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Von der Autorin des Weltbestsellers "Unorthodox"
Ja, Berlin war es, das neue Leben in Deutschland war es, der Grund, warum plötzlich all diese Fragen in mir aufzogen. Ich hatte mich vom Thema jüdischer Identität in der Gegenwart weitgehend verabschiedet, ich wollte nur Mensch unter Menschen sein, Berliner unter Berlinern. Wie weit ist mir das überhaupt gelungen? Wie habe ich es auszuwerten, dass dieses Deutschwerden, worum ich mich so fleißig bemüht habe, mich zu meinem Judentum wieder zurückschob wie zu einer unerfüllten Pflicht, die kein Vertagen mehr duldet? Was bedeutet "Jüdischsein" heute?
Deborah Feldman, von Holocaust-Überlebenden in den USA erzogen und ausgerechnet nach Deutschland emigriert, über einen Begriff, der immer auch eine Zuschreibung, eine Begrenzung, eine Projektion ist, im Negativen wie im Positiven. Ihre Auseinandersetzung mit ihrem kulturellen Erbe – und der damit verbundenen Last – beinhaltet auch das Bestreben, das Jüdischsein in etwas Größeres, Diverseres, Humaneres einzubinden. Es ist ein Plädoyer für mehr Gemeinsamkeit über Grenzen hinweg – und eine Ermutigung an alle jene, die sich aus der Falle von Gruppenzwängen befreien wollen, um ihre Identität frei und selbstbestimmt zu definieren.
Was ist der Zweck Ihrer Reise?
Wir haben den April 2022; gerade sind die Osterferien zu Ende gegangen, dieses Jahr sogar zeitgleich mit den jüdischen Feiertagen zu Pessach. Ich befinde mich vor der Kontrolle am Ben Gurion-Flughafen. Anders als in den USA reicht es hier sicherlich nicht mit einem einfachen »Business or pleasure«; hier möchte man von mir alles ganz genau wissen, ich kenne das schon von früheren Ankünften. Nach meiner Erfahrung gelten zwei Sorten Reisende als höchst verdächtig: die offensichtlich arabischstämmigen mit westlichen Pässen sowie Juden mit denselben. Ich reise obendrein mit meinem deutschen Pass an, da mein amerikanischer inzwischen abgelaufen ist. Von daher habe ich dem Personal gegenüber die gefälligste Erklärung meiner Anwesenheit parat:
Ich bin zur Yad Vashem-Zeremonie eingeladen.
Und siehe da, die Worte wirken tatsächlich wie ein Zauberspruch. Ich darf sofort weiterziehen. Ich bin so überrascht, dass ich kurz erstarre, dann vergewissere ich mich vorsichtshalber, ob ich das Abwinken des gleichgültig wirkenden Personals richtig verstanden habe. »Ich darf gehen?« Der Ankömmling hinter mir, der nun trotz der Abstandslinien auf dem Boden drängt, klärt die Sache für mich, indem er seinen Pass durchs Fenster schiebt, noch ehe ich den Platz freigeben kann. Weiter vorne wartet bereits meine Begleitung ungeduldig; das System hat ihn auf digitalem Weg ohne jeglichen Alarm durchgeschleust, während schon beim ersten Einscannen meines Passes der Bildschirm mir befahl, das Personal aufzusuchen.
Zum ersten Mal, seit das Coronavirus sich in der ganzen Welt breitgemacht hat, bin ich wieder in Israel. Beim letzten Mal, Anfang 2020, war das Virus schon Thema in allen Zeitungen und meine Abreise nach Berlin dramatisch, die Stimmung im Flugzeug angespannt. Ich trat meinen Rückflug an, wenige Stunden bevor eine Regenflut die Straßen von Jafo, wo ich eine Woche verbracht hatte, in wütende Flüsse verwandelte. Damals hatte ich mir noch gar nicht vorstellen können, oder wollen, was diese Nachrichten für die Welt und für mich bedeuten würden. 2019 hatte ich mit dem Schreiben eines Romans begonnen, in dessen Zentrum eine Art anti-messianische Figur namens Miriam stand, die mich auf fast trotzige, jedenfalls unerwartete Weise, immer wieder nach Jerusalem lockte, und als die israelischen Grenzen dann im Frühjahr 2020 schlossen, sah ich mich in meinem noch tastenden Unterfangen ganz plötzlich abgebremst. Ich bemühte mich trotzdem und werkelte weiter an einer Geschichte, die allerdings noch immer einer vollständigen Karte bedurfte, wie mir inzwischen klar geworden ist. Zwei Jahre verstrichen, in denen es mir so vorkam, als würden die Grenzen nie wieder für mich offen sein, und das hatte fast etwas Symbolisches: Israel nun für immer unerreichbar, und ich, die Jüdin, dazu verdammt von der Geschichte, sich zu spät auf den Weg gemacht zu haben.
Denn seit es Israel gibt, geht es für die im Ausland lebenden Juden zumindest halb im Ernst um genau diese Frage: Gehe ich jetzt dorthin, oder warte ich noch ab? Die Angst, sich zu spät zu entscheiden, begleitet einen immer. Daher stammt das Bild des gepackten Koffers heutzutage: Man ist bereit, sofort nach Israel zu ziehen, sobald es einem zu unbehaglich wird in der Diaspora, wichtig ist, dass er griffbereit ist. Ich allerdings habe keinen gepackten Koffer; früher war ich vielleicht in dieser Hinsicht noch sehr beweglich, aber heute bin ich in Berlin mit lauter schweren Gegenständen und unverbrüchlichen Verbindungen erstaunlich sesshaft geworden.
Als die israelische Regierung dann Anfang 2022 ankündigte, Geboosterte alsbald die Einreise zu gewähren, hatte ich mich umgehend zu meiner Hausärztin begeben, um mich so schnell wie möglich impfen zu lassen, damit ich der vorgesehenen Regelung entsprechen konnte. Ich wusste schon, dass mein Roman ein Eigenleben entwickelt hatte, die Geschichte hatte schon von Anfang an ziemlich hartnäckig darauf beharrt, eine andere zu werden, ich wusste, sie würde sich meinen Zähmungsversuchen zur Wehr setzen, und deshalb hatte ich diese Reise organisieren lassen: Eigentlich war es darum gegangen, einen lange vereinbarten Arbeitsauftrag in Tel Aviv anzutreten, der seit dem Einsetzen der Pandemie immer wieder verschoben worden war, Honorar und Reisekosten inklusive. Nun war dieser Auftritt vor zwei Tagen schon wieder abgesagt worden, diesmal auf Grund eines Terrorangriffs in der Stadt. Bitte treten Sie die Reise dennoch an, hatte man mich ermutigt; schon bald wolle man außerdem einen Ersatztermin vereinbaren, und ich sagte natürlich nicht das, was ich immer noch denke, nämlich dass wer auf Grund von Terrorangriffen in Israel Termine absagt, auf Planungen sowieso verzichten kann.
In Israel hätte ich als Repräsentantin auftreten sollen, als Beweis des wieder gedeihenden jüdischen Lebens in Deutschland - wozu ich immer wieder aufgefordert werde, um dann unweigerlich eine Enttäuschung auszulösen, denn ich kann keine Anzeichen für das jüdische Leben anbieten: keine bestimmten Kleidungsmaßnahmen, keine Bräuche, keine geheimen Rituale, die nur hinter den Kulissen ausgelebt werden. Ich bin Jüdin nur entsprechend der Bezeichnung: meine Identität existiert eigentlich nur im Akt ihrer Zuschreibung, sie bezieht sich auf eine Erfahrung, die ich gemacht habe, aber nicht mehr mache; sie ist also nur in der Meta-Erfahrung verankert, diese Zuschreibung von außen erdulden zu müssen. Da hat sich im Prinzip seit dem Zweiten Weltkrieg wenig verändert; auch damals hatten die Menschen kaum eine Wahl, ihre Identitäten selbst zu bestimmen, heute werden sie einem im Namen der Wertschätzung und Pluralität leider immer noch auferlegt. Ein Mensch sollte frei sein, seine Identität in der Mehrheitsgesellschaft auszuleben, ganz klar, aber sollte er oder sie nicht auch frei sein, diese abzustreifen, wenn ihm oder ihr danach ist?
Ich sollte also nach Israel fliegen, um den Leuten den neuen deutschen Juden zu zeigen, Produkt der eigenen Herstellung sozusagen, neben dem Mercedes und der beliebten Boschmaschine, die meine Großmutter als einzige Ausnahme des Deutschlandboykotts in unserem Haus erlaubte, weil sie den Teig für die Challah-Laibe so unermüdlich kneten konnte. Ich wiederum trete etwas weniger unermüdlich für diese deutsche Sache ein, um jedes Mal zu erklären, dass mein Leben wenige Merkmale vorzeigen kann, die diese fantasievollen Kriterien des Jüdischseins erfüllen, und dass das Ganze deutsch-jüdisch zu nennen, nur ein Beweis dafür wäre, wie sehr wir uns noch nach Erzählungen von Verschiedenheiten sehnen, nach Geschichten von Zugehörigkeiten und Verfremdungen. Es ist genau diese Sehnsucht, die meinem Leben im Wege steht, die mich immer wieder zurück auf meinen Platz verweist, wie ein Schulmädchen im Internat, aber falls sie bei mir diese mysteriöse Israel-Anziehung erklärt, bin ich genauso in ihr verstrickt und darf als Allerletzte den Finger zum Vorwurf heben.
Verständlicherweise freue ich mich aber, Tel Aviv nun vollständig ausweichen zu dürfen. Ich muss dieses Mal doch nicht Repräsentantin spielen, ich muss mich nicht den israelischen Juden als Diaspora-Jüdin gegenüberstellen. Ich werde stattdessen untertauchen, ich werde jetzt direkt nach Jerusalem fahren, an den Ort, an dem meine Romanfiguren so lange orientierungslos herumgeisterten, auf der Suche nach ihrer Erlösung, oder nach meiner eben, schwer zu sagen.
Um mich herum erzählt man sich schon seit einer Weile inbrünstig, ja nahezu beschwörerisch, dass die Normalität sehr bald zurückkehren werde. Nach den Ereignissen der letzten Zeit zweifele ich aber noch daran, und sicherlich fühlt sich diese Ankunft alles andere als normal an. Ich muss mich noch am Flughafen testen lassen, um einreisen zu dürfen, und danach vierundzwanzig Stunden in meinem Hotelzimmer eingesperrt auf das Ergebnis warten. Ärgerlich, aber nicht unzumutbar, denke ich und schreite folgsam zum Testzentrum. Immerhin hat die Kontrolle nur ein paar Sekunden gedauert. Beim letzten Mal waren es drei Stunden gewesen.
Das Testen findet in einer riesigen Halle statt, vermutlich ein umgebautes ehemaliges Lagerhaus, mit hohen Decken aus Blech, sodass die surrenden Klimageräte verheerend unwirksam sind. Ich fange sofort an zu schwitzen. An drei der langen Wände sind nummerierte Schalter aufgereiht, und in der Mitte hat sich eine Schlange von ankommenden Passagieren gebildet, die jeweils darauf warten, einem dieser Schalter zugewiesen zu werden.
Ich spüre, wie meine Angst steigt, denn ich habe bereits die ultra-orthodoxen Familien bemerkt, die nun massenhaft aus dem Urlaub zurückkehren, und ich befürchte, dass die lange Wartezeit es begünstigen könnte, dass einer von ihnen mich erkennt. Aber ich muss ebenfalls gestehen, dass die verworrenen, geisterhaften Erinnerungen, die derartige Gestalten in mir wecken, eine emotionale Überforderung darstellen: in solchen Momenten fühlt sich meine Vergangenheit, sonst so wohltuend fern und verschwommen, plötzlich bedrohlich nah an, wie ein zweiter Schatten, der sich an meinen eigentlichen Schatten heranschleicht.
Ich bin gereizt und folglich etwas unfreundlich, während die Dame hinter Schalter 17 meine Daten aufnimmt, denn hinter mir steht eine Gruppe chassidischer Männer, die gerade ebenfalls zum Warten angewiesen wurde, und die Situation ist mir äußerst unangenehm. Aber die Männer sehen, dass das Personal an diesem Schalter weiblich ist, und melden sich aufgeregt, um ihr religiöses Recht auf gleichgeschlechtliche Behandlung geltend zu machen. Sie haben sich bereits anderweitig umgesehen, als die Testerin...
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