Schritt 1 - Erkenntnis: Der erste Schritt zur Freiheit
"Erkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung", lautet ein sehr geläufiges Sprichwort, das gerne einmal fallen gelassen wird, wenn jemand zerknirscht kundtut, einen dummen Fehler gemacht zu haben. Zwar meist salopp dahingesagt, steckt darin jedoch sehr viel Wahrheit: Sie können Dinge erst nach Ihren Wünschen verändern, wenn Sie erkannt haben, was falsch läuft, und sich das auch eingestehen. Andernfalls tun Sie höchstens etwas, weil andere Menschen Sie dazu überredet haben; ohne eigene Einsicht bleibt das jedoch ohne langfristige und ernsthafte Änderungen. Mit der Erkenntnis ist es nun gerade bei diesem Thema eine ziemlich komplizierte Sache. Zwar haben Sie bereits viel über emotionale Abhängigkeit gelernt und mit dem Selbsttest die Möglichkeit gehabt, eine erste Einschätzung zu treffen - doch darüber lesen und es grundsätzlich einleuchtend finden oder die Dinge an sich selbst wahrzunehmen, sind zwei völlig verschiedene Dinge. In diesem Fall kommt erschwerend hinzu, sich die eigene emotionale Abhängigkeit einzugestehen, fällt ziemlich schwer. Schließlich möchte niemand gerne von sich denken, dass er abhängig ist und dass das eigene Verhalten nicht mehr im Bereich einer gesunden, selbstbestimmten Zuneigung liegt. Und doch kommen Sie nicht darum herum. Ein wenig leichter können Sie sich diesen ersten, wichtigen Schritt machen, wenn Sie sich selbst die Erlaubnis geben: "Ja, ich darf jetzt auch unschöne Seiten an mir entdecken. Und das wird in Ordnung sein. Ich muss mich nicht gut fühlen dabei, und es wird trotzdem in Ordnung sein. Und ich kann jetzt schon stolz auf mich sein, weil dieser Schritt Stärke bedeutet." Aus dem letzten Punkt können Sie schon jede Menge Motivation ziehen: Denn dieses erste Eingeständnis, die Erkenntnis, verlangen inneren Mut und seelische Stärke - Sie haben also bereits den ersten Schritt aus einer Position der Schwäche heraus getan und können auch künftig auf sich vertrauen: Sie schaffen das!
Erste Überlegungen
Der Gedanke, emotional abhängig zu sein, ist Ihnen ja nicht ganz neu, sonst hätten Sie vermutlich nicht bis hierher gelesen. Damit haben Sie einen großen Schritt auf dem Weg der Erkenntnis bereits getan. Nehmen Sie sich einen ruhigen Moment und, wenn Sie möchten, Stift und Papier und suchen Sie einen ersten Zugang zu dieser Tatsache. Stellen Sie sich Fragen wie: "Was lässt mich vermuten, dass ich tatsächlich abhängig bin?", "Wann und wie zeigt sich meine Abhängigkeit, welches sind die Symptome?", "Ist mir das schon länger bewusst und ich habe es nur verdrängt?" und falls Sie von Ihrem Beziehungspartner abhängig sind: "Ist die Abhängigkeit erst in dieser Partnerschaft entstanden oder waren Abhängigkeitstendenzen auch in früheren Beziehungen vorhanden?"
Abhängigkeit entsteht nicht von einem Tag auf den anderen. Versuchen Sie deshalb auch, die Entstehung Ihrer Abhängigkeit nachzuvollziehen. Häufig schleichen sich zunächst unbewusste Muster ein, die schließlich in zunehmende Abhängigkeit münden und sich verfestigen. Überlegen Sie: Können Sie sich erinnern, wann Sie aus einer noch gesunden Verbundenheit abgeglitten sind in die problematische Form der Abhängigkeit? Falls es um Eltern und Kinder geht: Bestand in früherer Zeit ein normaleres Verhältnis und haben Sie sich erst ab einem bestimmten Punkt in Richtung Abhängigkeit entwickelt? Oder ist der Grundstein für beispielsweise die Abhängigkeit zu Ihren Eltern eigentlich bereits in Ihrer Kindheit entstanden und Sie haben sich bis heute nicht daraus gelöst? Wenn es um Ihren Beziehungspartner geht: Wann hat sich das Abhängigkeitsmuster eingeschlichen? Haben äußere Umstände das begünstigt, beispielsweise ein Jobverlust, neue Rollenverteilung im Haushalt oder persönliche Schicksalsschläge, die Sie überfordert haben? Und mit ehrlichem Blick auf Ihren Partner: Befördert er Ihre Abhängigkeit? Zeigt er Verhalten, das Ihre Abhängigkeit verstärkt oder fordert er von Ihnen abhängiges - also folgsames, anhängliches, untergeordnetes - Verhalten ein? Drohen Ihnen Konsequenzen, wenn Sie kein Abhängigkeitsverhalten zeigen? Versuchen Sie, diese Fragen, so unangenehm sie auch sein mögen, offen und ehrlich zu beantworten. Sie müssen daraus auch noch keinerlei Schlussfolgerungen oder gar Konsequenzen ziehen, es geht zunächst nur darum, die Dinge klar zu benennen.
Bestandsaufnahme: Welches Verhalten zeige ich?
Als Nächstes können Sie ein wenig konkreter werden und einen Punkt, über den Sie sich gerade schon Gedanken gemacht haben, genauer unter die Lupe nehmen: Wie zeigt sich Ihre emotionale Abhängigkeit? Denken Sie noch einmal an die Merkmale der emotionalen Abhängigkeit, über die Sie in den ersten Kapiteln dieses Buches gelesen haben, und klopfen Sie Ihr eigenes Verhalten bzw. Empfinden darauf ab. Nicht in jeder Abhängigkeitsbeziehung zeigen sich alle "Symptome", auch macht die Schwere der Ausprägung einen Unterschied. So steht bei einem sehr stark die Angst, den Partner durch einen Unfall zu verlieren, im Vordergrund, während andere vor allem ausgeprägte Eifersucht erleben. Der eine klammert stark und bemüht sich um fast ununterbrochene Nähe zum Partner, während dieses Verhalten beim Nächsten keine große Rolle spielt, dafür aber ständiges Grübeln, ob er gut genug, liebenswert und begehrenswert für den Partner ist. Möglicherweise steht bei Ihnen auch der Faktor im Vordergrund, dass Sie ständig zurückstecken und die Wünsche und Bedürfnisse Ihres Partners über Ihre eigenen stellen: Es wird z.B. gegessen, was Ihr Partner wünscht, Sie besuchen Feiern, die Ihre Mutter besuchen will, obwohl Sie sich dort unwohl fühlen, der Urlaub geht dorthin, wo Ihr Partner möchte, etc. Identifizieren Sie die Verhaltens- und Gefühlsmuster, die bei Ihnen maßgeblich sind, und idealerweise können Sie das auch näher bestimmen und festhalten, z.B.: "Eifersucht und Kontrolle spielen bei mir eine große Rolle, das äußert sich dadurch, dass ich versuche, bei meinem Partner auf das Handy zu blicken, an seiner Kleidung schnuppere, ob ich beispielsweise Damenparfum rieche, oder seine Tasche durchwühle."
Muten Sie sich zu, eigene Verhaltensweisen ehrlich zu hinterfragen: Vielleicht neigen Sie dazu, so manches Tun zu relativieren bzw. herunterzuspielen, indem Sie etwa sagen: "Ach, mal durchs Handy scrollen, das macht doch jeder." Fragen Sie sich bei all den Gefühlen und Verhaltensweisen, die Sie für sich identifiziert haben: "Glaube ich, dass das noch in einen gesunden Normbereich fällt oder dass ich mich damit in einem problematischen Spektrum bewege?" Bei allem, was Sie bisher überlegt haben, gilt: Erst einmal einfach nur feststellen, mehr müssen Sie gar nicht tun. Und warum eigentlich das Ganze? Schließlich wissen Sie doch ohnehin am besten, was Sie tun? Das ist zwar richtig, jedoch hat es einen ganz anderen Effekt, Dinge - am besten schriftlich - klar vor sich auszubreiten und festzuhalten. Ihre Erkenntnisse gewinnen damit an Verbindlichkeit, das Relativieren wird schwieriger, und Sie schaffen gute Voraussetzungen, schließlich auch etwas verändern zu können. Außerdem können Ihre Aufzeichnungen später hilfreich bzw. motivierend sein: Dann nämlich, wenn Sie darauf blicken, um festzustellen, was sich bereits verändert hat und wo noch Handlungsbedarf besteht.
Emotionale Auslöser erkennen
Jetzt gehen Sie noch einen Schritt weiter bzw. treten einen Schritt zurück. Ihr Verhalten haben Sie nun beleuchtet, jetzt ist es interessant, warum Sie eigentlich so handeln bzw. fühlen, wie Sie es tun. Also geht es als Nächstes darum, Trigger bzw. Auslöser zu identifizieren. Eine gute Methode dafür ist das Trigger-Tagebuch. Setzen Sie sich jeden Abend ein paar Minuten hin und lassen Sie den Tag möglichst detailliert Revue passieren: In welchen Situationen haben Sie emotional reagiert? Auf welche Weise? Wie hat sich darin Ihre emotionale Abhängigkeit gezeigt? Mögliche Beispielsituationen: Sie schreiben Ihrem Partner eine WhatsApp-Nachricht, er meldet sich nicht umgehend zurück. Das macht Sie nervös, Sie fangen an, sich auszumalen, was ihm passiert sein könnte oder mit wem er zusammen sein könnte. Oder: Sie machen im Job einen Fehler und bekommen dafür negatives Feedback. Das bringt Sie völlig aus der Fassung, belastet Sie nachhaltig, Ihre Gedanken kreisen die ganze Zeit darum, und Sie erleben die Situation stets aufs Neue. Dann brauchen Sie Ihren Partner / Ihre Mutter / Ihren Vater und deren Zuspruch, Trost, aufbauendes Wort und Rückversicherung, um sich wieder besser zu fühlen. Oder: Sie sind mit Ihrem Partner auf einer Firmenfeier und er unterhält sich lange mit einer Frau, die ein ganz anderer Typ ist als Sie. Sie werden eifersüchtig und vor allem unsicher, fragen sich, ob Ihr Partner vielleicht insgeheim diesen Typ Frau bevorzugt, ob Sie überhaupt wirklich attraktiv für ihn sind, ob er Sie noch begehrt. Oder: Ihr Chef hat gesehen, dass Sie in einem bestimmten Themenbereich gute Arbeit leisten und schlägt Ihnen vor, firmenintern in eine andere Abteilung zu wechseln, wo Sie dieses Potenzial voll ausschöpfen könnten. Sie stimmen zu, aber haben ein schlechtes Gewissen, weil Sie daran denken, dass Ihrem Vater diese Umorientierung gar nicht gefallen würde.
Wenn Sie dies eine Zeit lang jeden Abend tun, dann werden sich in Ihren Aufzeichnungen bestimmte Muster herausbilden. Sie werden vermutlich ähnliche Situationen immer wieder auftauchen sehen, die stets zu einer vergleichbaren emotionalen Reaktion führen - die dann wiederum emotional abhängiges Verhalten triggert. Auch damit machen Sie sich wichtige Grundlagen zunächst einmal bewusst. Wertvolle Erkenntnisse, denn sie können nachfolgend dazu führen, bestimmte tiefsitzende...