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"Ich gehöre zu den Menschen, die nicht fürs Internat geschaffen sind"
Es ist ein merkwürdiges Phänomen: Während in den Jahren vor Hitlers Machtübernahme Studenten, Hochschullehrer, Ärzte, Juristen schon früh in hellen Scharen zu den Nazis überliefen, ihrem vermeintlichen akademischen Durchblick zum Trotz, zeigte sich die von intellektuellen Schnöseln gern verachtete bayerische Landbevölkerung erstaunlich resistent gegenüber den braunen Parolen. Die sogenannten kleinen Leute mit ihrem gesunden Wirklichkeitssinn bewiesen oft erheblich mehr Skepsis als promovierte Leitartikler, Schuldirektoren und Bischöfe.
Zu den unauffälligen Selbstdenkern mit ihren zaghaften, bisweilen lebensgefährlichen Widerstandsgesten gehörte Joseph Ratzinger, damals Kommandant der Gendarmeriestation Marktl am Inn (heute 2 700 Einwohner, Landkreis Altötting in Oberbayern). Er schätzte seine häusliche Ordnung und las den "Geraden Weg", ein katholisches Wochenblatt mit Schlagzeilen wie "Der Nationalsozialismus ist eine Pest!", "Hitler, der Bankrotteur", "Deutsche, Eure Menschenrechte in Gefahr" oder "Sperrt die Führer ein!". Vier Tage nach den Reichstagswahlen im März 1933, die Hitler die absolute Mehrheit beschert hatten, stürmten SA-Horden die Redaktion in München, transportierten sämtliche Manuskripte und Akten ab, schlugen den Chefredakteur Dr. Fritz Gerlich halbtot und brachten ihn ins Polizeigefängnis. Ein Jahr später wurde er in das KZ Dachau verlegt und sofort nach der Ankunft dort ermordet.
Der Gendarmeriemeister Ratzinger moserte nicht nur hinter zugezogenen Gardinen. Er schritt bei Versammlungen gegen gewalttätige "Hakenkreuzler" ein - so nannte man die Nazis in Bayern - und warnte regimekritische Priester vor Spitzeln. Um der Vereinnahmung durch den NS-Staat und unliebsamen Nachforschungen zu entgehen, ließ er sich ständig versetzen. Dass sein Hilfsgendarm, ein strammer Nazi, den Ortspfarrer denunzierte und Braunhemden den Priester daraufhin gnadenlos verprügelten, konnte er nicht verhindern.
Die Ratzinger-Kinder: Maria (* 1921), Georg (er leitete drei Jahrzehnte die Regensburger "Domspatzen", * 1924) und in der Mitte das "Nesthäkchen" Joseph (* 1927, zum Papst gewählt 2005)
Als Hitler an die Macht kam und das "Tausendjährige Reich" ausrief, 1933, war der kleine Joseph Aloysius gerade fünf Jahre alt. Am 16. April 1927 hatte er am Marktplatz 11 in Marktl das Licht der Welt erblickt - oder genauer gesagt, erahnt. Denn es war Nacht, es herrschte bitterer Frost und es schneite fürchterlich. Die Geburt war überaus schwer gewesen. Umso glücklicher blinzelten Vater Joseph (50) und Mutter Maria (43) in das Schneetreiben, als sie das sorgsam verpackte Büblein am nächsten Morgen zur Taufe trugen. Die Schwester Maria, fünf Jahre alt, und das dreijährige Brüderchen Georg - der spätere Regensburger Domkapellmeister - blieben in ihrem warmen Zuhause.
Träumen in der alten Scheune
Die Eltern, Joseph und Maria, hießen wie die Figuren aus einem altbayerischen Krippenspiel. Kennen gelernt hatten sie sich, wie ein vom späteren Papst nie dementiertes Gerücht wissen will, über eine Heiratsanzeige im "Altöttinger Liebfrauenboten". Vater Joseph wuchs auf einem Bauernhof im niederbayerischen Rickering auf, seine Frau Maria war die Tochter eines Bäckermeisters, der aus dem idyllischen Südtiroler Pustertal nach Oberbayern gezogen war.
Ein Gendarmerie-Kommandant war auf dem Land zwar eine Respektsperson, aber eine schlecht bezahlte, und im kleinen Marktl waren keine spektakulären Verbrechen zu verhindern oder ruhmreich aufzuklären. Joseph Ratzinger senior hatte höchstens mal eine Wirtshausrauferei zu schlichten oder einen Vagabunden zu arretieren. Zum Glück war seine hübsche Auserwählte eine gelernte Köchin, die - als die Kinder nicht mehr ganz so klein waren - in besseren Häusern in Stellung gehen und etwas dazuverdienen konnte.
Viel war das freilich nicht. Wenn man jeden Pfennig umdrehen muss, wird man entweder bitter - oder man entwickelt Fantasie und lernt sich an kleinen Dingen zu freuen. Die Armut habe seiner Familie eine tiefe "innere Solidarität" beschert, erinnerte sich der Kurienkardinal, und "Freuden, die man im Reichtum nicht haben kann". Grimmig autoritär scheint der Gendarm Ratzinger zu Hause nicht aufgetreten zu sein. Streng, aber gerecht sei er gewesen, berichten die Söhne, ein talentierter Erzähler und Musikant. Die Mutter muss ein herzensguter, fröhlicher Mensch gewesen sein, mit einem fast magischen Einfühlungsvermögen und der Fähigkeit, sich selbstlos mitzufreuen.
Kaum hatte sich die Familie irgendwo eingelebt, musste sie schon wieder umziehen: Marktl, Tittmoning an der Grenze zu Österreich, Aschau - ein Dörfchen am Inn -, schließlich Hufschlag bei Traunstein. Als Hitler die ganze Macht in Deutschland bekam, 1933, verkündete Vater Ratzinger wie ein Prophet: "Jetzt kommt der Krieg, jetzt brauchen wir ein Haus!" Er fand es in Hufschlag am Waldrand, ein Häuschen, windschief und stark sanierungsbedürftig, etwas anderes konnte sich die Gendarmenfamilie nicht leisten. Aber die Kinder waren begeistert, vor allem vom Bauerngarten mit seinen Apfel- und Zwetschgenbäumen und von der alten Scheune, wo man wunderbar spielen und träumen konnte. Joseph vermisste allerdings das Marionettentheater, das bei einem Freund aus Tittmoning auf dem Dachboden aufgebaut gewesen war und im Halbdunkel einen geheimnisvollen Zauber ausgeübt hatte.
Der spätere Papst galt lange als kühler Intellektueller mit gebremster Emotionalität. Doch wenn man ihn nach seiner Kindheit fragte, begann er selig zu plaudern, in zärtlichen, bisweilen wehmütigen Worten. Von den Schlüsselblumen auf den Frühlingswiesen, von den Spaziergängen mit der Mutter zu einer versteckten Waldkapelle, vom Moossammeln für die Weihnachtskrippe und von den feierlichen Gottesdiensten mit Weihrauch und lateinischem Gesang, in denen er schon als kleiner Bub die große Liebe seines Lebens entdeckte: ein in Jahrhunderten gewachsenes kostbares "Gewebe von Text und Handlungen", eine Individualitäten und Generationen übersteigende Wirklichkeit. Heimat.
Glückliche Kindheit: Dieses alte Bauernhaus in Hufschlag nahe Traunstein bezeichnete Joseph Ratzinger als seine eigentliche Heimat.
Obwohl die beiden Brüder zuhause mit Hingabe Messe spielten, wie das früher in katholischen Familien üblich gewesen ist, mit gerecht verteilten Rollen und Gewändern, die ihnen Omas und Tanten zurechtschneiderten, war noch keine Rede von einer klerikalen Zukunft. Der ästhetisch veranlagte Joseph wollte unbedingt Anstreicher werden; eine Hausfassade zu gestalten, schien ihm der Gipfel künstlerischer Macht.
Als jedoch der Münchner Kardinal Michael von Faulhaber zur Firmung nach Tittmoning gekommen war, ein Kirchenfürst wie aus dem Bilderbuch mit Burgtheaterstimme und im prächtigen Purpur, hatte der dreijährige Joseph Aloysius kurzfristig bereits mit dem Gedanken gespielt, auch so ein Kardinal zu werden.
Ein fantasieloser Lausbub und Hitlers Überfall auf Polen
Es spricht für Papst Ratzinger, dass er selbst und seine Biografen und PR-Angestellten nie der Versuchung erlegen sind, eine engelgleiche Kindheit und Jugend zu konstruieren. Kein Mensch schildert den kleinen Joseph als ätherischen Heiligen oder vergeistigtes Wunderkind, am wenigsten er selbst. Schulkinder pflegen gnadenlos zu urteilen, wenn sie einen Streber in der Klasse sitzen haben. Die Mitschüler aus dem Traunsteiner humanistischen Gymnasium, die noch am Leben sind, erinnern sich an einen blitzgescheiten, überhaupt nicht eingebildeten Überflieger, der sie bereitwillig in Latein und Griechisch abschreiben ließ.
Allerdings hat ihn auch niemand "Sepp" oder "Beppi" genannt, was im ländlichen Bayern damals fast einer Ausstoßung aus der menschlichen Gesellschaft gleichkam. Er blieb immer der Joseph, ein wenig überbehütet, mit einem Horror vor den Turnstunden und einer heißen Liebe zur Literatur: Stifter, Eichendorff, Goethe. Er schrieb Gedichte und nahm Harmonium-Unterricht. Vielleicht lag es auch an frühen Erfahrungen mit dem tückisch allgegenwärtigen Tod, dass der Joseph ein scheuer, immer irgendwie nach innen blickender Junge blieb: In seiner Aschauer Zeit wäre er beim Spielen beinahe in einem Karpfenteich ertrunken. Und in Tittmoning hatte er nur mit knapper Not eine lebensbedrohliche Diphterie überstanden.
Um Kardinal zu werden, musste der Einserschüler erst einmal 1939 in ein Knabenseminar eintreten; es war das Traunsteiner Erzbischöfliche Studienseminar, in dem sich schon sein Bruder Georg befand. Das...
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