sich die zu dem schlanken Frauenarm gehörende Gestalt im Sessel umwandte und ein Gesicht erschien. Der Schock über Nancys neuen Bob war inzwischen verflogen, und Louisa bewunderte die Frisur sogar. Nancy mochte nicht hübsch im konventionellen Sinne sein, hatte jedoch durchaus ihren Reiz mit einem dunkelrot geschminkten »runden Schmollmund«, wie es in Filmstarkreisen bezeichnet wurde, der kecken Stupsnase und großen runden Augen, die nun auf ihr einstiges Kindermädchen gerichtet waren. Ihre Miene verriet die vertraute Mischung aus Zuneigung und leiser Verärgerung.
»Ich bitte um Entschuldigung, Miss Nancy«, sagte Louisa, »aber ich bin hier, um Sie darüber in Kenntnis zu setzen, dass Miss Pamela vor der Tür steht.«
Nun erschien auch das Gesicht des Mannes hinter der Sofalehne; es war markant geschnitten, und sein blondes Haar war so glatt gekämmt, dass es aussah, als hätte jemand flüssiges Gold über seinem Kopf ausgekippt. Sebastian Atlas. Er hatte Mitford Manor bereits mehrmals in Nancys Begleitung besucht, obwohl Lord Redesdale bei seinem Anblick jedes Mal puterrot anlief, sehr zur Belustigung seiner Tochter und zum Missfallen Lady Redesdales, die ihre Gefühle jedoch weit weniger offensichtlich zur Schau trug. Wo Lord Redesdale zu hitzigem Temperament und Zornanfällen neigte, zeigte seine Gattin eiserne Härte und kalte Wut.
»Wieso kommt sie dann nicht einfach herein?«, fragte Sebastian gedehnt, schob mit der einen Hand Nancys Finger weg und ließ sich in den Sessel zurücksinken, während er die andere nach einem Whiskyglas ausstreckte.
Nancy erhob sich mit einem dramatischen Seufzer und schüttelte ihr zerknittertes Seidenkleid zurecht, dessen Saum mit Hunderten in schwarz-weißem Zickzackmuster angeordneten Perlenschnüren besetzt war. Es war das modischste, vielleicht das einzig wirklich schicke Kleid, das sie hatte und mit einer Häufigkeit trug, die Nanny Blor schier um den Verstand brachte.
»Es tut mir leid, Miss Nancy«, sagte Louisa und beschloss, lieber bei der förmlichen Anrede zu bleiben, obwohl sie darauf verzichtete, wenn sie unter sich waren. »Aber Miss Pamela will nicht, dass ich sie hereinbegleite. Sie findet, es wirkt kindisch, in Begleitung eines Kindermädchens aufzutauchen.«
Augenblicklich entspannten sich Nancys Züge, und ein angedeutetes Lächeln breitete sich darauf aus. »Was für ein Dummchen«, sagte sie. »Anstandsdamen sind inzwischen fast wieder in Mode, aber natürlich weiß sie das nicht.«
Nancy war diejenige gewesen, die ihren Eltern vorgeschlagen hatte, dass Pamela nach London kommen sollte. Dahinter steckte die Idee, sie zu ein paar Partys zu begleiten und neue Leute kennenzulernen, von denen Pam wiederum einige zu ihrer Geburtstagsfeier im nächsten Monat einladen könnte.
»Sonst kriegen sie eine Einladung zum Geburtstag einer Wildfremden, noch dazu an einem Ort, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen, und denken am Ende, wir hätten es nötig. Es ist nicht mehr wie früher. Wir schreiben das Jahr 1925, Farve«, hatte sie gesagt.
»Ich verstehe nicht, inwiefern die Jahreszahl eine Rolle spielen soll«, hatte ihr Vater knapp erwidert.
»Tut es aber, und zwar gewaltig. Man muss zur richtigen Clique gehören. Kein Mensch geht zu irgendeiner x-beliebigen Feier.« Was, wie sie Louisa heimlich anvertraute, nicht ganz der Wahrheit entsprach. Nichts tat »die Clique« lieber, als bei irgendeiner Party aufzutauchen, wo der Alkohol in Strömen floss und die Chance bestand, eine heiße Sohle aufs Parkett zu legen. Sie wussten nur zu gut, dass sie diejenigen waren, die erst so richtig Leben in die Bude brachten und alle anderen in ihrem Glanz verblassen ließen. Louisa war sich im Klaren, dass es zwar offiziell Pamelas Geburtstagsfeier war, Nancy jedoch alles daransetzen würde, die Party zu ihrer eigenen zu machen.
An diesem Abend stand ein Dinner im Haus von Lady Curtis, Adrians und Charlottes Mutter, auf dem Programm. Nancy hatte Adrian über Sebastian im Zuge der sogenannten Eights Week in Oxford kennengelernt, der alljährlichen Ruderregatta und einzigen Gelegenheit, bei der dem weiblichen Geschlecht gestattet wurde, den Studenten innerhalb der Steinmauern der altehrwürdigen Universität beim Abendessen Gesellschaft zu leisten. Nancy hatte wenige Monate zuvor angefangen, Ukulele zu spielen, und Louisa von der fast magischen Wirkung des Instruments auf die jungen Männer vorgeschwärmt . Sie sei sich wie ein Schlangenbeschwörer auf einem Basar in Marrakesch vorgekommen, hatte sie gemeint.
Nachdem sie Pamela an der Haustür abgeholt hatten, stand das Trio in der Eingangshalle. Von dem Dienstmädchen war nichts zu sehen, doch aus dem oberen Stockwerk wehten Jazzklänge aus einem Grammofon durchs Haus.
»Musst du unbedingt mitkommen?«, flüsterte Pamela Louisa zu, als sie Nancy die Treppe hinauf folgten. »Ich bin doch mit Nancy hier.«
»Ich habe es Lady Redesdale versprochen«, erinnerte Louisa sie ein weiteres Mal. Sie empfand beinahe Mitleid mit ihrem Schützling. Bevor sie aufgebrochen waren, hatte sie Pamela leise im Badezimmer weinen hören, ehe das Mädchen schließlich mit einem abgeplatzten Knopf an ihrem Rockbund in der Hand herausgekommen war. Wortlos hatte Pamela ihn Louisa in die Hand gedrückt, die ebenso kommentarlos Nadel und Faden geholt hatte, um ihn wieder anzunähen, während sich das Mädchen allmählich beruhigt hatte.
Louisa wappnete sich innerlich für den Abend. Zwar hatte sie in Mitford Manor den einen oder anderen Blick auf Nancys Freunde erhascht, doch das war nicht dasselbe, als sie in ihrem gewohnten Umfeld zu erleben, wo sie sich hemmungslos den Freuden der neuen Zeit hingaben. Den Raum zu betreten fühlte sich an, als würde sie Teil der Gesellschaftsseiten des Tatler werden, bloß in Farbe. Louisa brauchte einen Moment, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten und sie die dicht beisammenstehenden jungen...
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